Der Eistaucher. Lars Andersson

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Название Der Eistaucher
Автор произведения Lars Andersson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711504628



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mußte in einer Zeitvorstellung festgenagelt werden, und es mußte ein Stückchen in der Zukunft liegen. Im Winter eine Erzählung über den Sommer zu schreiben, war natürlich zum Scheitern verurteilt, geradeso, als wollte man ein einziges wahrhaftiges Wort über den Schnee sagen, der im vorigen Jahr gefallen war. Es war aber auch möglich, genau über die Zeit zu schreiben, die jetzt war, man mußte sich nach etwas strecken, was gerade außerhalb des Blickfelds lag.

      . . . Ein Mann, der tief im April ins Torfmoor kommt. Seine wenigen Habseligkeiten hängt er an die Nägel der Barackenwand. Noch ist das Moor bloß eine leere, fremde Fläche, die sich vor seinem Fenster rasch in Dunkelheit hüllt. Er wird mindestens zwei Monate lang allein im Moor sein, bis das Häufeln beginnt.

      Er tritt die Nachfolge des alten Torfstechers an: es ist eine Stichstelle, eine der letzten. Er soll die Torfbruttoproduktion des nächsten Jahres ausgraben. In der Dunkelheit draußen, ein Stück von der Baracke entfernt, steht das Fabrikgebäude, eine große, rotgestrichene Scheune, in der die Maschinen, von Lederriemen getrieben, stillstehen, schweigen, warten.

      Als ich mich in den Schlafsack eingepackt hatte, bis nur noch der Kopf herausschaute, lag ich vollständig still. Eine Weile war da irgendein Geräusch, das ich zu deuten versuchte. Es war stockfinster. Ich lag wie eine eingelegte Kassette in der Dunkelheit. Ich dachte an Frösche und Eidechsen, die in einem Laubhaufen oder einem Erdloch überwintern, an Schlangen, Maulwürfe. Ich stellte mir einen schlaflosen Frosch im April vor, der ins Dunkel hinauslauscht.

      In Umrissen war mir die Geschichte klar. Die Moorleiche, das Geheimnis, das er mit keinem zu teilen beschließt, der Gedanke, der sich zu einer Zwangsvorstellung auswächst, irgendwie die Erfahrungen des Toten zu extrahieren, den Augenblick des Todes zu rekonstruieren, von der anderen Seite her zu sehen, was geschah, als Abel getötet und in einen Sumpf geworfen wurde . . . Ich hatte meine Entwürfe zur »neolithischen Revolution« und eine Menge Geistesblitze im Umkreis derselben Idee, sie verwoben sich mit einer ungeschriebenen Erzählung über einen Hünengrabforscher und einer über Ishtar in der Unterwelt und noch einem halben Dutzend anderer, ungeschriebener, hier und da deutlich aufblitzender Räubergeschichten. Ich war sogar ein Stückchen mit meinen Notizen über eine verlorene Zivilisation vorangekommen, in der die Menschen nur ein Substrat für frei übertragbare endogene Viren waren, ein Hyperorganismus, der längst kollabiert war und nur in den Annalen einer Sekte von Eingeweihten lebte, welche Vorbereitungen für ihre Wiederkehr traf . . .

      Allmählich sammelten sich Notizen auf allen möglichen Blocks und in Aktenordnern und Schubladen, doch sie begannen nie zu sprechen. Immer wenn ich mich ihnen zuwandte, rutschte ich aus wie auf Bohnerwachs. Alles versteckte sich hinter allem. Was ich aufs Papier brachte, waren kryptische, abgegriffene Kompilationen von Gedankengängen, die sich wie Aale über den Boden geschlängelt hatten, um im dunklen Wasser zu verschwinden.

      »Formwechsel« Sprache–Schrift und vice versa. Die Erzählung handelt davon, wie jemand versucht, ein Sprechender zu werden. Nietzsche: kein Unterschied zwischen der Welt und den Erzählungen von der Welt.

      Alle historischen Phänomene können als Skalen betrachtet werden, als Schriftsysteme, Wortschatz, Distinktionen, die es dem Sprechenden ermöglichen, ein Netz von Bedeutungen zu knüpfen. Der Torfstecher sucht eine Inschrift, eine Hieroglyphe für das, was geschieht, wenn der Mensch seßhaft wird, das Reich der Geschichte gründet.

      Bestimmte Pflanzenarten, ebenso wie der Lemming (und eine Hunderasse?) haben vermutlich die letzte Eiszeit überlebt, hoch oben in einem Fjäll oder auf dem schmalen Küstenstreifen, der »vom Sognefjord bis hinauf zum Eismeer eisfrei war« (Ekholm: Vorzeit und Vorzeitforschung in Skandinavien, Stockholm 1935). Könnte dasselbe möglicherweise für Menschen gelten?

      Magdalénien – die letzte Kulturepoche im Paläolithikum, d. h. kurz vor dem Ende der Eiszeit. Hier erreichen die Höhlenzeichnungen und Felsbilder ihren Höhepunkt – Altamira, La Madeleine. Die Bilder gehen von einfachen Strichzeichnungen in Rot und/oder Schwarz in »polychromatische« Bilder über. Meist sind es Tierbilder – Rentier, Moschusochse, Bison – die manchmal einen Zug von Fabel- oder Totemtieren haben.

      Der Dolmen war ursprünglich ein Einzelgrab, wurde jedoch mit der Zeit zum Massengrab. Bei allen Megalithgräbern ist die Altersbestimmung schwierig, da man oft die alten Leichen hinausgeworfen hat, um für neue Platz zu schaffen.

      Anbau von Hirse, Gerste und Weizen. Vermutlich Pflug. Zu den Haustieren der ä. Steinzeit kommen jetzt der Ochse, das Schaf, die Ziege und das Schwein sowie das Pferd.

      Narben, stumme Punkte, Lücken zwischen Bewußtsein und Verhalten, die es den objektiven Strukturen erlauben, sich hinter meinem Rücken zu schließen der blinde Fleck: der Teil der Netzhaut, wo das Gehirn hineinwächst, wo eine Verbindung zur Erinnerung/ Ratio besteht – und wo das Bild unmöglich wird

      Isak Mårgårds Utopie: der äußere Zwang vollständig abgeschafft, die Gemeinschaft total verinnerlicht. Das Verhalten wird von einer »inneren Stammesgemeinschaft« kontrolliert, die niemals in Worte oder Rituale gekleidet wird. Versteck!

      Zettel von der Art zerknitterter, fest geschlossener Salatköpfe in schattigen Winkeln eines verwilderten Gartens, die ich hin und wieder von Unkraut und Überschuß befreite, öfter jedoch nur befingerte, und die eintrockneten und verschrumpelten, unappetitlich wurden, eine Behausung für Ungeziefer, sich aus klebriger Berechnung mit Mehltau überzogen.

      Ragnhild brachte die Augenprüfung hinter sich und stürzte sich auf die Ohren. Eine Klinik des Zentralkrankenhauses in Karlstadt gab Bescheid, daß sie dort eine Sommervertretung bekommen könne. Wir würden also auch in diesem Sommer in Hedås wohnen können, und ich begann in Gedanken, Aktenordner und Bücher und Papiere im Waschhaus auf die richtigen Plätze zu verteilen. Aus der kühlen, trockenen Dunkelheit der Universitätsbibliothek Carolina wurden Titel bestellt, die im Literaturverzeichnis am Ende eines anderen Buches ein wenig vage verheißungsvoll geblinzelt hatten. Ich las Bücher, die ich vor zehn Jahren gelesen hatte, noch einmal. Ich räumte angefangene und von selbst gestorbene Artikel vom Schreibtisch, stocherte nachts in einer Fahnenkorrektur herum, beschaffte diverse Literaturlisten und ein kompliziertes Anmeldungsformular für die Universitätskurse des Herbstes. Als ich Gershom Scholems Buch über Walter Benjamin suchte, geriet ich statt dessen an ein Buch desselben Scholem über »Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah 1626-1676« und füllte ganze Seiten mit Notizen über die Stadt Z’fat, über Isaak den Löwen und »the breaking of the vessels«. Es deutete auf irgendwas, das ich schreiben sollte, doch es deutete nicht genau genug. Der Frost war noch nicht aus dem Gehirn gewichen.

      Nachts versuchte ich mich an Cohen:

      Die Glocken, die dein Reich geschmückt,

      liebte so mancher Mann.

      Und jeder, der dich je begehrt,

      fand, was er immer mehr begehren muß.

      Die Schönheit dir verloren ging,

      so verloren wie für sie.

      Lös meiner sehnend Zunge Band

      nimm alles eitle Tun aus meiner Hand

      zeig deinen Körper mir in Brand

      als wäre ich der, den du liebst.

      Dein Körper wie ein Flutlicht

      auf meiner Ärmlichkeit.

      Gern würd ich deine Güte erproben

      bis du weinst – probier jetzt meine Gier.

      Und alles hängt nun davon ab

      wie nah du bei mir schläfst.

      Lös meiner sehnend Zunge Band

      nimm alles eitle Tun aus meiner Hand

      zeig deinen Körper mir in Brand

      als wäre ich der, den du liebst.

      Hungrig wie ein Torweg

      den der Troß durchzog,

      steh ich verwittert hinter dir

      mit deinem Wintermantel, dem kaputten Riemenschuh.