Aina, das Mädchen aus Sibirien. Aina Broby

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Название Aina, das Mädchen aus Sibirien
Автор произведения Aina Broby
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711508114



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Hochzeit, wenn alle mehr oder weniger sternhagelvoll waren, gab es keinen, der noch auf uns Kinder achtete. Die Festtagsgäste waren damit beschäftigt, Tassen und Gläser zu zerschlagen, sich gegenseitig Wasser über den Kopf zu schütten, auf den Tischen zu tanzen oder wie die Verrückten mit dem blutbefleckten Brautlaken als Fahne durch einen brennenden Strohhaufen zu fahren.

      Dann bestand für uns die Gelegenheit, ins Haus zu schleichen und uns an den gedeckten Tischen die Taschen vollzustopfen. Ich sei dafür genau die richtige, sagte Kolka, denn ich hätte keine Angst. Hinterher trafen wir uns auf dem Friedhof, wo wir zwischen den Gräbern mit ihrem Gewirr von Minze und Riesenvergißmeinnicht gut versteckt waren. Dort feierten wir Hochzeit. Aber keiner wollte Braut und Bräutigam sein, denn die mußten nebeneinanderliegen, während die andern aßen. Meistens traf es mich und den pockennarbigen Petka. Er lag da, steif wie ein Stock, damit ich nicht merken sollte, daß er die Taschen voll Gurken und Piroggen hatte.

      Als wir gerade Semjons Hochzeit feiern wollten, hatte ich Pech. Ich stand in der Speisekammer und schüttete mir aus einem Steintopf Moosbeeren in die Schürze, da wurde ich von einer Frau überrascht. »Du verdammter Spitzbube!« schrie sie, zog mich an den Zöpfen und schlug mir mit einem Holzlöffel auf den Kopf. Doch dann besann sie sich, faltete die Hände und rief Gott zum Zeugen an, daß sie nicht gesehen habe, daß ich das sei. Sie band sich ein neues Kopftuch um und sagte, sie wolle das kleine Goldkind nach Hause begleiten. Meiner Mutter gegenüber beklagte sie sich darüber, daß mich diese Taugenichtse von Kindern zum Stehlen verleitet hätten, und sagte, es sei ein Wunder Gottes, daß gerade sie und keine andere das entdeckt habe.

      Sie bekam für ihre Mühe zwei Rubel und ich eine Gouvernante.

      Die Gouvernante kam eines Tages direkt aus Petersburg und erzählte bis tief in die Nacht hinein von all den Herrlichkeiten dieser Stadt: von vornehmen Soireen und prächtigen Maskenbällen. Das ganze Haus wurde um und um gekehrt. Vater gestattete ihr, das Pferd zu nehmen, sooft sie wolle, und die Dienstboten gingep für sie durchs Feuer, sobald sie sich mit ihrer Gitarre zeigte. Aber während wir andern von ihren Liedern und ihrem Spiel ganz weg waren, kroch Großmutter aus ihrem Bett und machte ihre Kammertür zu.

      Doch das störte Mademoiselle Marina nicht im geringsten. Sie tanzte durch die Stuben, wo die Kronleuchter nun in voller Festbeleuchtung brannten, und unsere beiden schwarzen Katzen folgten ihr auf dem Fuß. Die langen Fransen ihres Schals hatten es ihnen angetan. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge rund um die Bahnstation, und ich durfte Mademoiselle Marinas Pompadour mit dem Puder und dem Rouge tragen. Als während der Winterferien meine großen Schwestern aus dem Internat nach Hause kamen, hatten wir überhaupt keine Zeit mehr, Französisch zu sprechen, sondern sprachen nur noch über die Weihnachtsvorbereitungen. Wir sollten ein Dutzend Gäste aus Petersburg zu Besuch bekommen, und die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt. Vater mußte auf sein Arbeitszimmer verzichten, und meine Schwestern wurden in Großmutters Kammer einquartiert, die leerstand, weil Großmutter zu Tante Viktoria auf Besuch gefahren war.

      Jeden Tag trafen von der Bahnstation Säcke und Kisten ein. Sie wurden im Kinderzimmer gestapelt. Mademoiselle Marina hatte lange Listen über die Sachen zusammengestellt, die eingekauft werden mußten. Weder Rasierwasser noch Konfetti, noch Waldens Hustenpastillen durften vergessen werden. »Denn gerade die Kleinigkeiten bilden das Tüpfelchen auf dem I«, sagte Marina. Vor allem aber sollten wir ein Grammophon bekommen.

      Die Gäste trafen am vierundzwanzigsten Dezember ein. Mutter trug das Haar hochgesteckt und hatte den ganzen Kopf voller Locken und nahm heimlich Pulver ein. Mademoiselle Marinas Gitarre war mit bunten Bändern geschmückt, und die Dienstboten schlichen vorsichtig auf Strümpfen herum.

      Es kamen neun Herren und drei Damen. Allesamt waren sie Marinas alte Freunde. Die Herren küßten Mutter die Hand, und die Damen küßten mich mitten ins Gesicht. Mademoiselle Marina führte sie durchs Haus und prahlte mit Vaters großem Betriebskapital und Mutters Auslandsreisen und ihrer musikalischen Ausbildung.

      Zu Mittag gab es Bouillon, Gänse- und Putenbraten und rotes Eis, das die Form einer Windmühle hatte. Die Flügel waren aus Waffeln, und innen in der Mühle brannte Licht. Nach dem Dessert legte Mademoiselle Marina die Platte mit Chopins Polonaise auf, und wir marschierten durch die Flügeltüren zu dem brennenden Weihnachtsbaum. Vor lauter Glanz sah man gar nicht mehr das Grüne, und der ganze Saal spiegelte sich in den Glaskugeln, als wären das Seifenblasen. In den Eckenstanden kleine Tische auf Rädern mit Näschereien, Apfelsinen, Äpfeln, Zigarren und Getränken in allen möglichen Farben. Man brauchte bloß die Hand auszustrekken. Ich aß eine Menge von den gefüllten Bonbons und wurde davon so müde, daß ich ins Bett getragen werden mußte. Aber die ganze Nacht hörte ich im Schlaf die Teller klirren, die Pfropfen knallen und das Grammophon schnarren.

      Die Gäste schliefen bis weit in den Tag hinein. Einige schafften es kaum, sich bis zum Mittagessen anzuziehen. Morgens wurde nicht mehr gelüftet. Im ganzen Haus stand ständig ein Geruch von Tabak, Alkohol und Schokolade. Beim Mittagessen nahm man sich viel Zeit und machte hinterher eine Schlittenfahrt in die Steppe. Wenn man zurückgekommen war, saß man am Kamin und trank Tee, während Marina Zigeunerromanzen sang. Nach dem Abendessen spielte man Lotto und »Liebespost« oder erörterte die letzten Gerüchte. Als sie anfingen, über Mord zu reden, schickten sie mich ins Bett. Darüber wurde ich so wütend, daß ich Mutter in Hörweite der andern eine alte Schachtel nannte. Vater stieß mich ins Kinderzimmer und verabreichte mir zum ersten Mal in meinem Leben eine Ohrfeige. Mutter weinte und sagte, sie könne unter den Umständen, die im Haus herrschten, nicht die Verantwortung für meine Erziehung übernehmen.

      Eine Woche verging, doch die Gäste dachten überhaupt nicht ans Abreisen. Sie sagten, sie hätten sich noch nie so gut amüsiert. Eines Nachts wurde ich durch rhythmisches Klatschen geweckt. Ich schlich mich zum Schlüsselloch und sah, daß Marina auf einem Bein auf dem Tisch herumbalancierte. Am andern Bein trug sie keinen Schuh. Der ging von Hand zu Hand, und die Herren tranken daraus und riefen jedesmal Hurra. Kurz darauf kamen Vater und Mutter herein, um zu Bett zu gehen.

      »Das kann wohl nicht mehr so weitergehen«, sagte Vater. Und Mutter war derselben Meinung. Aber Vater kam nicht dazu, irgendwas zu unternehmen. Denn am nächsten Tag reiste Mademoiselle Marina mitsamt den Gästen ab. Sie hatte sich mit einem der Offiziere verlobt.

      Das Brautkleid aus Brennesseln

      »Hier hast du einen Spielkameraden«, sagte Vater und hob ein zusammengekauertes Mädchen vom Wagen. Sie war in Lumpen gekleidet, und durch die Löcher sah man ihren mageren, braunen Körper. Das ganze Haus lief im Hof zusammen, um sich dieses Phänomen anzusehen. Auf dem Wagen saß noch ein Phänomen. Eine alte Frau mit einem breiten, lippenlosen Mund, genau wie bei einem Schimpansen. Sie saß da und kaute auf irgendwas und schob es von der einen Seite auf die andere. An ihren platten Nasen und ihrem dünnen, fettigen Haar erkannte man, daß es Ostjaken waren. »Für die beiden fällt wohl auch noch etwas Essen ab«, sagte Vater, und Mutter ging, ohne zu antworten, hinein, füllte zwei große Teller voll Suppe und stellte sie für die Fremden auf den Küchentisch. Vater nahm wie üblich im Eßzimmer am oberen Ende des Tisches Platz. Mutter setzte sich neben ihn, in der Hand ein Hemd, in das sie Knopflöcher schürzte. »Soll das heißen, daß sie hierbleiben?« fragte sie. Ja, so habe Vater sich das gedacht. Er hatte die beiden auf dem Markt am Irtysch aufgelesen, wo sie bettelten. Vater hatte sich nach den Eltern des Mädchens erkundigt, und die Alte, die Großmutter des Kindes, hatte geantwortet, daß es nie einen Vater besessen habe und daß seine Mutter kürzlich gestorben sei und daß sie nun auf ihre alten Tage sowohl für sich selbst als auch für das Kind sorgen müsse. Vater hatte ihr angeboten, bei ihm zu arbeiten, und die Alte hatte das Angebot sofort angenommen. »Die Ostjaken sind ja tüchtige Weber, und wir haben nicht allzu viele Säcke«, sagte Vater.

      Vater hatte eine Schwäche für Ostjaken. Er hatte nämlich eine ebenso breite Nase und ebenso schrägstehende Augen, von denen er im Spaß zu sagen pflegte, daß sie wohl auf eine Abstammung von den Hunnen hinwiesen. Er erzählte uns, daß die Ostjaken einst ein freies und reiches Volk gewesen seien, aber eine dreihundertjährige zaristische Unterdrückung habe sie arm und unterwürfig gemacht. Für ihre Zirbelnüsse bekamen sie so gut wie nichts, und für die Baumwolle und Glasperlen, die sie kauften, mußten sie teures Geld bezahlen. Sie hielten an ihren