Aina, das Mädchen aus Sibirien. Aina Broby

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Название Aina, das Mädchen aus Sibirien
Автор произведения Aina Broby
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711508114



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beschäftigt, daß sie für das Böse kein Auge haben. Als der Alp sah, daß es nur eine alte Frau war, verschwand er sofort. Annuschka konnte auch mit den Seelen von Verstorbenen reden, die in Gestalt einer Fliege zu ihr kamen. Mutter wußte nicht, daß ich unter der Matratze ein kleines Kreuz versteckt hielt, das ich von Annuschka hatte, und daß sie mir auch beigebracht hatte, einen Kreis um mein Bett zu schlagen, nachdem das Licht gelöscht worden war, damit die Gespenster nicht zu mir kommen konnten. Und manchmal lag ich unter der Bettdecke und weinte vor Angst, daß Vater und Mutter sterben würden, weil ich geträumt hatte, meine beiden Vorderzähne seien ausgefallen. In Annuschkas Traumbuch stand, daß man dann seine beiden Eltern verlor.

      Plötzlich hörte ich Großmutter laut sagen: »Was für einen Nutzen hast du schon von dem Kind? Es sitzt ja nur da und träumt. Als ich in dem Alter war, hatte ich mir schon mein erstes Paar Stiefel und ein Hemd verdient, aber jetzt muß ja alles so vornehm sein, und unsereins darf nicht mal mehr mit den Fingern, die einem der Herrgott gegeben hat, das Essen probieren.«

      Ich zuckte zusammen, stand auf und ging ins leere Kinderzimmer. Dort stand nur eine Kiste mit Spielsachen, und hinten an der Wand standen die Gummibäume in ihren Tontöpfen. Es gab dort keine Möbel, damit ich Platz zum Herumspringen hatte, ohne daß ich mich stoßen konnte. Ich nahm eine Gummikuh aus der Spielzeugkiste: »Ich will dich lehren, du Faulpelz, hier bloß rumzuliegen und nichts zu tun!« Ich schlug darauf los, daß sie in hohem Bogen zwischen die Gummibäume flog. Ich sprang hinterher und fiel hin. Einen Lidschlag lang sah ich die Blumentopfkante auf meine Augen zurasen. Ich zog die Knie bis ans Kinn hoch, so weh tat es, und hatte beide Hände voll Blut. Mit dem einen Auge sah ich überhaupt nichts mehr. »Jascha, Jascha!« hörte ich Mutter völlig außer sich schreien. »Wir müssen einen Arzt holen. Was machen wir bloß?«

      Ich sah eine Untertasse voll Jod und einen Wattebausch, der dort hineingetaucht wurde. Und dann brannte es so im Kopf, daß ich gar nicht mehr schreien konnte.

      Als ich wach wurde, brannte nur ein einziges Licht. Sie waren alle miteinander da: Vater und Mutter, die draußen aus der Küche, und selbst Großmutter war aus ihrem Bett gekrochen. Einen solch ernsten Gesichtsausdruck hatte ich nie zuvor bei meinem Vater gesehen. Er zog den Mund so ulkig zusammen, daß ich einfach lachen mußte. Darüber wurden sie alle so froh, daß einer dem andern ins Wort fiel. Annuschka sagte, es sei ein gutes Zeichen, daß die Wunde rund sei, und Großmutter versicherte, daß ein Kinderkopf imstande sei, ein Brett zu spalten.

      »Solange sie so klein sind, können sie alles aushalten.« Ihre letzten Zwillinge seien ihr, als sie mit dem Pferdewagen Milch wegfuhr, vom Sitz gerutscht und zwischen die, Kannen gefallen, und davon hätten die Kleinen keinen Schaden zurückbehalten. Nein, die Vorsehung habe es so eingerichtet, daß jedes Kalb sein Zeichen bekomme, und die Menschen bekämen es auch, und damit müßten sie sich abfinden.

      Ich bekam eine große häßliche Narbe, und die Gummibäume wurden auf den Dunghaufen geworfen.

      Das Haus mit den vierundzwanzig Fenstern

      Unser Haus hatte vierundzwanzig Fenster. Doch die Aussicht, die man daraus hatte, reichte nicht weiter als bis zum Bretterzaun. Er war so hoch, daß ein Mann einem andern auf die Schultern steigen mußte, um hinübersehen zu können. Und oben hatte der Zaun eiserne Stacheln, damit keine Wölfe, Hunde oder Vagabunden herüberklettern konnten.

      Spielgefährten hatte ich nicht, denn ich war ein Nachkömmling. Vor gar nicht so langer Zeit war mein einziger Freund, der junge Bär Mischka, in der Nähe der Küchentür angekettet gewesen. Er konnte lange auf zwei Beinen stehen, um mich zu umarmen und russische Volkstänze mit mir zu tanzen. Wenn im Haus ein Fest gefeiert wurde, schlich ich mich mit seinem Lieblingsgericht, Moosbeeren in Puderzucker, zu ihm hinaus und stopfte sie ihm in den dampfenden Rachen. Doch dann kam Onkel Andreas mit einem Engländer, der auf Safari gehen wollte. Der Mann fing sofort an, Mischka hinter den Ohren zu kraulen. Mischka wollte sich revanchieren und riß dem Mann ein Loch ins Ohrläppchen. Der Engländer bewahrte Haltung, doch was er lispelte, war nicht mißzuverstehen. Der Bär müsse auf der Stelle abgeschossen werden. Onkel Andreas erledigte das sofort.

      Ich bekam das Fell, um mich damit, statt mit einem Deckbett, zuzudecken. Nun blieb mir nur noch die Jagdhündin. Sie hatte anstelle von Augenbrauen zwei gelbe Flecke. Sie haßte Hühner und fürchtete sich vor Pferden. Wenn sich die Hühner unter der Scheune zwischen den Pfählen versteckten, um zu legen, mußten die Hündin und ich dort runterkriechen und die Eier holen. Und wenn die Hündin werfen wollte, verzog auch sie sich unter die Scheune, weil sie wußte, daß keiner außer mir dort hinkommen konnte. Wenn die Welpen so groß waren, daß sie allein gehen konnten, packte sie sie beim Nakkenfell und kroch mit ihnen unter dem Tor durch, wo sie sich ein Loch gegraben hatte. Die ganze Schar trottete zum Dorf hinunter, von wo Harmonikamusik und unterdrücktes Freudengekreisch herüberklangen. Da hielt ich es nicht länger aus, allein auf dem Hof zu spielen, und rannte hinter ihnen her.

      Als wir zum Dorftor kamen, das verschlossen war, damit die Durchreisenden ein Trinkgeld springen ließen, fand ich neben dem Tor ein Loch im Zaun und kroch durch. Doch bevor ich noch das andere Bein nachziehen konnte, flogen mir schon von allen Seiten Schnee- und Lehmklumpen um die Ohren. Einen Augenblick später sah mein Mantel wie ein Scheuerlappen aus. Ein Junge kam auf mich zu und riß mir die vergoldeten Knöpfe ab. Er sagte, die brauche er dringender als ich. Ein Schneeball traf meine Pelzmütze, so daß sie weit wegflog, und ein paar Mädchen sprangen auf mich zu und rissen mir mein rotes Haarband herunter. Dann schlug einer vor, mich zu waschen, und sie schleppten mich zu einem Graben und stellten mir ein Bein, so daß ich kopfüber hineinfiel. Als ich hochkam, lief mir der Morast so übers Gesicht, daß ich kaum Luft bekam. Die Kinder sagten, jetzt sei es genug. Sie wischten mir mit ihren Mantelärmeln das Gesicht ab, stülpten mir die Mütze über die Augen und sagten, wenn ich den Mund hielte, könnte ich gern mit zur Beerdigung kommen.

      Wir kamen zu einem Haus, wo Leute standen und den Hals reckten, um zu sehen, was dort drinnen vor sich ging. Kolka – das war der, der sich meine Knöpfe genommen hatte – flüsterte uns zu, wir sollten uns an die Männerbeine halten, denn da könne man leichter hindurchschlüpfen. Wir gelangten in die Stube und wurden in einer Ecke zusammengedrängt, wo wir abwechselnd einer dem andern auf die Schultern kletterten.

      Mitten in der Stube stand ein offener Sarg. Darin lag ein toter Mann. Die Umstehenden hatten ihre liebe Not, die Schmeißfliegen von der Leiche fernzuhalten. Es roch nach Thymian und genauso, als würde Annuschka einen Hasen ausnehmen. Die Frau des Toten lag auf seiner Brust und weinte. Mehr bekam ich nicht zu sehen. Der Sarg wurde hinausgetragen und auf einen Schlitten gestellt, und der Zug setzte sich in Richtung Friedhof in Bewegung. Wir folgten ihm und fielen wie die andern in all dem Schlamm auf die Knie, und wem das Kreuz gereicht wurde, der küßte es. Der Priester sang, während die kniende Menge vor- und zurückschwankte und schluchzte. Ich bekam ein paar ordentliche Knüffe, weil ich nicht mitweinte. Die Menge sang auch einen Choral, doch der Ton lag so hoch, daß die meisten das Mitsingen nach und nach aufgeben mußten.

      Kaum war die Leiche in der Erde, als die Leute auch schon auf die Schlitten losstürzten und sich holterdiepolter übereinanderwarfen, um auch ja einen Platz zu bekommen. Wir Kinder hängten uns an die Seiten und ließen die Beine durch den Schnee schleifen. Die Schlitten machten bald tüchtige Fahrt, nun, da die Pferde wußten, daß es nach Hause ging und die Leute sich nach Schnaps und warmen Plinsen sehnten. Plötzlich fragte einer, wer ich denn sei. Sie sahen sich meine Kleidung an und sagten, ich müsse oben von der Mühle sein. Sie sprachen darüber, wie schrecklich ich zugerichtet worden sei und was wohl die Müllermadam dazu sagen werde. Und daß es wohl am klügsten sei, sich nicht in irgendwas hineinziehen zu lassen. Sie hielten den Schlitten an und sagten zu mir, ich solle in Gottes Namen nach Hause gehen. Ich trottete quer durch die Steppe davon.

      »He du, du mußt doch deine Knöpfe wiederhaben!« Es war Kolka, der mir nachgelaufen kam und sie mir in die Hand drückte. Er wollte noch etwas sagen, machte aber kehrt und lief weg. Ich paßte auf, daß ich dem Schlitten auch ja den Rücken zudrehte, weil sie nicht sehen sollten, daß ich Tränen in den Augen hatte.

      Als das Frühjahr kam, ging ich wieder zu den Kindern hinunter. Es war der erste Tag, an dem ich ohne Mantel draußen war. Diesmal schlug mich keiner. Seitdem