Название | Der Kamin |
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Автор произведения | Martina Schäfer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783959593038 |
„Aber bitte!“
„Betonte die Worte wie du: ‚Fisternöllschen’ zum Beispiel.“
Rosi ist hinreißend, insbesondere, wenn sie versucht, meinen flotten, mit allen Abwässern des Altvaters Rhein gewaschenen Tonfall nachzuahmen! Während wir Rheinländerinnen meistens unser Leben lang unfähig sind, das CH und das SCH auseinander zu halten – wir essen und betreten Kirschen gleichermaßen – sind die Bewohnerinnen der voralpinen Seen auch nicht im Entferntesten in der Lage, das SCH zu artikulieren, nicht einmal ein sauberes CH, welches andere Leuten unter die Zungenspitze legen. Alles bleibt ihnen regelmäßig im Halse stecken – und ‚Fisternöllschen’ auf jeden Fall.
Rosi Kramer, deren hoch privilegierte Geliebte ich zu meinem Glück bin, so dass sich anstrengende Aktivitäten wie Seitensprünge oder Zweitbeziehungen angenehmerweise erübrigen, runzelte nachdenklich die Stirn. Sie ließ den Saft in ihrem Glas schaukeln und rückte ein wenig aus meiner liebenden Umarmung heraus. Das macht sie immer so, wenn sie über etwas nachdenkt. Irgendwann hat es dann den Anschein, als stelle sie ihre Augen auf Fernsicht ein. Aber eine Fernsicht, die durch innere Landschaften streift, hunderte von Archivschubladen im Kopf aufreißt und tausende von Kontaktabzügen vor der Erinnerung vorbei ziehen lässt.
Rosi Kramer, die Polizeifotografin, hat mehr als ein visuelles Gedächtnis, denn so simpel als ‚Gedächtnis’ lässt sich ihre Fähigkeit nicht mehr beschreiben, die sämtliche, aber auch sämtliche je von ihr gemachten Fotografien eines fast fünfzigjährigen Fotografinnenlebens auf Abruf im Kopf bereit hält.
Ein Wunder, nicht nur für solch kuckfaule Personen wie mich!
Schauen, kucken, beobachten, betrachten und ähnliche Tätigkeiten finde ich ungeheuer anstrengend. In Museen, selbst in naturwissenschaftlichen, die eher meinen Interessen entsprechen, überfällt mich meist gleich bei der Eingangstüre ein unwiderstehlicher Gähnzwang.
Ich bin kaum weit- und ebenso wenig kurzsichtig, aber viele blaue Flecken und ein Fahrstundensoll von annähernd dreißig Stunden haben mich gelehrt, dass ich eigentlich die Welt eher flach wahrnehme, wie einen Kinofilm, weshalb ich auch gerne ins Kino gehe. Da zappelt diese flache Welt und ich kann ihre Tiefenschärfe bemerken, denn das ist ja der Sinn dieser bunten beweglichen Illusion.
Möglicherweise ist das alte Echsenstammhirn ein bisschen überproportional bei mir entwickelt: Stille Dinge entgleiten mir rasch: Statuen, Tapetenmuster und Keramikornamente. Ich liebe das, was sich bewegt: Im Wind wehende Bäume, das vor- und zurück schwappende Meer, tanzende Frauen und springende Hunde, und bewege mich deshalb selber auch sehr viel. Zum Leidwesen der Menschen in meiner Umgebung, die diese Zappelei eines stämmigen Kämpferinnenkörpers vor ihren Nasen erdulden müssen.
Die Art, wie ich als Kind mühseligst das Schreiben erlernte, muss meine Erziehungsberechtigten sehr erschrocken haben. Nur die Tatsache, dass ich in rasanten zwei Wochen oder gar Tagen lesen lernte, beruhigte sie einigermaßen in ihren Befürchtungen, etwas lern-, leistungs- oder gar geistig Behindertes in die Welt gesetzt zu haben. Aber Lesen hat eben etwas mit den Ohren zu tun: Natürlich kann jedes halbwegs aufgeweckte Kind einen Text, der schon dreimal von anderen MitschülerInnen vorgestottert wurde, dann auswendig herunterbeten! Da braucht`s echt keine Buchstaben mehr.
Was in einiger Entfernung platt ist und nur durch die Beweglichkeit der flitzenden und flatternden Kinobilder Tiefenschärfe aufweist, diese seltsame Welt, genannt Erde des ausgehenden 20. Jahrhunderts, erhält in der Nähe ihr Profil durch eine Wahrnehmung, die der anthroposophische Teil meiner Familie „Bewegungssinn“ nennt und die mir in meinem Beruf als Lehrerin für Selbstverteidigung und Selbstbehauptung sehr zustatten kommt: Ich spüre sehr gut, was sich wo in Bezug auf meinen Körper bewegt, parke Güllefässer oder Wohnmobile rein nach dem Gefühl für die Abstände ein und versuche Frauen, Mädchen und Menschen mit Behinderungen aller Art wenigstens eine Ahnung dieses Gefühls für Grenzen und grenzüberschreitende Körper, die meistens dem anderen Geschlecht gehören, zu vermitteln, oder Orientierungshilfen in dunklen Straßen und gefährlichen Wohnzimmern.
„Irgendetwas war anders als bei den Überfällen davor.“
„Wie – anders?“ Ich schrak aus meinen Selbstbetrachtungen hoch.
„Ich krieg es nicht zusammen.“
Rosi legte den Kopf schief und schaute zum Fenster hinüber, was aber, wie ich wusste, eine Illusion war, denn sie kramte eigentlich eher irgendwo schräg in ihrer Erinnerung herum.
„Der Eindruck, weißt du, der Gesamteindruck ...“
„Ja?“
Man sagt mir nach, dass ich sehr helle, blaue Augen habe und deshalb glaubt kein Mensch, dass es eigentlich meine Ohren sind, auf die man sein Misstrauen richten sollte. Aber Segelohren sind nun mal kein solch schönes Kompliment wie keltenblaue Augen, auch wenn sie das Niesen eines Regenwurmes an einem herbstlichen Nebeltag hören.
„Ich würde gerne die verschiedenen Fotoserien von den Überfällen noch einmal vergleichen.“
„Na, dann schaust du halt gleich morgen früh mal nach?“
„Weißt du, Jane, die Ermordete hat sich auch sonst für die Menschen interessiert: Häufig standen Leute stundenlang an ihrem Kiosk herum, ohne dass sie eine Zeitung kauften!“
„Mit anderen Worten, sie ist es dir wert, gleich jetzt noch einmal die Fotos im Labor anzuschauen?“
„Genau!“ Rosi holte ihren Blick in unsere Gegenwart zurück. „Woher weißt du das?“
„Für Leute, die dir nicht wichtig sind, bist du selten bereit, freiwillige Überstunden abzudienen.“
„Wir kucken nur schnell im Fotoarchiv nach. Wir wollten doch eh` noch einen Kleinen ziehen gehen, da kommen wir fast am Rathaus vorbei.“
„Einenziehengehen“ heißt auf Alemannisch ein Bier trinken.
„Außerdem“, Rosi war schon aufgestanden, „ist heute Abend Frauenbeiz!“
Auf Hochdeutsch: „Frauenkneipe“, eine nette Sitte, die viele alternative oder links angehauchte Kneipen in der deutschen Provinz eingeführt haben: Ein Abend, an dem nur Frauen in die Kneipe dürfen. Reine Frauenkneipen halten sich bei uns nur in den Millionenstädten und auch da nur mit Ach und Krach oder Hängen und Würgen.
„Was ist mit dem Abendessen?“
Als hätten die sich miteinander verbündet, fingen unsere Mägen nun unisono an zu protestieren, zu knurren wie ein Haufen Löwenbabies. Also gab es zuerst noch den Eintopf mit Weißbrot und Quarkhäufchen drauf. Solche Feinheiten gehören zu meinem unbewussten slawischen Erbe.
Dann machten wir uns Hand in Hand durch einen leichten bergischen Nieselregen auf in Richtung Rathaus, in dem die Institutionen der Kriminalpolizei untergebracht sind.
1 siehe meinen Kriminalroman: „Herz aus Stein.“
2 siehe den Krimi unter dem Pseudonym Magliane Samasow: „In Teufels Küche.“ Elsdorf, 1999 kbv-Verlag
2. Kapitel
Unter der Türe mit der Aufschrift „Fotolabor und Archiv“ drang Licht hervor, als wir im Rückgebäude des von Fachwerk durchzogenen Rathauses den langen Gang des Kommissariats entlanggingen.
Rosi stieß, ohne anzuklopfen, die Türe ihrer Arbeitsräume auf. „Wer ist denn da? Um diese Zeit?“ Schmidtken schaute von einem großen Leuchttisch, der quer hinten im Raum unter einer Fensterfront stand, hoch.
Das Licht warf von unten merkwürdige Schatten über seine wohlgepflegte Gestalt und gab seinem Gesicht tatsächlich den Anschein eines zutiefst beleidigten Adlermännchens. Oder sollte von Kerkbaums Standpauke tatsächlich Wirkung gezeigt haben?
„Was machst du hier um diese Zeit?“ Rosi trat an den Leuchttisch. Dadurch wurde der Blick frei auf meine bescheiden