Elf Meter. Ben Lyttleton

Читать онлайн.
Название Elf Meter
Автор произведения Ben Lyttleton
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730701850



Скачать книгу

Tissier erlebte in seiner Karriere nur ein einziges Elfmeterschießen, im Pokalspiel gegen Manchester United im Februar 1991. Sein Trainer Ian Branfoot wies ihn an, den ersten Elfmeter auszuführen. Le Tissier lehnte ab und schlug stattdessen vor, den entscheidenden fünften zu schießen. Doch nach vier Durchgängen hatte Southampton 4:2 gewonnen, so dass Le Tissier nicht mehr gebraucht wurde. „Ich wollte unbedingt den Helden spielen, das geschah mir also ganz recht.“

      Wie könnte England sein Problem in den Griff kriegen? „Vieles ist eine Sache der Wahrnehmung: Wenn die Leute dir ständig erzählen, wie schlecht du bist, glaubst du irgendwann selbst nicht mehr daran, gewinnen zu können“, sagte Le Tissier. „Auf mich wirken die Spieler immer so, als wären sie lieber woanders. Aber auch in der Premier League gibt es eine Menge Druck, sie sollten also in der Lage sein, damit umzugehen. Das ist eine ziemlich komplexe Gemengelage.“

      Ich frage mich, ob sich Englands Elfmetertrauma jemals so zugespitzt hätte, wäre Le Tissier damals gegen Argentinien dabei gewesen.

      _____________________

      1In seinem Artikel „U21 flameout more evidence of England stagnation“ („Scheitern der U21 weiterer Beleg für Englands Stagnation“, ESPN.com, 11.6.2013) schrieb Rory Smith: „Insgeheim stehen die Engländer darauf, immer wieder im Elfmeterschießen zu verlieren, denn dadurch lässt sich eine Geschichte konstruieren, nach der der englische Fußball eigentlich nur eine Schwäche hat – nämlich die Unfähigkeit, einen Ball aus elf Metern ins Tor zu schießen –, statt deren viele.“ Da könnte etwas dran sein, es gibt aber noch andere Geschichten, wie z.B. die von den tapferen Engländern, die Besseres verdient gehabt hätten (wie 1990 und 1996 gegen Deutschland oder 2004 gegen Portugal) oder mit einem Mann weniger auf dem Platz Übermenschliches leisteten, um überhaupt so weit zu kommen (wie 1998 gegen Argentinien oder 2006 gegen Portugal).

      2Die Tabelle berücksichtigt Elfmeterstatistiken von Welt-, Europa- und Südamerikameisterschaften. Spiele der Afrika- und Asienmeisterschaften wurden wegen Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Daten nicht einbezogen.

      3Die Zahlen für Mexiko berücksichtigen Teilnahmen am Gold Cup sowie an der Copa América als Gastmannschaft.

      4„Gehalten“ umfasst auch verschossene Elfmeter.

      5Hier irrte Ricardo: Lampard hatte für England zwei Monate zuvor im Freundschaftsspiel gegen Ungarn verschossen.

      Kapitel 2

      Die Oslo-Lösung?

      Die Lösung für Englands Probleme findet sich möglicherweise in einem baumreichen Vorort im Norden von Oslo, in einem unscheinbaren Büro in Sognsvann, gleich neben Norwegens schickem Trainingszentrum Olympiatoppen. Nimmt man die Stadtbahn nordwärts, kommt man am Nationalstadion Ullevaal vorbei, wo der Zweitligist Hødd 2012 im Finale des norwegischen Pokals für eine Sensation sorgte, als er den Erstligisten Tromsø im Elfmeterschießen mit 4:2 bezwang.

      In seinem Büro zeigt mir der ehemalige Fußballspieler Dr. Geir Jordet an seinem Rechner einen Elfmeter nach dem anderen. Jordet kickte früher für den Zweitligisten Strømmen, aber seine Karriere nahm 2004 eine ganz neue Wendung, als Ricardo bei der EM den Elfer von David Beckham parierte. Jordet studierte damals Sportpsychologie an der Norwegischen Sporthochschule in Sognsvann. Er hatte soeben seine Dissertation über das periphere Sehen herausragender Mittelfeldspieler abgeschlossen und war vom norwegischen Radiosender P3 eingeladen worden, über Englands Niederlage zu sprechen.

      Jordet kritisierte Beckham dafür, den Elfmeterpunkt vor seinem Schuss nicht genauer überprüft zu haben. Henning Berg, der ebenfalls Gast der Sendung war und mit Beckham bei Manchester United gespielt hatte, pochte darauf, dass kaum jemand so abgezockt sei wie Beckham, und machte Jordet zur Schnecke. Jordet wollte das nicht auf sich sitzen lassen – „Ich fühlte mich beschissen“ –, und als er einen Monat später an die Universität Groningen in den Niederlanden wechselte, richtete er den Schwerpunkt seiner Forschungen auf die Psychologie von Elfmetern. Anscheinend ist er empfindlicher, als er aussieht.

      Die Universität unterhielt gute Kontakte zum niederländischen Fußballverband, und Jordet kannte dank seiner Arbeit daheim ein paar schwedische Nationalspieler, die in Norwegen gekickt hatten. Auf Grundlage dieser Kontakte regte er eine einzigartige Studie an, die sich damit beschäftigte, was Spielern beim Elfmeterschießen durch den Kopf geht. Er führte Einzelgespräche mit zehn der 14 Spieler, die im Viertelfinale der EM 2004 beim Elfmeterschießen zwischen Holland und Schweden angetreten waren. Das Spiel endete damals 0:0 nach Verlängerung. Beim Stand von 2:2 im Elfmeterschießen vergab Zlatan Ibrahimović für Schweden; zwei Versuche später herrschte nach Phillip Cocus Fehlschuss wieder Gleichstand. Nach fünf Durchgängen stand es immer noch Unentschieden. Jetzt konnte jede Runde die Entscheidung bringen. Der schwedische Kapitän Olof Mellberg, damals ein namhafter Spieler bei Juventus Turin, scheiterte an Edwin van der Sar. Arjen Robben traf, und Holland hatte erstmals in seiner Geschichte ein Elfmeterschießen gewonnen.

      Jordet erhielt aufrichtige Schilderungen des Drucks und der Ängste, die Spieler bei diesem Prozess durchmachen. Seine Erkenntnisse finden sich in drei Studien, von denen eine besonders faszinierend ist: „Stress, Bewältigungsstrategien und Emotion auf der Weltbühne: die Erfahrung, an einem wichtigen Elfmeterschießen teilzunehmen“. Für seine Interviews unterteilte Jordet das Elfmeterschießen in vier Phasen:

      1. Die Pause nach der Verlängerung

      2. Der Mittelkreis

      3. Der Gang

      4. Am Punkt

       Abbildung 3: Phasen höchster Anspannung beim Elfmeterschießen

image

      

      Dann wertete er die Reaktionen der Spieler in jeder Phase aus. Sechs Befragte wussten vor Phase 1, dass sie einen Elfmeter schießen würden; zwei wollten ausdrücklich keinen schießen – einer hatte sogar vorab erklärt, auf keinen Fall antreten zu wollen –, und einer hatte sich geärgert, dass drei andere Kollegen schon in Phase 1 deutlich gemacht hatten, nicht schießen zu wollen. Vier Spieler verspürten mehr Stress, wenn ihnen gesagt wurde, in welcher Runde sie schießen sollten, da sie nicht wussten, wie dann die Spielsituation sein würde, und sie sich folglich nicht darauf einstellen konnten; vier weitere waren gelassen oder entspannt.

      Überraschenderweise war Phase 2 diejenige, die die Spieler als am stressigsten empfanden, das galt vor allem für die unterlegenen Schweden, die nicht als Gruppe zusammenstanden und nicht miteinander sprachen oder sich anfeuerten. „Während des Elfmeterschießens hat kaum jemand geredet“, erinnerte sich ein Spieler. „Nichts. Ich sagte nichts, und keiner sagte was zu mir.“ Das war die Phase, in der sich bei Gareth Southgate nach eigener Aussage die negativen Gedanken einschlichen. Nur drei Spieler nutzten die Phase im Mittelkreis, um sich auf ihren eigenen Elfmeter zu konzentrieren; die anderen litten unter immer größerer Anspannung, je näher ihre Versuche rückten. „Ich war schrecklich nervös“, sagte ein Spieler. „Ich dachte, dass man sogar im Fernsehen meine Beine zittern sehen müsste, so nervös war ich.“ Bei einem anderen ließ die Nervosität nach, nachdem ein Mitspieler verschossen hatte. „Erst war ich enttäuscht und wütend, aber dann schwand die Nervosität. Ich wurde viel gelassener.“

      Der Gang zum Strafraum, Phase 3, war für die Spieler längst nicht so stressig, wie man meinen könnte, gleichwohl gaben drei Spieler an, das Alleinsein in dieser Phase als den schwierigsten Teil des Elfmeterschießens empfunden zu haben. Einer beruhigte sich, sobald er den Ball in den Händen hielt. „Ist es nicht so, dass man weniger Stress empfindet, wenn man etwas in der Hand hat? Ich ließ den Ball ein bisschen kreiseln, ich glaube, das war sehr wichtig.“ Drei Spieler merkten, dass ihre Anspannung auf dem Weg zum Punkt abnahm.

      In Phase 4 verspürten nur noch zwei Spieler besondere Anspannung. Einer wandte sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheit vom Torhüter ab. Jordet interpretierte