Elf Meter. Ben Lyttleton

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Название Elf Meter
Автор произведения Ben Lyttleton
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730701850



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des Elfmeterschießens etwas lernen können: über Phase 1, dass Spieler möglichst früh wissen möchten, in welcher Reihenfolge sie schießen, und keine Überraschungen mögen (oder dass Mitspieler kneifen); über Phase 2, dass negative Gefühle aufkommen können, wenn man nur passiv darauf wartet, an die Reihe zu kommen; über Phase 3, dass die Einsamkeit des Gangs eine Bewältigungsstrategie erfordert; und über Phase 4, wie man dem Torhüter gegenüber auftreten sollte.

      Die drei Studien beförderten Jordets Karriere auf dem Gebiet der Sportpsychologie. Heute ist er der Leiter der psychologischen Abteilung am Norwegischen Fußball-Leistungszentrum. „Ich erforsche, wie man am besten denkt und fühlt, um die beste Leistung abzurufen, und außerdem, wie man mit dem Scheitern umgeht“, erklärte er. Eine der Mannschaften, mit denen er derzeit arbeitet, brach jedes Mal auseinander, sobald sie das erste Gegentor kassierte, also wurde Jordet angeheuert, um dem Spuk ein Ende zu machen.

      Aufgrund seines akademischen Hintergrunds hat Jordet einen eher datenbezogenen Zugang zur Sportpsychologie. Als ich von ihm wissen wollte, warum England so oft im Elfmeterschießen verliert, hatte er gleich mehrere mögliche Erklärungen parat. „Ich habe drei Jahre nach dem perfekten Elfmeter gesucht“, erzählte er mir. „Ich erforschte, wie viele Schritte man am besten Anlauf nahm, ob man den Ball hoch oder flach schießen sollte, kraftvoll oder platziert. Nichts davon war von signifikanter Bedeutung. Großen Einfluss hatte dagegen Stress und wie man damit umgeht. Der perfekte Elfmeter hatte nichts mit Fußball an sich zu tun, sondern mit Psychologie.“

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       Abbildung 4

      Einer dieser psychologischen Faktoren ist, wie wir gesehen haben, die Last der Geschichte. Jordet untersuchte, wie es sich auf ein bevorstehendes Elfmeterschießen auswirkte, zuvor eines oder zwei verloren zu haben.1 Steigt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass England ein Elfmeterschießen in einem großen Turnier verliert, weil es die beiden letzten Elfmeterschießen verloren hat? Die Antwort lautet ja.

      Wie die Abbildung 4 zeigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter zu verwandeln, dramatisch auf 57 %, wenn die Mannschaft des Schützen ihre letzten beiden Elfmeterschießen verloren hat, selbst wenn der Spieler zum Zeitpunkt der Niederlagen gar nicht Teil der Mannschaft war. Auch Gewinnen ist ansteckend: Die Wahrscheinlichkeit, einen Elfmeter für eine Mannschaft zu verwandeln, die ihre letzten beiden Elfmeterschießen gewonnen hat, liegt bei 89 %. Für die Verlierer aber entsteht ein echter Teufelskreis. Die Werte eines Spielers, der bei der vorangegangenen Niederlage einen Elfmeter geschossen hat, sind sogar noch schlechter – selbst wenn er damals getroffen hat. Seine Trefferwahrscheinlichkeit sinkt auf 45 %. Ich fragte Jordet, ob Englands regelmäßiges Scheitern und Deutschlands Erfolge die Zahlen verzerrten, aber dem war nicht so.

      Ergibt ja auch Sinn: Stellen Sie sich einen Neunjährigen vor, nennen wir ihn Ashley, der England zum ersten Mal bei einem großen Turnier sieht, wo es dann im Elfmeterschießen scheitert. Das hinterlässt Spuren. Ashley wächst heran und wird seinerseits Fußballer, England verliert zwei weitere Male im Elfmeterschießen. In der Jugend spielt er selbst für sein Land, das zwei weitere Elfmeterschießen auf großer Bühne verliert. Schließlich wird Ashley Profi, im Verein schießt er regelmäßig Elfmeter, aber die Vorstellung, dass es eigentlich unmöglich ist, mit England ein Elfmeterschießen zu gewinnen, ist längst in ihm verwurzelt. Er ist 31 und ein alter Hase, als er selber für England vom Punkt antreten muss. Er verschießt.

      Das bestätigt wiederum sozialpsychologische Studien, die zeigen, dass sich schlechte Erfahrungen weitaus dramatischer auswirken als gute.2 Beim Elfmeterschießen verdichtet sich dieser Effekt: Nicht die gute Leistung der einen, sondern das Versagen der anderen Mannschaft macht bei den meisten Elfmeterschießen den Unterschied. Englands Scheitern führt zu weiterem Scheitern. Aber warum scheitern sie überhaupt?

      Als Psychologe hat Jordet zwei Strategien ausgemacht, auf die Elfmeterschützen sich verlegen, wenn sie besonders nervös sind – Vermeidungsstrategien. Bei Spielern, die regelmäßig Elfmeter schießen, sind sie weniger bedeutsam, weil sie möglicherweise Teil einer einstudierten Routine sind, aber bei Spielern, die es nicht gewohnt sind, vom Punkt anzutreten – „die für mich interessanteren, denn bei ihnen geht es um reine Psychologie“, so Jordet –, korrelieren sie mit der Leistung.3

      Die eine Strategie ist, sich vom Tor abzuwenden und den Blickkontakt mit dem Torhüter zu meiden, nachdem man sich den Ball zurechtgelegt hat. „Man kann sich nicht ewig abwenden, irgendwann muss man sich umdrehen und sich dem Druck stellen“, sagte Jordet. Er klickte durch unzählige Bilder von Spielern, die im Mittelkreis stehen und sich von dem Strafraum, in dem die Elfmeter geschossen werden, abwenden: Paul Ince bei der EM 1996, zwei Jahre vor seinem Fehlversuch bei der WM 1998; Ricardo Carvalho bei Chelseas Niederlage im Champions-League-Finale 2008 in Moskau (bei der übrigens auch Teameigner Roman Abramowitsch, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf seine Füße starrte); Oleg Blochin schaute sich als Trainer der Ukraine den Sieg seiner Mannschaft im Elfmeterschießen gegen die Schweiz bei der WM 2006 von der Kabine aus an, weil er es nicht ertragen konnte.

      Dann rief Jordet die Statistik der Spieler auf, die sich nach dem Zurechtlegen des Balls vom Tor abwenden:

      

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       Abbildung 5

      Wie Abbildung 5 zeigt, kehrten satte 57 % der englischen Spieler dem gegnerischen Torwart den Rücken zu, gegenüber 17 % der Holländer und nur 5 % der Spanier. Diese Zahlen sind nicht deswegen so interessant, weil England an der Spitze steht, sondern weil keine andere Nation sich auch nur annähernd so häufig auf diese Vermeidungsstrategie verlegt. Für sich genommen ist das kein klarer Hinweis auf die Leistung, aber im Verbund mit der anderen Vermeidungsstrategie – der überhasteten Ausführung – ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang. Abbildung 6 zeigt die Reaktionszeiten der Schützen nach dem Pfiff des Schiedsrichters, mit dem der Schuss freigegeben wird.

      Die Unterschiede zwischen diesen Werten – nur Bruchteile von Sekunden – erscheinen nicht besonders groß, aber sie sind nicht von der Hand zu weisen (zum Vergleich: Usain Bolts durchschnittliche Reaktionszeit am Start liegt bei 0,17 Sekunden). Keine Nation beeilt sich beim Elfmeterschießen so sehr wie die Engländer, die eine durchschnittliche Reaktionszeit von 0,28 Sekunden aufweisen. Jamie Carragher musste gegen Portugal einen Versuch wiederholen, weil er sich beim ersten zu sehr beeilt hatte (was er im Übrigen auch beim zweiten tat). 1996 schien Gareth Southgate noch auf dem Weg zu seinem Startpunkt zu sein, als der Schiedsrichter pfiff, woraufhin Southgate abrupt innehielt und den Anlauf begann. In seinem Buch Woody and Nord schrieb er: „Ich wollte nur den Ball, ihn auf den Punkt legen und es hinter mich bringen.“ Chris Waddle äußerte sich über seinen Fehlversuch von 1990 ähnlich: „Ich wollte nur, dass es vorbei ist.“

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       Abbildung 6

      Steven Gerrard war vor seinem Elfmeter gegen Ricardo bei der WM 2006 sogar noch ungeduldiger. In Gerrard: My Autobiography schrieb er: „Ich war bereit. Elizondo war es nicht. Pfeif endlich! Komm aus dem Quark, Schiri! Worauf wartest du? Der Ball lag auf dem Punkt, Ricardo stand auf der Linie. Warum ließ der blöde Pfiff auf sich warten? Die paar Sekunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor und haben mich definitiv aus dem Konzept gebracht. Weiß er nicht, dass ich nervös bin? Herr im Himmel! Innerlich schrie ich. Im Training war alles so einfach: Ball hinlegen, ein paar Schritte zurück, Anlauf, Tor. Kein Warten, keine Anspannung. Jetzt war es anders. Weil Elizondo alles hinauszögerte. Endlich pfiff er, aber meine Konzentration war dahin. Im Moment des Ballkontakts wusste ich schon, dass er nicht dorthin ginge, wo ich ihn haben wollte. Ich lag fast einen halben Meter daneben, was Ricardo die Sache leichter machte. Gehalten. Albtraum.“

      Jordet erzählte mir, dass die Spieler einen Elfmeter doppelt so schnell ausführen, wenn sie unter großem Druck stehen, und dass ein relativ großer Anteil der Spieler, die ihren Versuch