Der Himmel ist blau. Markus Draxler

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Название Der Himmel ist blau
Автор произведения Markus Draxler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783730701140



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Herr?“

      „Lass mal mein Herr. Das wirst du wohl ersetzen müssen!“

      Er deutet auf seinen Anzug, den seines Begleiters, die Papiere und die ganze Katastrophe. Uwe hat sich mittlerweile strategisch günstig in der Nähe positioniert, hat eine Hand in die Hüfte gestemmt und in seinem betont gelangweilten Gesicht die linke Augenbraue hochgezogen. Wie er es immer macht in solchen Situationen.

      „Was wollen Sie, mein Herr? Schmeckt Ihnen Ihr Getränk nicht?“

      „Hör mal zu, du, weißt du eigentlich, wer vor dir steht?“

      Bei diesem Satz mischen sich in die gespannte Ruhe erste, ganz kurze unterdrückte Lacher.

      „Aber mein Herr, lieber Stenz, es ist doch kein Grund, laut zu werden. Wir wollen doch lieber ganz friedlich feiern.“

      „Gleich hol ich aber die Polizei!“

      Jetzt können sich einige nicht mehr halten. Theo Kroll, äußerst gut drauf, sieht mich aus der Menge heraus fragend an, ob er einschreiten solle. Ich gebe dem Polizisten ein Zeichen, und er hält sich zurück.

      „Das ist unerhört!“, mischt sich der andere ein. Er hat idealerweise die Stimme eines Kastraten, und jetzt kann sich eigentlich keiner mehr halten. Außer Uwe natürlich. Und Bobbel, der weiterhin in seiner Rolle bleibt.

      „Meine lieben Herren. Ich würde gern einmal auf ein ganz anderes Thema zu sprechen kommen.“

      Bobbel steht auf, tritt vor die beiden hin. Legt einen Arm um die Brust, stützt den anderen darauf ab. Legt einen Finger an die Unterlippe wie ein Denker und spricht, als wäre es das Ergebnis langer Grübelei:

      „Wer nicht hüpft, meine Herren … der ist Borusse.“

      „Was?“

      „Nun ja. Sehen sie mal!“

      Und auf Bobbels Zeichen hin fängt der ganze Laden zu hüpfen an und ruft: „Wer nicht hüpft, der ist Borusse, hey, hey.“ Die Auswärtigen stehen starr vor Angst da und wissen nicht weiter. Wenn um dich herum plötzlich hundert stark alkoholisierte Männer überschwänglich zu hüpfen und ohrenbetäubend zu schreien anfangen, kann dir schon mal das Herz in die Hose plumpsen. An dieser Stelle tritt Uwe wieder auf den Plan. Er nickt den beiden verständnisvoll zu, breitet die Arme zwischen ihnen aus und geleitet sie behutsam zur Tür. Wieder einmal ist die Integration leider gescheitert.

      Der eine klaubt noch schnell seine nassen Zettel zusammen, die ihm aber zu großen Teilen zwischen den Händen zerfallen. Dann sind sie weg. Wir hüpfen noch ein bisschen weiter, bevor der Tresen gestürmt wird. Die Gläser sind ja alle leer jetzt. Da finde ich vor meinen Füßen eins der Papiere, das die soeben Verabschiedeten nicht mehr haben retten können. Es ist ein Plan, eine Karte. Er ist ein bisschen zerlaufen und eingerissen, schwierig zu lesen, auch aufgrund meiner eigenen Konstitution. Ich drehe das Papier in den Händen hin und her, rätsele über oben und unten, und finde mich schließlich zurecht. Da ist Antons Feld drauf. Unser Fußballplatz. Der Platz, auf dem wir sonntags immer Fußball spielen. Was soll das denn?

       ZWEI

      Kurz vor der Stadtgrenze zu Essen, nördlich des Rhein-Herne-Kanals, zur einen Seite von einem kleinen Waldstück, zur anderen von einer stillgelegten Kokerei begrenzt, liegt der Fußballplatz „Antons Feld“. Anton Sterger war seinerzeit Besitzer der Kokerei gewesen, bis er Ende der 80er Jahre den Betrieb einstellen musste. Sterger hatte sich das Unternehmen, aus einfachsten Verhältnissen kommend, selbst aufgebaut und war so ein ziemlich wohlhabender Mann geworden. Erfreulicherweise ist er sich seiner Herkunft immer bewusst geblieben und hat nie vergessen, was er den Männern verdankte, die für ihn arbeiteten. Spendabel, wie er in guten Zeiten war, ließ er Anfang der 70er Jahre ein paar Planierraupen anrücken, ein rechteckiges Feld von der Größe eines ernstzunehmenden Schwimmbeckens auf dem Gelände platt walzen, mehrere Tonnen roter Asche darauf verteilen, setzte an die kurzen Enden zwei selbst gezimmerte Tore und erklärte der Belegschaft – nebenbei, wie es seine Art war –, hier könnte ab sofort jeder Fußball spielen, so viel er wollte. Er hob halb im Spaß den Zeigefinger: außerhalb der Arbeitszeit, verstände sich.

      Bobbel und Gerd arbeiteten damals schon seit ungefähr zwei Jahren als Einfeger in Stergers Kokerei. Sie hatten nach der Schule beide keine rechte Vorstellung davon gehabt, wie sie ihr Geld verdienen sollten, und anschließend zusammen die Ausbildung gemacht. Das mit dem Bolzplatz war natürlich ein Glücksfall gewesen. Sie nahmen mich bald mit, und da ich als Fernfahrer arbeitete, was einen einigermaßen geachteten Beruf unter den Arbeitern darstellte, und da Männer, die körperliche Arbeit verrichteten, damals sowieso zusammenhielten, wurde ich sehr freundlich empfangen und aufgenommen.

      Wir bauten uns aus Resten selbst ein kleines Vereinsheim mit Tresen, hängten Stergers Bild als Zeichen unserer Dankbarkeit und einen S04-Wimpel aus nicht weiter zu erläuternden Gründen an die Wand. Über die Jahre kamen dann noch unzählige Fotografien, Zeitungsartikel und Zeichnungen dazu, so dass es alles in allem ganz gemütlich wurde. Im Sommer saßen wir bei Auswärtsspielen um das Radio herum, süppelten unsere Biere und sprangen anschließend in den nahe gelegenen Kanal. Sonntags spielten wir selbst, wobei wir so viele geworden waren, dass mehrere Mannschaften gebildet werden konnten, die, durch die Platzverhältnisse bedingt, jedoch auf je sechs Spieler reduziert wurden. Es gab mehrere Spiele nacheinander, bis jeder mal an der Reihe gewesen war. So konnte man den ganzen Tag im Schatten der großen Fabrik zubringen, immer einem rollenden Ball hinterhersehen, fachsimpeln, Biere trinken und die Zeit unter anständigen Menschen verbringen.

      Nachdem die Kokerei dichtgemacht hatte, zerbröselte unsere Gemeinschaft. Erst langsam, dann immer schneller. Es kamen keine Jungen mehr nach, die Alteingesessenen wurden müde, gesetzter, krank oder verließen die Gegend. Eine nicht unerhebliche Zahl guter Freunde starb, gerade vierzig, fünfzig Jahre alt. Schließlich, Ende der 90er, waren wir noch so viele, dass es gerade mal für eine Mannschaft mit vielleicht fünf bis acht unregelmäßigen Ersatzspielern reichte. Zum Glück hatten wir über die Jahre Kontakte zu anderen Hobbymannschaften aus den umliegenden Städten aufgebaut, so dass wir mit ihnen – denen es ähnlich ergangen war – eine kleine private Liga organisieren konnten.

      Es ist nicht mehr wie früher. Weniger groß, weniger lang, ohne das schöne Gefühl, wirklich was auf die Beine zu stellen. Selbst die Fabrik haben sie zu großen Teilen schon abgerissen. Der Kohlenturm steht noch. Aber er steht schon ziemlich verlassen da. Es ist ruhiger. Kleiner. Weniger berauschend. Doch auch wenn wir manches Mal mit Wehmut zurückblicken und uns die Zeiten wieder herbeiwünschen – die heißen, grünen und grauen Sommer, in denen wir unsere Freunde und Tore nicht hätten zählen können – auch wenn wir ab und an sentimental werden beim Anblick der an allen Ecken geflickten Hütte, die unser Vereinsheim ist. Oder wenn der Ball in einem der Löcher, die der Platz überall hat, verspringt: Wir lamentieren doch nicht groß rum, sondern sind froh, dass uns wenigstens das hier geblieben ist, dass wir Übrigen unsere Beine, ein bisschen Puste und einander noch haben.

      „Ingo?“

      „Kommt.“

      „Freddi?“

      „Dabei.“

      „Murat?“

      „Ja.“

      „Heinzi?“

      „Auf Geburtstag.“

      „Hm. Schlecht. Theo?“

      „Krank.“

      „Krank, krank … Der hätte gestern Abend eben mit uns abhauen sollen.“

      „Na ja. Erstens findet der nie ein Ende, und zweitens ist er eine Memme. Als wären wir nicht krank.“

      Manni hat recht. Unter den vier Köpfen, die in seinem Auto hin und her wippen, ist keiner, der nicht Gefahr liefe, in die Luft zu fliegen, sollte der Wagen versehentlich eins der Schlaglöcher erwischen, die die Straße zum Bolzplatz übersäen. Wir lassen Bobbels beste Morgenmischung kreisen, ein hauptsächlich aus Orangensaft, Vitamintabletten, Aspirin und Korn bestehendes Getränk, das Bobbel