Der Himmel ist blau. Markus Draxler

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Название Der Himmel ist blau
Автор произведения Markus Draxler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783730701140



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denkt er: Es läuft. Alles ist möglich. Es läuft. Lieber, bisschen naiver Gerd. Das Lied ist immer noch nicht zu Ende. Ich drücke ihn und schreie – so laut ich kann – ein paar Textbrocken in sein Ohr. Er grinst mich an und drückt zurück.

      Da kommt Bobbel vom Einkauf zurück. Er ist gereizt, zeigt sich ein paar Minuten lang wortkarg. Schließlich stellt sich heraus, dass ihm beim Bierkauf Folgendes passiert ist: Er wollte ungefähr seinen halben Monatslohn auf die Knappenkarte laden lassen. Man eröffnete ihm daraufhin, dass der maximale Aufladebetrag bei 150 € liegt. Infolgedessen stand Bobbel wohl ungefähr eine Viertelstunde an dem Stand und hat dem armen Mann darin einen Vortrag darüber gehalten, wie astrein der FC Schalke, dass das neue Stadion ja auch schön wäre, dass man aber wirklich aufpassen müsste, mit der Kommerzialisierung und so. Denn die Kommerzialisierung, das wäre so eine Sache, die mit Schalke nun wirklich nichts zu tun hätte. Und dann hat er so lange „Blau und Weiß ein Leben lang“ in das kleine Häuschen von dem Knappenkartenauflademann hineingeschmettert, bis dieser ihm schließlich drei Karten zu je 150 € verkaufte. Eine dieser Karten hat er, Bobbel, dann auf dem Weg zur Schenke sofort verloren. Vom restlichen Geld hat er anschließend zwanzig Biere geordert, von denen er auf dem Weg zurück in die Kurve wiederum die Hälfte verschüttete. Er verteilt also die halb leeren Becher und erzählt uns seine jüngsten Erlebnisse, und weil wir – trotz aller Tragik der Geschichte – nicht anders können, als uns halb totzulachen, und weil die Spieler sich immer noch feiern lassen, und weil noch einmal „Ob ich verroste und verkalke“ angestimmt wird, kann Bobbel schon sehr bald seine grimmige Stimmung nicht mehr aufrechterhalten, trinkt drei halbe Becher in drei Schlücken aus, fällt uns in die Arme und stimmt in das Lied ein.

      Ungefähr zwei Stunden vergehen in diesem Zustand glückseliger Singerei. Die Mannschaft ist längst verschwunden. Wir stehen da, auf die Metalllehnen gestützt wie an Bord eines Schiffes, und glotzen das grüne Meer an. Ruhig, ziemlich benebelt, versonnen und warm rekapitulieren wir das Spiel. Das Stadion ist fast leer. Gerd kommt von der Schenke zurück und überbringt die schlechte Nachricht, dass kein Bier mehr verkauft wird. Wir fassen den Entschluss zu gehen. Es wird auch Zeit. Besonders für Manni.

      „Ich schlage vor, wir wecken ihn mal“, sagt Bobbel. Manni steht immer noch da wie vor Stunden, wankt um seinen eigenen Körpermittelpunkt herum und bewegt die Lippen: „Schalke, Schalke.“ Die Augen geschlossen.

      „Wie machen wir’s?“, frage ich.

      „Kurz und schmerzlos am besten“, meint Bobbel.

      „Nee, lass mich das mal machen. Da darf man jetzt nicht zu rabiat sein. Wie bei Schlafwandlern musst du da vorgehen. Ich mach das schon.“ Gerd geht zum Manni rüber, fasst sanft seinen Arm und spricht ihn leise an. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber tatsächlich öffnet Manni die Augen. Alles scheint ganz glatt zu verlaufen. Er guckt in die Runde, steht dann kurz gerade und still. Ein fragendes „Hm?“ geht ihm über die Lippen. Gerd sagt: „Komm, Manni, es gibt kein Bier mehr. Wir gehen in die Kneipe.“ „Mja, klar“, entgegnet Manni, und ich sehe genau, dass er in seinem Kopf den Entschluss fasst, ein Bein vor das andere zu stellen. Leider gehorcht der Körper des Manni dem Kopf des Manni nicht, so dass er der Länge nach auf den harten Betonboden klatscht. Gerd hat ihn nicht halten können vor Überraschung. „Ajajaj“, kommentiert Bobbel das Ereignis. Wir gehen zum Manni hin, drehen ihn um und reden auf ihn ein, fragen, ob er uns hören könne, etc. Er hat eine kleine Platzwunde an der Stirn, aus der ein dünner Blutfaden läuft. Wir sehen gleich, dass es nicht schlimm ist und nicht genäht werden muss. „Das gibt’n Horn“, sagt Bobbel und tätschelt ihm die Wange. Dann schlägt Manni wieder die Augen auf. Er ist prompt ganz klar und spricht fest, in seiner berühmten gestelzten Manier, die folgenden Worte: „Wenn ich heute Nacht sterbe, meine Freunde, dann lasst nur S04 in meinen Grabstein gravieren und erzählt den Leuten, dass ich starb als ein glücklicher Mann. Jetzt stellt mich auf meine zwei Beine und bringt mich zu der Kneipe, die da heißt: „Zur blanken Laterne“. Wir wollen dem Alkohol zusprechen, und zwar aufs Allergemeinste.“

      Gesagt, getan.

      Kurz bevor wir besagtes Etablissement erreichen, brechen die Wolken auseinander. Wir geraten für fünf Minuten in einen apokalyptischen Sturm und sind nass bis auf die Knochen, als wir uns am Tresen einfinden. Der Laden ist zum Bersten voll. Brütend heiß hier. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei ungefähr siebenhundert Prozent. Uwe schenkt gerade aus und grüßt vergnügt zu uns rüber: „Mensch, Jungs, wie seht ihr denn aus? Das muss wohl mit dem Wetter zusammenhängen, was? Manni, im Block geirrt?“ Und er lacht. Lustiger Uwe. Bobbel tut gefährlich und raunt mit seinem brachialen Organ zurück: „Uwe. Schwatz kein Blech. Gib das Bier her.“

      „Na, na, mein Großer. An so einem schönen Tag wird dir das bisschen Feuchtigkeit doch nicht die Laune verderben!?“

      „Ich sag’s nicht noch mal.“

      Uwe stellt vier große Biere vor uns ab, wischt sich die Flossen auf Uweart an seinem Lappen ab, stützt sich mit beiden Händen breit auf seine Arbeitsfläche und sieht uns verstohlen lächelnd, ein bisschen von unten an.

      „Noch was Warmes dazu?“

      Ohne die Antwort abzuwarten, drapiert er vier Pinnchen vor uns hin und geht höchst professionell ein Mal mit dem Klaren darüber hinweg. Bobbel erfindet Einwände: „Ich trink doch keinen Schnaps mehr.“ Spricht’s, hebt das Glas und trinkt aus.

      „Mach nur nichts kaputt, du, ich warne dich.“

      Das sagt Uwe jedes Mal. Nicht ganz grundlos.

      „Ja, Mutti.“

      Bobbel überwindet sich zu einem spitzen Lächeln im Mundwinkel. Uwe verschwindet wieder hinter seinem Zapfhahn.

      Ich war Jahrgangskleinster, die gesamte Grundschulzeit hindurch. Noch in der Vierten ließ das Wachstum auf sich warten, und es gab zwei oder drei Kinder in der ersten Klasse, die mir schon auf den Kopf spucken konnten. Heute käme man nicht auf die Idee, ich bin ganz normal. Damals jedoch war ich für jedes aufmüpfige Balg, das sich selbst oder seinen Freunden was beweisen wollte, eine willkommene Gelegenheit. Es gab da zwei äußerst grobe Burschen, eine Klasse über mir, die gar nicht mehr aufhören konnten, sich was zu beweisen und mich beinahe täglich über die Mauer warfen.

      Da war nämlich ein Friedhof direkt neben der Schule. Und dazwischen verlief ebendiese Mauer. Es war ein alter Friedhof, mit großen, brüchigen, teilweise umgestürzten Steinen, auf den nur sehr selten jemand kam, um etwa Blumen auf einem Grab abzulegen oder irgendwelche Pflege zu betreiben. Ein insgesamt ziemlich toter Ort also. Und dementsprechend für Gruselgeschichten wie gemacht. Bei so was hörte ich meistens weg. Hatte schon immer so ein bisschen Schiss. Jedenfalls war mir der Ort alles andere als geheuer. Und meine Phantasie, mit der ich gut ausgestattet war, tat ihr Übriges als Verstärker. Die beiden Fleischsäcke, die mich triezten, verfügten zwar kaum über die intellektuellen Fähigkeiten einer Gurke. Mein Verhältnis zu beschriebenem Ort jedoch hatten sie offenkundig durchschaut. Und so flog ich eben, ungefähr zwei Jahre lang, tagtäglich über die Mauer. Immerhin, direkt dahinter waren Büsche, so dass es nicht wehtat. Da der gesamte Friedhof aber von Mauern umgeben war, musste ich immer bis zum nächsten Ausgang laufen, der schätzungsweise am anderen Ende des Geländes lag. Besonders im späten Herbst, wenn es kaum richtig hell wurde, ein strenger Wind ging und die dunklen Pflanzen sich krude bewegten, war das natürlich ein Problem. Dazu kam der Faktor Zeit: Ich schaffte es selten pünktlich zurück in den Klassenraum. Immerhin absolvierte ich auf diese Weise schon früh ein regelmäßiges Laufprogramm, was mir auf dem Bolzplatz durchaus zugutekommen sollte.

      Eines Tages jedenfalls, der Winter ging gerade zu Ende, ein paar besonders wagemutige Kinder liefen schon ohne Jacken auf dem Schulhof rum, machte ich endlich Bekanntschaft mit einem gewissen Bernhard, der später nur noch Bobbel genannt und mein bester Freund werden sollte. Ich kannte den Erstklässler vom Sehen. Das war unvermeidlich, denn der Junge war ein echter Hüne für sein Alter und schon fast so groß wie unser Religionslehrer Herr Posen – der wiederum für sein Alter natürlich lächerlich kurz geraten war.

      Als die beiden Heinis mich also an jenem Tag zur Mauer führten – sie mussten mich gar nicht mehr zwingen, ich ging einfach mit –, stand am üblichen Abflugort Bobbel. Die lockigen