Der Himmel ist blau. Markus Draxler

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Название Der Himmel ist blau
Автор произведения Markus Draxler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783730701140



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den ich bald so lieben lernen sollte, erwartete er uns.

      „Lasst den in Ruhe.“

      Die beiden wussten nicht, wie verfahren. Bobbel war natürlich auch ein kleines Stück größer als sie, aber er war schließlich allein. Mich zählten sie sicher gar nicht erst mit.

      „Was willst du, Riesenbaby? Weißt wohl nicht, was gut für dich ist?“

      Der eine ging – betont lässig – auf Bobbel zu, fuchtelte ein bisschen mit seinen Händen herum und grinste. Als er gerade handgreiflich werden wollte, machte Bobbel einen für alle so überraschend schnellen Schritt zur Seite, wobei er sich ein halbes Mal um die eigene Achse drehte und schräg hinter dem Angreifer zum Stehen kam, dass dieser vor Erstaunen für einen Augenblick wie gelähmt war. Bobbel schien den Moment kurz wirken lassen zu wollen, bevor er den Hinterkopf des anderen fasste und ihn mit erheblicher Wucht, die Stirn voran, gegen die Mauer schleuderte. Das Geräusch klang ziemlich brutal, und als der Körper des Unruhestifters nach hinten wegsackte, war bereits sein ganzes Gesicht blutüberströmt. Der zweite, höchst irritiert durch die jüngsten Geschehnisse, guckte nach links und rechts, wippte auf den Füßen hin und her, entschloss sich aber einen Moment zu spät zum Rückzug. Bobbel hatte ihn schon am Arm zu fassen gekriegt, drehte ihn sich zurecht und zog ihm einmal mit voller Wucht die Faust quer durchs Gesicht. Der Geschlagene stand noch kurz, machte zwei unkoordinierte Schritte und erreichte die Horizontale nur wenige Meter von seinem immer noch bewusstlosen Kumpanen entfernt.

      In diesem Moment kam der Rektor bereits schreiend über den Schulhof geflogen. Die zweite Attacke hatte er sogar noch selbst mit angesehen, die erste ließ er sich schildern. Eigentlich überflüssig. Die blutenden Fakten sprachen für sich. Bobbel wurde abgeführt, jedoch nicht ohne dass ich ihm ein dankendes Lächeln mit auf den Weg geben konnte. Er verzog seinerseits auch ein wenig das Gesicht. Lächeln konnte er damals ja leider noch nicht.

      Mein neuer Freund Bobbel wurde für vier Wochen suspendiert. Ich ging schon zwei Tage später zu ihm nach Hause, meinen Fußball im Gepäck. Die Drehung war mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Junge, dachte ich, gäbe doch sicher einen astreinen Verteidiger ab.

      „Das schaffst du nicht.“

      „Was?!“

      „Ich sag dir, das schaffst du nicht.“

      „Sag das noch mal.“

      „Du schaffst es nicht.“

      „Oh! Pass bloß auf, du. Dann sieh mal genau hin. Siehst du auch hin?“

      Ja, Manni sieht hin. Er hat seine zwei Augen zwar nicht mehr hundertprozentig im Griff, man kann erkennen, wie sein Blick zwischendurch ausbricht und erst wieder durch Mannis schier übermenschliche Willenskraft zurück auf Kurs gebracht werden muss. Aber er sieht hin. Was er sieht: einen knapp 2,20 m großen Mann mit hochrotem, aufgedunsenem Gesicht schräg, ein bisschen schwankend auf seinem Barhocker sitzen. In den Händen hält dieser Mann eine selbstgebaute Angel, bestehend aus einem Billardqueue und einer Schnur unbekannter Herkunft. Der Riese unternimmt soeben den niedlichen Versuch, das alles andere als unauffällige Gerät gleichzeitig auszuwerfen und versteckt zu halten.

      Bobbel: „Der Trick ist, dass du sie mit einem Ruck einholst …“

      Am Ende der Schnur hat er eine Schlaufe angebracht, die sich, um einen Gegenstand geschlungen, tatsächlich zuziehen ließe. Manni, Gerd und ich beobachten die Unternehmung dennoch mit einiger Skepsis. Dabei natürlich schwer vergnügt und neugierig. Mit gelegentlichen Seitenblicken stellen wir sicher, dass Uwe, dem die ganze Sache kaum gefallen würde, nichts davon mitbekommt.

      Der Fisch, auf den es Bobbel abgesehen hat, steht auf dem Tisch direkt beim Eingang und ist kein Fisch, sondern ein Rotwein. Geordert wurde die Flasche von zwei Gestalten in Anzügen, die offenkundig schon seit längerer Zeit dort sitzen und die Entwicklung, die das Ambiente im Laufe des Abends machen sollte, wohl kaum vorhergesehen hatten. Sie zeigen sich ein bisschen irritiert durch den Lärmpegel, das stetig anwachsende Publikum und gelegentlich herumfliegende Biergläser. Nein, das hatten sie so nicht erwartet. Ganz klein sitzen sie an ihrem Tisch, nippen fast ein bisschen ängstlich an ihren Getränken und verstecken ihre Nasen in irgendwelchen Dokumenten, die ausgebreitet vor ihnen liegen.

      „Das ist doch kein Zustand!“, hatte Bobbel befunden. „Die sollen feiern. Alle feiern. Der FC Schalke ist der größte Fußballverein aller Zeiten. Das müssen die doch jetzt auch mal langsam verstehen. Dass man das auch mal feiern muss.“

      Da konnten wir ihm nur zustimmen, und deshalb war der Riese vor einer halben Stunde an die Fremden herangetreten. Sie hatten seine Einladung an den Tresen jedoch kleinlaut abgelehnt, lächelten entschuldigend, vielleicht sogar ein wenig herablassend. Bobbels Ausführungen über die Großartigkeit des FC Schalke nahmen sie zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Unser Freund kehrte sichtlich enttäuscht zu uns zurück und stellte fest: „Die trauen sich nicht. Die sind so ein bisschen verklemmt.“ Traurig schwiegen wir eine Minute. Dann wieder Bobbel: „Schluss jetzt. Die werden hier integriert, ob sie wollen oder nicht.“ Manni, bemüht: „Ja, ja … Integration ist ein wichtiges Thema. Find ich gut. Aber wie?“ Antwort: „Spielerisch. Ganz spielerisch.“

      Bobbel verschwand dann für eine Weile und kehrte schließlich mit ebenjener Angel zurück. Er erklärte die Funktionsweise seines Apparates und malte die kommenden Ereignisse vor uns in die Luft: Unter den gegebenen Umständen sollte es doch ein Leichtes sein, die Schnur von den beiden unbemerkt über ihrem Fläschchen herabsinken zu lassen. Anschließend bräuchte man nur mit einem Ruck die Schlaufe festziehen und das Getränk zu uns an den Tresen herüberfliegen lassen. Es würde lautlos in unsere Hände schweben. Dann würde er, Bobbel, jedem von uns großzügig ein Glas kredenzen. Gleich viel, wie er meinte. Klein-Klein wohne hier nicht. Die beiden Auswärtigen wären von dem raffinierten Manöver so beeindruckt und belustigt, dass sie nicht anders können würden, als sich uns doch noch anzuschließen. Das Eis wäre gebrochen, man würde Bruderschaft trinken und den beiden alles über Fußball beibringen, außerdem später noch einen Ausflug auf die Schalker Meile unternehmen. Die Nacht würde nie zu Ende gehen. Man hätte neue Freunde gefunden. Freunde fürs Leben.

      „Das schaffst du nie.“

      „Manni, Ruhe jetzt. Konzentration.“

      „Du könntest das nicht mal zu Fuß, du Blauwal.“

      „Na, dann pass mal auf.“

      Wir lehnen uns also zurück, Bobbel lässt die Schnur zum Tisch hinüberschweben. Auf seiner Stirn bilden sich einige äußerst fette Schweißperlen, die in seine linke Augenbraue laufen und ihn blinzeln lassen. Ich tupfe sie weg wie der Trainer des Boxers. Die Anzugträger haben tatsächlich noch nichts mitbekommen, als sich die Schnur um ihren Flaschenhals legt. Dann folgt der riskante Teil der Aktion. Bobbel atmet tief ein, tief aus, und reißt den Queue mit solcher Wucht in die Höhe, dass nicht nur die Flasche nicht an der Schnur hängen bleibt, umkippt und ihren Inhalt über den Tisch der Fremden, ihre Papiere und Anzüge verteilt, sondern der Queue selbst in die Lampe an der Decke rasselt, dort eine Birne zerschlägt und den Schauplatz der Ereignisse verdunkelt. Wir Beobachter brechen sofort in schallendes Gelächter aus. Bobbel hingegen lässt seine Konstruktion einfach fallen, dreht sich wieselflink auf dem Hocker um, stützt einen Arm auf den Tresen und nippt an seinem Bier, wobei er gedankenverloren die Schnapsflaschen an der Wand betrachtet. Als die beiden Begossenen sich vom ersten Schrecken erholt haben, fluchen sie, schütteln ihre Papiere und Anzüge aus. Dann fixieren sie uns. Der klare Sachverhalt hat ihnen offensichtlich Mut eingeflößt. Eine Grenze wurde übertreten. Sie sind im Recht. Und da ist man dann nämlich plötzlich groß. Weil wir hier letztendlich immer noch in Deutschland sind und nicht bei den Hottentotten!

      Es ist plötzlich still geworden, Westernstimmung, die ohnehin dicke Luft im Raum riecht nach Gewitter. Der ganze Laden verfolgt jetzt gespannt das Geschehen. Alle kennen uns hier, besonders Bobbel. Der ist natürlich berüchtigt für seine laute Art. Aber er hat auch schon jedem Zweiten hier irgendwann mal aus der Patsche geholfen und ist nie geizig mit seiner Körperkraft, seiner Zeit oder seinem Geld, wenn er welches hat. Kurzum: Alle mögen Bobbel, er hat nichts zu befürchten. Die beiden Clowns haben davon natürlich nicht den leisesten