Ewige Stille. Astrid Keim

Читать онлайн.
Название Ewige Stille
Автор произведения Astrid Keim
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948972011



Скачать книгу

ab. »Nein, lieber nicht. Es gibt nachher noch genug Alkohol. Ich bin leider nicht diszipliniert genug, den Probeschluck wieder auszuspucken, wenn mir ein Wein besonders gut gefällt. Außerdem freue ich mich auf die Privatführung zu den Kostbarkeiten.«

      Gut, dass wir nicht wirklich hinabsteigen müssen, denkt Laura, als der geräumige Aufzug ein Stockwerk tiefer gleitet, meinem Knie wäre das nicht gut bekommen. Kühle Luft schlägt ihnen entgegen, als sich die Tür öffnet und Laura zieht unwillkürlich ihren Mantel etwas enger um sich. Mehr als fünfzehn Grad werden es wohl nicht sein. Ein Glück, dass sie mit der Kleidung vorgesorgt hat, auch wenn die Temperatur im Probierraum etwas höher liegen dürfte.

      Johannes hat die Führung übernommen. Seine weit ausholende Geste umfasst das ausgedehnte Gewölbe. »Mein Reich.« Stolz schwingt in seiner Stimme mit. »Du kennst es ja bereits.«

      Ja, Laura kennt es und kann seinen Stolz nachvollziehen. Die Anzahl der Flaschen ist atemberaubend, aber noch atemberaubender ist, dass ihr Begleiter jede einzelne kennt, sie in der Hand gehalten, das Etikett betrachtet und Rückschlüsse auf den Inhalt gezogen hat. Er ist für den Einkauf und die optimale Lagerung verantwortlich. Weine aus ganz Europa sind hier versammelt, aber auch solche aus Kalifornien, ­Argentinien, Brasilien, Chile, Australien, Südafrika und Neuseeland, wo in den letzten Jahren riesige Kulturflächen mit Reben entstanden sind. Wenn auch ein großer Teil der Produktion zu gefälligen Industrieweinen verarbeitet wird, so sind doch auch Tropfen von ausgezeichneter Güte dabei, wie selbst Christoph zugeben musste, der oft genug monierte, dass ein großer Teil der Rotweine ›marmeladig‹ schmecke. »Die reinsten Fruchtbomben«, war sein häufig wiederkehrender Kommentar, »längst nicht so facettenreich wie die hiesigen Gewächse.« Laura jedoch konnte sich damit anfreunden, ihr gefallen die schweren Geschütze ausgesprochen gut zu kräftigen Fleischgerichten. Dies mag allerdings auch darauf beruhen, dass ihr kein so differenzierter Geschmacks- und Geruchssinn wie ihrem verstorbenen Mann und Johannes gegeben ist. Die beiden jedenfalls waren sich in ihrer Einschätzung einig und öffneten im privaten Rahmen nur in Ausnahmefällen einen Wein aus Übersee.

      Als sie den größten Teil des Kellers durchschritten haben, deutet Johannes nach rechts. »Hier entlang. Um die Ecke gibt es ein kleineres Nebengewölbe, von dem man vermutet, dass es früher als Eiskeller diente.«

      Nur wenige Schritte sind sie gegangen, als der Sommelier so abrupt innehält, dass seine Begleiterin fast gegen ihn prallt. »Was zum Teufel …« Er beugt sich vornüber. »Das darf doch nicht wahr sein! Sieh dir diese Bescherung an.«

      Laura drängt sich an ihm vorbei und nimmt die Bescherung in Augenschein. Direkt hinter dem Eingang der offen stehenden, schmiedeeisernen Tür liegen in einer riesigen Pfütze die Überreste einer Weinflasche, von der nur das untere Drittel mit dem dicken Boden heil geblieben ist. Vorsichtig, um sich nicht die Schuhe zu beschmutzen, tritt sie hinzu und dreht mit spitzen Fingern eine Scherbe mit dem größten Teil des Etiketts nach oben.

      »Ach du lieber Himmel!« So viel versteht sie von Wein, um einschätzen zu können, dass hier eine Menge Geld vernichtet wurde. »La Tache, Jahrgang 1961. Das ist ja wirklich ein Malheur. Burgund, wenn ich mich nicht irre?«

      Es dauert einen Moment, bis Johannes die Sprache wieder findet. »Ja, Côte de Nuits, einer der teuersten Weine überhaupt. Viele dieses Jahrgangs gibt es nicht mehr. Wir wollten ihn irgendwann auf einer Auktion versteigern lassen. Einige Tausender hätte er auf jeden Fall gebracht.« Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare, sucht nach Worten. »Er war mir anvertraut, ich bin für ihn verantwortlich. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie das passieren konnte. Nur ganz wenige haben einen Schlüssel. Ich natürlich, André und ­Marcel, der Küchenchef. So viel ich weiß, war keiner von beiden in der letzten Zeit hier und bei mir ist es auch schon eine Weile her.«

      »Wieso Marcel? Der hat doch eigentlich hier unten nichts verloren.«

      »Eigentlich nicht, aber auch er schätzt edle Tropfen und kauft ab und zu einen, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet. Sein Keller eignet sich nicht zur Lagerung und so bot ich ihm an, die Flaschen hier aufzubewahren.« Er deutet auf ein kleineres Regal. »Die gehören ihm. Es sind interessante Sachen dabei.«

      Vorsichtig die Pfütze umgehend nähert sich Laura den Flaschen und betrachtet die Etiketten ohne sie zu berühren. »Überwiegend Bordeaux und viele aus den 80er Jahren«, stellt sie fest.

      Johannes nickt. Er hat die Fassung wiedergewonnen. Das Gespräch über sein Lieblingsthema gibt ihm Sicherheit zurück. »Ja, das beste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Außer 1984 – und auch der ist teilweise noch gut in Form, obwohl gegenteilig prognostiziert – alles sensationelle Jahrgänge, im tradierten Stil ausgebaut.«

      Sie erinnert sich daran, dass auch Christoph von einem neuen Stil sprach, der sich Ende des ­vergangenen Jahrhunderts durchgesetzt habe, war aber nicht weiter in die Materie eingedrungen. Jetzt allerdings ergreift sie die Gelegenheit, nachzufragen. »Was ist heute anders?«

      »Um die Weine dunkler und dichter zu machen, konzentriert man den Most durch Wasserentzug. Das bedeutet, dass nicht nur der Zuckergehalt höher ist, sondern auch die Säure, die Inhalts-, Farb- und Aroma­stoffe. Die Bordeaux früher Zeiten wiesen niemals den intensiven, fast ins Violette spielenden Rotton auf, sondern waren wesentlich heller. Engländer, als große Liebhaber dieser Weine, bezeichneten sie als ›Claret‹ und bis heute hat sich dieses Synonym für Bordeaux im anglophonen Raum erhalten.«

      »Ich verstehe. Allein daran kann man also schon mal eine grobe Datierung vornehmen.«

      »Genau. Es gibt natürlich eine ganze Menge weiterer Kriterien der Zuordnung.«

      »Von denen mir zumindest eines geläufig ist«, fügt Laura an. »Meistens erkenne ich, ob ein Wein rechts oder links der Rhone angebaut wird. Die von der rechten Seite mag ich lieber, weil der Merlotanteil höher ist.«

      »Ich weiß, was du meinst. Sie sind etwas gefälliger, sanfter. Viele Damen sind der gleichen Meinung, was wohl damit zusammenhängen mag«, er lächelt charmant, »dass euch die gleichen Attribute auszeichnen.«

      Laura ist noch immer mit dem Studium der Etiketten beschäftigt, als ihr plötzlich etwas auffällt. »Schau mal.« Sie deutet auf eine Flasche. »Die muss erst letztens rausgenommen worden sein. Ihre Staubschicht ist völlig verwischt.«

      »Tatsächlich. Es sieht Marcel überhaupt nicht ähnlich, so unvorsichtig mit seinen Preziosen umzugehen. Château Canon 1947. Ausgezeichneter Jahrgang. Könnte durchaus noch gut trinkbar sein. Vielleicht hat er die Flasche neu verkorkt und deshalb herausgenommen. Das ist die einzige Möglichkeit, die mir einfällt. Aber wie dem auch sei, wenigstens ist sie noch heil und wird ihm irgendwann Freude machen, egal ob er sie selbst öffnet oder weiterverkauft. Ich frage mich nur, was mit dem Burgunder geschehen ist. Von allein ist er mit Sicherheit nicht aus dem Regal gerutscht. Irgendjemand hatte seine Hand im Spiel. Wer und warum ist mir allerdings ein Rätsel.«

      »Vielleicht, um ihn zu stehlen«, schlägt Laura vor. »Ich denke an jemanden, der sich sehr gut mit Wein auskennt. Schließlich hat er zielstrebig mit zum ­teuersten gegriffen, der hier unten zu finden ist. Und das wiederum weist auf jemanden hin, der mit der Materie vertraut ist. Wie viele kennen sich denn hier aus?«

      »Du hast in allen Punkten recht und genau das ist es auch, was mich so irritiert. Natürlich hat das Servicepersonal Zutritt, denn wir verkaufen jeden Abend einiges an Flaschenweinen und ich habe nicht immer die Zeit, sie heraufzuholen. Aber dieser Teil wird durch eine Tür gesichert, die immer verschlossen ist.«

      »Und wenn die Tür durch ein Versehen nicht verschlossen war? Dann hätte jeder hineinspazieren und sich bedienen können. Nein«, Laura ignoriert die abwehrend erhobenen Hände, »sag nicht, das ist unmöglich. Wie oft ist man total davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben und das Gegenteil ist der Fall. Mir ist das vor ein paar Tagen so gegangen. Ich hätte schwören können, mein Auto wie immer abgeschlossen zu haben und als ich einsteigen wollte, waren alle Türen offen. Nur ein Glücksfall, dass nichts weggekommen ist. Was hast du jetzt vor? Willst du die Polizei informieren?«

      Johannes zuckt unschlüssig mit den Schultern. »Ich weiß nicht genau, vielleicht sollte ich zunächst