Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi. Yasmina Khadra

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Название Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi
Автор произведения Yasmina Khadra
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711449028



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Luftangriff der NATO verletzt worden ist.«

      Sein Kinn ist zwei Fingerbreit davor, in seiner Halskuhle zu verschwinden.

      »Bist du verheiratet?«, frage ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

      »Ja, Bruder Führer.«

      Mein Blick fällt auf das Lederarmband an seinem Handgelenk; eilends versteckt er es im Ärmel: »Was ist denn das?«

      »Ein Amulett von den Suaheli, Bruder Führer. Ich habe es auf dem afrikanischen Souk gekauft.«

      »Wegen seiner Zauberkräfte?«

      »Nein, Bruder Führer. Es hat mir einfach gut gefallen mit seinen grünroten geflochtenen Bändern. Ich wollte es meiner Ältesten schenken. Sie mochte es aber nicht.«

      »Man lehnt doch kein Geschenk ab.«

      »Meine Tochter sieht mich nicht oft, deshalb verschmäht sie meine Mitbringsel.«

      »Und wie viele Kinder hast du?«

      »Drei Töchter. Die Älteste ist dreizehn.«

      »Und wie heißt sie?«

      »Karam.«

      »Ein hübscher Name ... Wann hast du deine Kinder das letzte Mal gesehen?«

      »Vielleicht vor sechs oder acht Monaten.«

      »Und fehlen deine Töchter dir?«

      »Ebenso sehr wie Sie unserem Volk fehlen, Bruder Führer.«

      »Ich bin aber nicht nach irgendwohin verschwunden.«

      »Das wollte ich damit doch gar nicht sagen.«

      Er zittert. Nicht aus Furcht. Dieser Mann verehrt mich. Sein ganzes Wesen erbebt in Verehrung.

      »Ich werde Hassan Order geben, dich nach Hause zu schicken.«

      »Warum, Bruder Führer?«

      »Deine Töchter verlangen nach dir.«

      »Nach Ihnen verlangt ein ganzes Volk, Bruder Führer. Meine Familie ist nur ein Tropfen im Ozean. Und in dieser Stunde an Ihrer Seite zu sein, ist ein enormes Glück und Privileg für mich.«

      »Du bist ein guter Junge, Mostefa. Du hast es verdient, deine Töchter wiederzusehen.«

      »Ich würde Ihrem Befehl zum ersten Mal im Leben nicht Folge leisten, Bruder Führer, und mir das so zu Herzen nehmen, dass ich es nicht überlebte.«

      Mostefa meint es aufrichtig. In seinen Augen schimmern Tränen jener Art, wie man sie nur bei wahrhaft lauteren Seelen antrifft.

      »Es muss aber sein.«

      »Mein Platz ist an Ihrer Seite, Bruder Führer. Ich würde ihn nicht einmal gegen einen Platz im Paradies eintauschen. Ohne Sie gibt es für niemanden Rettung, und am wenigsten für meine Töchter.«

      »Setz dich mal da hin«, sage ich und zeige auf meinen Sessel.

      »Das würde ich mir nie erlauben.«

      »Das ist ein Befehl.«

      Mostefa tritt genierlich von einem Bein aufs andere, bevor er sich entschließt, auf dem Sessel Platz zu nehmen. Ein Ausdruck fürchterlicher Verlegenheit macht sich auf seinen Zügen breit.

      »Zeig mal deine Zunge her.«

      »Ich habe Sie noch niemals angelogen, Bruder Führer.«

      »Nun zeig schon deine Zunge.«

      Der Bursche schluckt und schluckt, blickt betreten zu Boden, hält den Kopf leicht schief. Seine Lippen öffnen sich widerstrebend und geben den Blick auf ein kreideweißes Stück Zunge frei.

      »Seit wie vielen Tagen hast du schon nichts mehr gegessen, Mostefa?«

      »Wie bitte?«

      »Deine Zunge ist milchig. Was beweist, dass du seit einer gewissen Zeit nichts mehr zu dir genommen hast.«

      »Bruder ...«

      »Ich weiß, dass meine Mahlzeiten von euren Rationen abgeknapst werden, und dass viele meiner Soldaten fasten, damit ich etwas zu beißen habe.«

      Er senkt den Kopf.

      »Iss!«, befehle ich ihm.

      »Das würde ich mir nie erlauben.«

      »Iss jetzt! Ich bin darauf angewiesen, dass meine Anhänger sich auf den Beinen halten können.«

      »Die Kraft kommt aus dem Herzen, nicht aus dem Bauch, Bruder Führer. Selbst halb verdurstend, mit knurrendem Magen und beinamputiert fände ich noch die Kraft, Sie zu verteidigen. Für Sie würde ich sogar in die Hölle hinabsteigen, um dort die Flamme zu holen, die jede Hand zu Asche verbrennt, die sich gegen Sie erhebt.«

      »Iss endlich!«

      Die Ordonnanz möchte aufs Neue protestieren, aber mein Blick bremst ihn aus.

      »Ich warte ...«

      Er schnäuzt sich kräftig, um sich Mut zu machen, presst die Kiefer zusammen, streift mit bebender Hand einen Feldzwieback. Ich spüre, dass er seinen ganzen Mut zusammennimmt, um seine Finger um den Zwieback zu schließen. Stoßweise trifft mich sein Atem.

      »Was ist geschehen, Mostefa?«

      Er würgt an dem Bissen, an dem er gerade kaut.

      Meine Frage versteht er nicht.

      »Warum tun sie das?«

      Jetzt begreift er, was ich meine, und legt den Zwieback wieder hin.

      »Sie haben den Verstand verloren.«

      »Das ist keine Antwort.«

      »Eine andere weiß ich nicht, Bruder Führer.«

      »War ich ungerecht zu meinem Volk?«

      »Nein!«, ruft die Ordonnanz. »Niemals! Unser Land könnte doch gar keinen liebevolleren Vater, keinen erleuchteteren Führer finden als Sie. Wir waren arme Nomaden im Wüstenstaub, von einem faulen Sack von König versklavt, da kamen Sie und haben aus uns ein freies Volk gemacht, das den Neid der anderen erregt.«

      »Soll ich vielleicht glauben, dass die Raketen, die draußen explodieren, nur Böllerschüsse eines Freudenfestes sind, dessen tieferer Sinn sich mir nicht erschließt?«

      Mostefa zieht jäh den Hals zwischen die Schultern, so als laste mit einem Mal die gesamte Schmach des Verrats auf ihm.

      »Sie haben doch bestimmt irgendeinen Grund, meinst du nicht?«

      »Ich wüsste nicht welchen, Bruder Führer.«

      »Du warst doch ab und zu auf Heimaturlaub. Und zwar nirgends anders als in Bengasi, von wo die Rebellion ausgegangen ist. Du hast Kaffeehäuser, Parks, Moscheen besucht. Da hast du doch sicher den einen oder anderen reden hören, der mich schlecht gemacht hat, oder etwa nicht?«

      »Die Leute haben Sie nie in aller Öffentlichkeit kritisiert, Bruder Führer. Unsere Geheimdienste hatten ja überall ihre Ohren. Ich habe immer nur Gutes über Sie gehört. Außerdem hätte ich auch niemandem erlaubt, es Ihnen gegenüber an Respekt fehlen zu lassen.«

      »Meine Geheimdienste waren blind und taub. Sie haben absolut nichts kommen sehen.«

      Ratlos knetet er seine Finger.

      »Einverstanden«, komme ich ihm entgegen. »Die Leute schweigen in der Öffentlichkeit. Das ist normal. Aber im Privaten lösen die Zungen sich doch. Wenn du nicht gerade unter Autismus leidest, hast du doch, und wäre es nur ein einziges Mal im Leben, einen Angehörigen, einen Cousin, einen Onkel etwas Negatives über mich sagen hören müssen.«

      »Meine ganze Familie vergöttert Sie.«

      »Ich vergöttere meine Söhne. Was mich nicht davon abhält, sie ab und zu mal zu kritisieren. In deiner Familie liebt man mich, das will ich nicht bestreiten. Aber der eine oder andere