Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel

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Название Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt
Автор произведения Marie-Christin Spitznagel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740973711



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Du siehst auch sehr amüsiert aus.» Gerald blickte sie mit einer Mischung aus Wehmut und Mitleid an. Karla seufzte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er versuchen würde, sie mit einem ganz miesen Witz aufzuheitern. Sein Humor war einer der plattesten, die sie kannte.

      «Du weißt was es bedeutet, wenn man das Papier von Bierflaschen pult?»

      «Dass man gerne Papier von Bierflaschen pult?»

      «Es ist ein Zeichen für sexuelle Frustration.»

      «Unmöglich. Ich habe nicht mal Sex, der mich frustrieren könnte.»

      Trotz ihrer miesen Stimmung grinste sie innerlich. Anzüglichkeiten waren zwischen ihnen an der Tagesordnung. Die gehörten zum guten Ton, auch wenn sie natürlich nicht ernst gemeint waren. Er stand nicht auf Frauen und sie nicht auf kleine, dicke Männer, die aussahen wie Dirk Bach.

      Gerald war auch ein Gegner und kein Opfer, wenn es darum ging, sich Anzüglichkeiten an den Kopf zu werfen. Schon als Teenie hatte sie ihre Eltern gerne schockiert und sich innerlich kaputtgelacht, wenn ihre Mutter mit hochrotem Kopf nach Luft schnappend den Raum verließ. Bei Gerald musste sie sich allerdings wesentlich mehr Mühe geben.

      Sie sah ihn mit einem vieldeutigen Lächeln an, beugte sich vor, so dass ihre auf der Theke liegenden Arme die Brüste hoch pressten und ihrem schwarzen Bandshirt einiges an Anstrengung abverlangten, diese weiterhin wenigstens teilweise zu bedecken. Ganz nah brachte sie ihr Gesicht an seines, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und flüsterte ihm ins Ohr:

      «Willst du das ändern?» Nach diesen Worten nahm sie ihre Bierflasche in den Mund und leckte über den Flaschenhals. Sein fassungsloses Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund brachte sie so sehr zum Lachen, dass sie sich an ihrem Bier verschluckte.

      «Ha ha. Sehr komisch, Fräulein. Ich hatte eine einzige Begegnung mit einer Vagina. Da habe ich heute noch Albträume von.» Er schüttelte sich und guckte gequält. Kurz darauf prusteten beide los. Sie brauchten einen Moment, um sich wieder zu beruhigen.

      «Sei nicht so eine Memme und gib mir noch ein Bier!», grinste Karla ihn an und warf ihm einen Luftkuss zu.

      «Sehr wohl!», Gerald drehte sich leise lachend um. Sie ließ ihren Blick durch die Bar schweifen. Niemand, mit dem man hätte reden können. Gelangweilt drehte sie sich zum Ständer mit den Werbepostkarten. Gedankenverloren blätterte sie durch die verschiedenen Motive. Dabei fiel ihr eine quietschpinke Postkarte mit Glitzerrand auf, von einer ‹Madame Destiny - Professionelles Zukunftsauswahlconsulting›.

      «Was für eine gestalterische Missgeburt hast du denn da?», fragte Gerald, als er ihr ein neues Bier hinstellte.

      «Keine Ahnung, das ist aber auch egal. Wir brauchen dringend Schnaps!»

      «Wirklich? Brauchen wir?», lachte Gerald.

      «Unbedingt. Ich verspüre ein spontanes, nicht zu ignorierendes Bedürfnis.»

      «Na dann…», er grinste und schüttete zuckersüßen Kirschschnaps in zwei Gläser.

      Eine halbe Stunde später standen sie Arm in Arm grölend auf der Theke: «Don’t stop me now!». Von Queen. Es war Geralds Lieblingslied. Weil er eine unaufhaltbare Queen wäre, sagte er. Die letzten Gäste verließen daraufhin die Bar, und Gerald holte eine weitere Flasche Kirschschnaps.

      Sie fühlte sich angenehm benommen, als sie nach Hause lief. Die schreiende Unzufriedenheit und die dumpf an ihr nagende Unruhe, die sie seit dem Auszug ihres Bruders spürte, waren still. Danke Kirschschnaps! Sie zündete sich eine Zigarette an, die sie von einer zufällig vorbeikommenden Frau geschnorrt hatte. Eigentlich rauchte sie nicht. Sie machte nur Ausnahmen, wenn sie gestresst war, betrunken, gelangweilt oder unbezwingbare Lust auf Nikotin hatte, was ungefähr fünfzehn Mal am Tag vorkam.

      Es war eine kalte und nasse Januarnacht und Karla trug viel zu dünne Kleidung. Sie schlug die Arme um sich, rieb die Schultern mit den Händen, um die Kälte zu vertreiben. Da traf sie aus dem Nichts plötzlich ein wärmender Strahl. Als sie aufblickte, blinzelte Karla direkt in ein helles, weiches Licht, das wie ein starker Scheinwerfer vom Horizont zu ihr herüberstrahlte. Mitten aus dem Kegel sah sie die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes auf sich zukommen. Überrascht blieb sie stehen und sah ihm entgegen. Wie gebannt starrte Karla und konnte sich nicht wegbewegen. Kurzzeitig dachte sie, dass sich Mogli im Dschungelbuch wahrscheinlich auch so gefühlt hat, als Kaa, die Schlange, ihn hypnotisierte, um ihn zu fressen. Aber der Gedanke war so schnell wieder verschwunden, wie er aufgeblitzt war.

      «Fürchte dich nicht, mein Kind. Ich komme mit froher Botschaft! Komm! Komm mit mir.»

       6 Sofia

      Mit den Armen voller Einkaufstüten und ihrem Handy zwischen Schulter und Kinn geklemmt, versuchte Sofia, ihren Wohnungsschlüssel ins Schloss zu fummeln. Seit sie die Taschen trug, musste sie sich an der Nase kratzen. Heftig pustete sie sich Strähnen ihres schwarzen Ponys aus den Augen. Sie hatte so viel Geld in eine schicke Kurzhaarfrisur investiert, dennoch ließen sich die dicken dunklen Haare ihrer italienischen Vorfahren nur schwer bändigen. Eigentlich müsste sie wöchentlich zum Friseur, um ihren Pony daran zu hindern, ihr über die Augen zu wachsen.

      Jetzt hatte sie vor lauter Überstunden zwei Termine verpasst. Resigniert blies sie einen letzten Luftstoß in ihre Haare, während sie versuchte, sich gegen eine Wortsalve ihrer Mutter am Telefon durchzusetzen. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn sie ihre Kopfhörer getragen hätte. Leider waren die vollkommen verknotet am Boden ihrer Handtasche, und sie hatte nicht die Geduld, diese zu entknoten.

      «Ja Mamma. Si. Si.» Es klickte im Schloss, und sie stieß die Tür mit ihrem Fuß auf. «Non voglio sentir fiatare! Ich will es nicht mehr hören! Mama …», sie stöhnte leise, während sie ihre Einkaufstüten von den Armen neben die Tür gleiten ließ, wo sie mit einem lauten Klirren landeten. Sofia hoffte, dass ihre Weinflaschen heil geblieben waren.

      «No! No! Questo è il colmo!» Sie hielt das Telefon auf Armeslänge von ihrem Ohr, die laute Stimme ihrer Mutter ergoss sich aus dem Hörer. Sofia seufzte und kratzte sich endlich an der Nase. Es war nicht so befriedigend, wie sie gehofft hatte.

      «Mamma, ich muss auflegen. Si. Ja, Mamma, danke. Die Suppe war köstlich. Wie immer.»

      In der offenen Küche der großzügigen Einzimmerwohnung, in der Sofia Canetti wohnte, stand der Topf mit Minestrone, den ihre Mutter ihr vor Wochen mitgegeben hatte. Sie hatte ihn nicht angerührt. Wahrscheinlich würde sie den Topf samt Inhalt komplett loswerden müssen. Inzwischen hatte sie Angst, den Deckel zu heben, denn der braune Pelz darin hatte sicherlich schon zu atmen begonnen. Sie lauschte ihrer Mutter weiter, während diese eine lange Liste mit Bekannten und entfernten Verwandten herunter ratterte, deren Töchter gerade schwanger oder verlobt waren. Sofia war 32, und wenn man ihre Mutter fragte, schon fast zu alt, um zu heiraten. Isabella Canettis größte Angst war es, dass ihre Tochter für immer alleine blieb.

      «Ich muss wirklich dringend auflegen. Ja, ich besuche euch bestimmt am Sonntag. Ciao, Mamma.» Sofia beendete den Anruf abrupt und legte das Telefon auf das Sideboard aus geöltem Walnussholz neben die graue Schale aus Beton, in der sie ihre Schlüssel aufbewahrte. Ihre Wohnung war bis ins letzte durchgeplant, jedes Kissen hatte seinen festen Platz.

      Entnervt und müde ging Sofia durch den großen Raum zum gegenüberliegenden Fenster. Auf dem Weg streifte sie ihre Schuhe ab, zog ihren Mantel aus und legte ihn, ganz untypisch für sich, über die Lehne eines Stuhls, der an der Wand stand und eigentlich als Ablageort für Magazine diente. Normalerweise hätte sie ihn sofort aufgehängt und auch die Schuhe nicht einfach im Raum liegen lassen, aber heute fühlte sie sich, als hätte sie alle Energie verlassen. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich auf einen Sessel am Fenster plumpsen. Sie zündete sich eine Zigarette an, die dort mit Aschenbecher und Feuerzeug bereit lag. Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie wüsste, dass sie rauchte. Nein, sie würde so tun, als hätte Sofia ihr ein Messer ins Herz gestoßen und würde sie unter einem Berg von Schuldgefühlen begraben. Aber nach diesem Tag aus der Hölle hatte sie sich eine Zigarette verdient. Der Anruf ihrer Mutter