Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel

Читать онлайн.
Название Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt
Автор произведения Marie-Christin Spitznagel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740973711



Скачать книгу

am Rande des großen Parkplatzes, den sie gerade überquerte, zu kleinen Schneematschbergen aufgetürmt worden. Die Abgase der vorbeifahrenden Autos hatten sie schon grau gefärbt. Traurige graue Berge in einem traurigen grauen Winter. Aber Alexandra mochte den Schnee trotzdem. Das Geräusch des Schnees, der unter den Sohlen ihrer Stiefel knarzte, machte sie auf eine unerklärliche Weise glücklich. Sie lächelte, als ihr eine Schneeflocke auf der Nase landete. Sie liebte den Schnee und sie liebte Kassel. Aus verschiedenen Gründen, aber besonders weil sich die Schönheit dieser Stadt nicht sofort jedermann erschloss. Daniel hatte einmal gesagt, es sei kein Wunder, dass sie sich in Kassel so wohl fühle.

      «Ihr seid beide langweilig und habt eure besten Zeiten hinter euch.», hatte er ihr eines Morgens gesagt, als sie versuchte, ihn zu einem Spaziergang durch ihre Lieblingsgegend zu motivieren. Schade, dass ihr da noch nicht aufgefallen war, dass Daniel ein Idiot war.

      Kassel war vielleicht nicht auf den ersten Blick beeindruckend schön wie Konstanz oder allein wegen seines Flairs anziehend wie Wien. Nein, Kassel war grau, verbaut und unspektakulär. Auf den ersten Blick. Man musste schon die Augen offen halten, nach dem Besonderen schauen. Dann belohnte diese Stadt den Suchenden mit atemberaubenden Schönheiten. Daniel hatte sogar Recht gehabt, Alex und ihre Stadt waren sich ähnlich. Hier war sie geboren und aufgewachsen, und auch wenn Kassel in Restdeutschland kein sonderlich hohes Ansehen genoss, sofern man es überhaupt kannte, war und blieb es ihr Zuhause. Dass sie noch immer in Kassel lebte, war eine ganz bewusste Entscheidung. Auch sie erschloss sich nicht jedem auf den ersten Blick. Man musste sich Zeit lassen und etwas genauer hinschauen, um das Besondere und Schöne in ihr, Alex, zu finden.

      Alexandra war während ihrer Ausbildung zur Erzieherin ein wenig herumgekommen, auch davor und danach immer wieder gereist, aber nie hatte sie ernsthaft in Erwägung gezogen, ihr Leben irgendwo anders verbringen zu wollen als unter den Treppen des Herkules.

      Sie zog ihre Winterjacke enger um sich und griff in ihre Tasche, um ihr Handy samt In-Ear Kopfhörern hervorzukramen. Wie immer waren die Kabel furchtbar verknotet und sie nahm sich vor, diese in Zukunft nicht einfach in die Tasche zu stopfen, sondern ordentlich zusammen zu rollen. Das nahm sie sich jedes Mal vor. Vergeblich bisher.

      Mit einem zufriedenen Seufzen schob sie sich endlich die Kopfhörer in die Ohren und startete ihren Lieblingspodcast, während sie versuchte, nicht in andere Passanten zu laufen.

      Eine Ukulelenmelodie erklang und eine Männerstimme begann zu singen:

       «Total banale Themen werden hier seziert, scheißegal wie albern hart analysiert. Darüber wird man in 1000 Jahren noch berichten, hier sind die Kack- und Sachgeschichten!»

      Alex hatte die Melodie mitgepfiffen, als sie einen der zahlreichen ‹Coffee-to-Go› Läden betrat, den sie auf ihrem Weg nach Hause passierte. Dafür hatte sie direkt irritierte Blicke geerntet. Sie bestellte sich einen Cappuccino und wartete an einem der freien Stehtische, bis er fertig war. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase.

      «Willkommen bei den Kack- und Sachgeschichten», flötete der junge Mann in ihrem Podcast ihr fröhlich ins Ohr. «Ich bin Fred und willkommen an den Mikros Tobi» - «Moin!» - «Und Richard» - «Moin!»

      Gedankenverloren blätterte sie durch die auf dem Tisch gestapelten Flyer und Heftchen. Dort lag ein Werbezettel für Kinderyoga.

       «Wir sprechen heute Abend Star Wars und die Macht! Und mit der Kraft unserer Gedanken öffnen wir jetzt unsere Biere!»

      ein Stadtmagazin und

       «Kommt Schwarzbier eigentlich von der dunklen Seite der Macht?»

      eine eher langweilige Broschüre der örtlichen Golfschule.

       «In ein paar Wöchelchen kommt ja Episode Acht auf den Teller!» - «Ja! Ich habe auch mega Bock!»

      Zwischen den Seiten des Heftes steckte etwas.

       «Ich war ja bei den letzten Filmen immer nachts am Start, aber dieses Jahr nicht.»- «Oh, ich spüre die Macht» - Es folgte ein lauter Rülpser.

      Alex zog an einer kleinen, pinken Papierecke. Es war eine außergewöhnlich geschmacklose Visitenkarte, die sie plötzlich zwischen den Fingern hielt. Sie war grell pink mit einem Glitzerrand und den Worten ‹Madame Destiny - Professionelles

       Zukunftsauswahlconsulting› in großen, grünen Buchstaben darauf. Was zur Hölle sollte denn das sein? Geistesabwesend steckte sie dieses Meisterwerk der Hässlichkeit in ihre Hosentasche. Als der Barista ihre fertige Bestellung aufrief, hätte sie ihn fast nicht gehört, denn in dem Podcast unterhielten sich die drei Moderatoren gerade über den neuen ‹Star Wars› Teil. Alex liebte ‹Star Wars›. Auch das hatte Daniel nie verstanden. Sie nahm sich ihren Thermobecher mit dem heißen Kaffee vom Tresen.

      «Findest du dich nicht etwas zu alt, um auf Science Fiction zu stehen? Dass dir das nicht peinlich ist!», hatte er zu ihr gesagt, als sie sich diese Podcast Folge das erste Mal angehört hatte. Das war nicht lange her. Egal, sie hatte sich vorgenommen, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Vom Ständeplatz aus spazierte sie weiter Richtung Westen, die Friedrich-Ebert-Straße entlang.

      Bevor Kassel im Zweiten Weltkrieg, und zusätzlich von den Stadtplanern während des Wiederaufbaus, zerstört wurde, war der Ständeplatz der Eckpunkt einer alten Prachtstraße gewesen. Heute gab es dort keinen ‹Platz› mehr. Nur eine große Kreuzung und daneben einen Parkplatz. Von dort ging in Richtung Westen ihre persönliche Lieblingsstraße ab, die Friedrich-Ebert-Straße. Sie führte weg von der Einkaufsmeile Kassels, der Oberen Königsstraße, die aussah wie hunderttausend andere Einkaufsmeilen auch, voller Starbucks, H&Ms und d&ms. Die Friedrich-Ebert-Straße verlief parallel zur Wilhelmshöher Allee. Diese lief geradewegs nach Westen, hoch zum Schloss und zum Bergpark, über dem die Herkulesstatue, das Wahrzeichen Kassels, auf seinem Oktogon thronte. Sie liebte es, wie diese Straße sich veränderte, von den provisorischen Nachkriegsbauten in der Nähe der Innenstadt bis hin zu den wunderschönen Gründerzeithäusern kurz hinter der Annastraße.

      Zehn Minuten von der Innenstadt entfernt zeigte Kassel sein anderes, wunderschönes Gesicht. Hochgewachsene Bäume säumten die Straße. Im Winter waren sie kahl und kurzgestutzt, so dass man jedes Detail an den Häusern erkannte. Die meisten Gebäude waren vom Zweiten Weltkrieg verschont geblieben, so konnte man etwas von der ursprünglichen Schönheit Kassels erkennen, die man sonst aus Büchern kannte. Sie hatte schon in der Schulbücherei früher Bildbände über das alte Kassel gewälzt. Diese Stadt war einst so schön. Gewesen. Hier im ‹vorderen Westen› fand sich ein kleiner Rest davon. Sie betrachtete die Verzierungen an den Hausfassaden. Insbesondere die Gesichter und Figuren an den Mauern hatten es ihr angetan sowie die kleinen Geschäfte in den Ladenfronten. Wieder blieb sie kurz am Schaufenster der kleinen Boutique mit den Rüschenkleidern stehen. Nie würde sie so etwas tragen. Es weckte unliebsame Erinnerungen. Stresspickel bekam sie von diesem Zeugs.

      Alexandra hatte schon immer eine Jeans und T-Shirt oder Pullover vorgezogen. Sie versuchte, sich kurz vorzustellen, wie sie in diesen Kleidern wohl aussehen würde. Ihre durchtrainierten Oberschenkel würden zu diesem Kleid wahrscheinlich ziemlich albern aussehen. Ihre honigblonden Haare hatte sie zu einem losen Zopf nach hinten gebunden, ihre Schultern waren etwas zu breit, ihre Arme etwas zu muskulös, als dass man sie schnell als ‹schlank› bezeichnet hätte. Sie war sportlich fit, ging laufen und ins Fitnessstudio, verzichtete auf Zucker und Weißmehl. Sie war sich sicher, nicht der Typ für diese Kleidchen zu sein. «Du bist nicht der Typ für sowas, sei nicht albern», das hatte Daniel einmal zu ihr gesagt. Schnell ging sie ein paar Schritte weiter.

      Direkt neben dem Mädchen-Modeladen war ein Tattoo Studio. In den Schaufenstern lagen glitzernde Totenköpfe, Piercingschmuck und Poster für eine anstehende Messe. Daneben hingen Fotos mit verschiedenen Motiven in bunten Bilderrahmen. Sie bewunderte die Fotos der Frauenköper mit den verschlungenen Tattoos. Kontraste, die so stark und doch gleichzeitig weiblich wirkten. Sie seufzte. Sie würde sich nie trauen, ein Tattoo stechen zu lassen. Wahrscheinlich sähe es an ihr auch albern aus.

      Auf der anderen Straßenseite waren die Antiquitätenläden.