Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel

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Название Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt
Автор произведения Marie-Christin Spitznagel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740973711



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      Nachdem die letzten Blitze verklungen und die Wolken im nachtschwarzen Himmel versunken waren, ließ sich Michael wieder auf sein Sofa fallen, streckte sich lang aus, die nackten Füße baumelten über die Lehne.

      Er hatte sich seinen Platz als gefürchtetster Krieger des Herren hart erarbeitet, hatte Luzifer bezwungen, Städte in Schutt und Asche gelegt und war seinem Herren blind und treu gefolgt. Ein Erzengel alter Schule, ein Soldat. Es war auch nicht nur die Langeweile, die an ihm nagte. Das grausame Gefühl, überflüssig zu sein, ein Anachronismus, quälte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er schloss die Augen und versuchte, seine dunklen Gedanken in andere Bahnen zu lenken, da hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich, die dort nicht hätte sein dürfen.

      «Hallo, Engelchen!»

      Er fuhr auf. «Schlange! Was tust du hier und wie kommst du überhaupt herein?»

       3 Gabriel

      In einer riesigen Halle von überirdischer Perfektion und Schönheit saß Gabriel in einem schneeweißen Ledersessel und dachte nach. Wände und Boden der Halle waren so unglaublich weiß, dass man nicht sehen konnte, wo das eine begann und das andere endete. Keine Fuge oder Kante zerstörte das perfekte Weiß. Er saß in seinem Sessel mit geschlossenen Augen und probierte etwas aus, das ihm ein Neuzugang beigebracht hatte. Me-di-ta-tion hieß es.

      Jeder Engel hatte im Himmel seinen eigenen Raum, der seiner Natur entsprach. Michael machte sich immer darüber lustig, dass Gabriels Bereich so weiß und leer war. Sein Vorstellungsvermögen gäbe wahrscheinlich nicht mehr her, sagte Michael. Gabriel hingegen war sich sicher, dass das Weiß der Reinheit und Klarheit seines Geistes entsprach. Er war kein Krieger wie seine Brüder, sondern ein Verkünder, ein Sprachrohr und die Kontaktperson für die Propheten.

      Gewesen.

      Früher.

      Vielleicht war das auch der Grund, warum Gabriel so harmlos aussah. Sein Äußeres war der Aufgabe angepasst, mit Propheten, Heiligen oder anderweitig wichtigen Menschen zu kommunizieren. Seine langen, blonden Haare fielen in weichen Locken über seine Schultern. Sein Gesicht war markant und schön, auf eine unaufdringliche Weise. Bei seinen letzten Besuchen auf der Erde war er mit 1,90 Meter größer gewesen als die meisten Menschen. Jetzt würde ihn niemand mehr automatisch als überirdisch erkennen. Gabriel behauptete, dass ihn das überhaupt nicht störe. Aber es störte ihn doch ein bisschen.

      Michael war schon vor geraumer Zeit in das Zimmer gekommen, was sowohl Jahre als auch nur wenige Minuten her gewesen sein konnte. Zeit war im Himmel ein eher fließendes Konzept. Wortlos hatte er einen Köcher mit Blitzen neben den weißen Sessel geworfen, der Gabriel gegenüber stand, und sich in Selbigen fallen lassen, um dann wortlos vor sich hinzustarren. Michael kam häufig in sein Zimmer gepoltert, schmollend wegen eingebildeter Kränkungen und gähnender Langeweile. Mal laut schimpfend, mal still grollend, bis Gabriel ihn endlich ansprach, und fragte, was denn los sei. Allmählich war dieser das Spiel leid. Aber für seinen Lieblingsbruder spielte er mit. Und weil auch er nichts Besseres zu tun hatte. Doch heute war sein Bruder anders. Eine Unruhe umgab ihn. Mehr als sonst. Er war aufgewühlter.

      Drängender. Forscher.

      Diese Unruhe brodelte unter seiner, nach außen zur Schau gestellten, ruhigen Oberfläche und drängte hinaus. Gabriel konnte fast die Luft um seinen Bruder herum vibrieren sehen.

      «Michael, was grummelst du schon wieder?», milde lächelnd blickte Gabriel ihn an. Die Unruhe verunsicherte ihn. Noch immer fläzte sich Michael in den Sessel. Seine Beine hatte er über die linke Armlehne geschwungen, seinen Rücken an die Rechte gelehnt und seinen Ellenbogen gegen die Rückenlehne gestützt, um sein Kinn auf der Handfläche ablegen zu können. Er blickte angestrengt von seinem Bruder weg und prustete, betont gelangweilt, Luft durch die Lippen.

      «Michael!», Gabriel legte etwas Strenge in seine Stimme. Seiner Meinung nach stand ihm diese Haltung ganz ausgezeichnet. «Solch ein Verhalten schickt sich nicht für Engel! Ich frage mich, wieso es ausgerechnet mir seit Abertausenden von Jahren auferlegt ist, deine Jammermiene ertragen zu müssen.»

      Gabriel hatte sich eine Reaktion erhofft, eine Kleine wenigstens. Oder besser, einen klärenden Streit, eine epische Schlacht der Worte. Er mochte epische Schlachten der Worte. Er mochte den Ausspruch ‹Eine epische Schlacht der Worte› - schließlich war er der Verkünder.

      ‹Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden›, formulierte er lautlos in seinem Kopf vor. Das war ein solider und unaufdringlicher Einstieg, befand Gabriel. Doch sein Bruder schwieg und starrte wütend vor sich hin.

      «Bruder! Ich bin der Verkünder, das Sprachrohr Gottes. Meine Worte können Speerspitzen sein, die Heere in die Knie zwingen, oder sanfte Wellen, auf denen Menschen getragen werden!» - Seine Worte hatten nicht den gewünschten Effekt. Michael schien unbeeindruckt.

      «Lass ab von deinen Zorn, beende dein kindisches Treiben! Sei endlich deiner selbst würdig, verdammte Hacke!» Manchmal entglitt ihm die Zunge. Gabriel tröstete sich damit, dass es, außer Michael, keiner gehört hatte, und diesem hatte er schon schlimmere verbale Ausfälle um die Ohren gehauen.

      «Seit von oberster Etage eine neue Richtung vorgegeben wurde und die guten Tage des Alten Testaments abgelöst wurden von Vergebung, Nächstenliebe und Toleranz, hast du schlechte Laune und benimmst dich wie ein Kleinkind. Das ist eines Engels unwürdig! Schäme dich und besinne dich neu.» Gabriel hatte sich in Fahrt gebracht. «Du wurdest erschaffen, um Gottes Armee anzuführen», fuhr er fort. «Du hast gegen unseren gefallenen Bruder Luzifer und seine Folgschaft abtrünniger Engel gekämpft. Du hast Städte voller Sünder in einem Flammenmeer versenkt, die Plagen erschaffen und über die Ägypter gebracht, riesige Heere mit einem einzigen Schlag deines Feuerschwerts in die Knie gezwungen. Die Menschen haben in Ehrfurcht ihre Gesichter abgewandt und dich angebettelt, verschont zu werden. Jetzt sitzt du hier herum und lässt kleine Fluten und Unwetter auf die Erde niederprasseln. Es ist beschämend.» Oh ja, epische Worte. Jetzt fehlte nur noch die Schlacht.

      Michael hob seinen Kopf, blitzte seinen Bruder mit stechenden Augen an. Er konnte wirklich furchteinflößend aussehen.

      «Weißt du, was wirklich beschämend ist?», fuhr er auf, «Wir! - Wir sind in die Belanglosigkeit abgerutscht und alle tun so, als ob dem nicht so wäre. Wir sind Kitschfiguren in den Augen der Menschen. Putzige Glücksbringer. Sie stellen kleine, nackte, dicke Figuren mit Flügelchen auf ihre Fensterbretter. Das sollen wir sein!» Er erhob sich aus dem weißen Sessel und ging energisch auf seinen Bruder zu.

      «Wir sind bedeutungslos, bestenfalls ein Witz, ein Kindermärchen. Kein Mensch achtet oder fürchtet uns mehr. Warum auch? Wir hatten seit Jahrtausenden keinen Einsatz mehr auf der Erde, es gibt nichts zu tun, nichts zu rächen, nichts zu verkünden. Wir sitzen herum und warten auf was-weiß-ich-was!»

      Das war ein neuer Ton. Normalerweise quengelte Michael lediglich, dieser Zorn war neu. Wo kam der denn her? Gabriel ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, schüttelte kurz den Kopf und antwortete auf Michaels Tirade lediglich mit einer abwehrenden Geste. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel. Auf diesen neuen Ton musste er sich erst einstellen. Betont langsam spazierte er um den Schreibtisch herum, nahm den Köcher mit den restlichen Blitzen, bevor Michael die Chance hatte, etwas damit anzustellen, und öffnete die Tür zum Wandschrank. Während er sie aufräumte, musste er nicht reden und konnte sich seine nächsten Worte gut überlegen. Er entschied sich fürs Beschwichtigen.

      «Sei doch nicht so eine Dramaqueen. Und vor allen Dingen, wirf nicht wieder von diesen Blitzen nicht, dass du wieder ‹ganz aus Versehen› Erdbeben und Feuersbrünste in Gang setzt. Such dir lieber eine vernünftige Beschäftigung. Dann ist dir auch nicht mehr langweilig.» Mit einem kräftigen Schwung knallte er den Schrank zu, so dass darin ein kleines Gewitter losbrach. Michael schlurfte aus dem endlos weißen Raum zum Sessel zurück und ließ sich kraftlos in das Polster sinken.

      «Ewig ist eine furchtbar lange Zeit, wenn man nichts tun kann, außer zusehen, wie diese haarlosen Affen,