Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

Читать онлайн.
Название Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman)
Автор произведения Karl May
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026866886



Скачать книгу

      »Ja. Aber Sie brauchen ihn nicht; die Thüre ist angelehnt.«

      »Wo befindet sich das Toilettenzimmer?«

      »Die Treppe hinauf, im Corridore die vierte Thüre rechts.«

      »Also, es ist wirklich im Hause Niemand mehr wach?«

      »Kein Mensch. Aber nehmen Sie sich vor dem feuerfesten Geldschrank in Acht! Sobald man vor ihn hintritt, gehen verborgene Selbstschüsse los.«

      »Hm! Ich sehe, daß Sie es wohl ehrlich mit uns meinen, aber ich muß Sie dennoch fesseln. Kommen Sie her!«

      »Fesseln? Warum, Herr?«

      »Aus Vorsicht. Sie zeigen uns den Weg, bleiben jedoch unter der Bedeckung eines Mannes außerhalb des Toilettenzimmers. Finde ich Sie treu, so geschieht Ihnen nichts; Sie werden vielmehr entfesselt und erhalten sofort dreihundert Gulden. Finde ich aber das Gegentheil, so sitzt Ihnen augenblicklich ein Messer im Herzen.«

      »Daraufhin will ich mich getrost fesseln lassen. Hier!«

      Der Hauptmann band ihm die Hände auf den Rücken. Auf ein abermaliges Fingerschnippsen kamen eine ganze Menge von Leuten herbeigehuscht. Es konnten wirklich dreißig Personen sein.

      »Also,« befahl der Hauptmann mit leiser Stimme, »es wird von hier bis zum Schranke hinauf Reihe gebildet. Jeder kennt seine Nummer und findet also seine Stelle. Eins fängt hier unten an. Zwei arbeiten am Schranke, indem sie die einzelnen Stücke weiter geben. Ist der Schrank leer, kehren Alle nach hier zurück. Jeder brennt seine Laterne an. Wer uns stört, wird kalt gemacht. Vorwärts!«

      Einer der Männer faßte Adolf beim Arme und zog ihn vorwärts. Drin, im Innern des Hauses angekommen, brannte Jeder seine Diebeslaterne an. Dann bildete sich eine Reihe vom Flur an, die Treppe empor, den Corridor entlang bis in das Innere des Toilettenzimmers. Vor der geöffneten Thür desselben stand Adolf mit seinem Wächter. Es war ihm, als ob er träume, so blitzschnell und völlig lautlos arbeiteten diese Leute. Band um Band der Bibliothek flog von Hand zu Hand. In Zeit von kaum zehn Minuten war man zu Ende.

      »Wir sind mit Ihnen zufrieden,« sagte der Wächter zu dem Diener, indem er ihm die Fesseln löste. »Hier sind drei Hundertguldenscheine. Hinter uns können Sie das Haus verschließen.«

      Er entfernte sich. Die Gestalten und Laternen huschten die Treppe hinab. Da eilte Adolf in das Schlafzimmer seines Herrn.

      »Durchlaucht!« sagte er leise.

      »Ja. Kommen Sie noch nicht?«

      »O, sie sind bereits fertig! Sie gehen. Ich aber springe nach, um vielleicht zu erfahren, wohin man den Raub schafft.«

      »Schön! Jedenfalls erfahre ich es auch. Du triffst mich am Brunnen beim Palais des Barons von Helfenstein.«

      Adolf eilte fort. Der Fürst wartete noch kurze Zeit, dann begab er sich hinab vor die Thür. Es war keine Spur des Geschehenen zu bemerken. Erst nun gab er seinen Leuten die Erlaubniß, ihr Zimmer zu verlassen und Licht anzuzünden. Es zeigte sich, daß der Schrank vollständig leer war. Sonst aber hatte man nicht das Geringste entfernt oder beschädigt.

      »Anton, jetzt schnell zum Baron,« sagte der Fürst. »Wir müssen Gewißheit haben. Nimm für Adolf die Maske mit!«

      Kaum zehn Minuten später stand er wieder am Brunnen, als alter Mann verkleidet. Er hatte Anton nach dem Casino gesandt. Dieser kehlte nach einiger Zeit mit der Meldung zurück, daß der Baron sich noch dort befinde.

      »Wunderbar!« meinte der Fürst.

      »Er kann also der ›Hauptmann‹ unmöglich sein!«

      »Fast scheint es so. Aber warten wir!«

      Nach ungefähr einer Stunde kam auch Adolf.

      »Hast Du Erfolg gehabt?« fragte der Fürst.

      »Wohl gar keinen. Hoffentlich sind der gnädige Herr glücklicher gewesen als ich.«

      »Wir haben gar kein Glück gehabt.«

      »Und ich ebenso. Als ich nach unten kam, sprang gerade der Letzte über die Mauer. Die Anderen waren bereits fort. Er trug ein Packet auf dem Rücken. Ich machte ihm nach durch eine Menge Gassen und Gäßchens bis zur Mauerstraße. Dort aber verlor ich ihn leider aus dem Gesicht.«

      »Mauerstraße?« meinte der Fürst. »Vielleicht kann uns das als Fingerzeig dienen. Die Gegend dort ist einsam. Es ist sehr möglich, daß sich gerade dort der geheime Schlupfwinkel der Bande befindet, wohin sie den Raub schafft. Man muß diese Gegend beobachten.«

      »Nun möchte ich wissen, wo sich jetzt der Baron befindet,« sagte Adolf.

      »Noch immer im Casino,« antwortete Anton.

      »Wirklich? So haben wir uns geirrt. Er kann der Hauptmann dann unmöglich sein!«

      »Aber die Baronin hat ja die Diamanten?«

      »Das kann Zufall sein und braucht gar nicht mit dem Einbruche des Hauptmannes zusammen zu hängen.«

      »Wir werden hierüber schon noch Klarheit erlangen,« sagte der Fürst. »Haben wir die Spur des Hauptmannes verloren, so werde ich wenigstens meine Diamanten festhalten. Legt Eure Masken an. Wir werden den Baron erwarten, und Ihr sollt dabei sein, weil es möglich ist, daß ich später Zeugen brauche, da ich jetzt die Baronin noch schonen will.«

      Die Bärte und Perrücken wurden angelegt. Dann warteten die drei Männer, bis der Baron kam. Als dies geschah, war es bereits fast fünf Uhr. Er schritt, das Pförtchen gar nicht beachtend, auf das vordere Entrée zu und streckte bereits die Hand nach dem Glockenzuge aus, um den Portier zu rufen, als plötzlich ein alter Herr vor ihm stand – der Fürst, den er aber, ganz natürlich, nicht kannte.

      »Der Herr Baron von Helfenstein?« fragte er.

      »Ja. Was giebt es?«

      »Darf ich vielleicht um eine kleine Audienz ersuchen?«

      »Wie kommen Sie mir vor! Eine Audienz? Jetzt?«

      »Allerdings!«

      »Was wollen Sie?«

      »Ich werde mir gestatten, es Ihnen in Ihrem Zimmer zu sagen.«

      »Ah! Also in's Zimmer wollen Sie mit?«

      »Meinen Sie, daß man Audienzen auf der Straße ertheilt?«

      »Was ist das für ein Ton? Sie wissen doch, mit wem Sie sprechen?«

      »Mit dem Herrn Franz von Helfenstein.«

      »Wer sind denn Sie?«

      »Hier meine Legitimation.«

      Der Baron erblickte die bekannte Medaille. Es fuhr ihm wie ein Stich durch alle Glieder. Was war das? Was wollte die Polizei bei ihm? Jetzt, zu dieser Tageszeit? Er sammelte sich jedoch schnell und sagte:

      »Einem Polizeibeamten giebt man nur im Nothfalle einen abschlägigen Bescheid; aber konnten Sie denn keine andere Zeit für den Vortrag Ihrer Wünsche finden?«

      »Leider nein!«

      »So kommen Sie!«

      Er schellte.

      »Sie gestatten vielleicht, daß diese beiden Herren auch mit Zutritt nehmen, Herr Baron!«

      Helfenstein drehte sich rasch um. Hinter ihm standen, ohne daß er es bemerkt hatte, Adolf und Anton. Das vermehrte die Verlegenheit des Barons noch mehr. Drei Personen! Das konnte doch wohl nichts Unwichtiges und Gewöhnliches sein!

      »Sind diese Herren auch Polizisten?« fragte er.

      »Ja.«

      »Ihre Medaillen!«

      »Die meinige genügt. Sie legitimirt mich, und ich hinwiederum legitimire meine beiden Collegen. Hoffentlich genügt Ihnen das!«

      »Kommen Sie!«

      Eben hatte der Portier