WattenAngst. Andreas Schmidt

Читать онлайн.
Название WattenAngst
Автор произведения Andreas Schmidt
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827184030



Скачать книгу

ertappte sich dabei, genießerisch die Luft durch die verschnupfte Nase einzuziehen.

      Sie überlegte, ob sie gleich mit der Tür ins Haus fallen sollte, entschloss sich aber dagegen, sich gleich als Polizistin zu outen. „Ich würde gern mit Herrn Gerissen sprechen.“

      Das Lächeln um das kantige Kinn ihres Gegenübers wurde eine Spur breiter. „Da haben Sie großes Glück, ich stehe zur Verfügung.“ Gerissen hielt ihr die Hand hin. Wiebke nahm sie und stellte fest, dass sein Händedruck angenehm fest, aber nicht wie ein Schraubstock war. „Was kann ich für Sie tun?“

      „Mein Name ist Wiebke Ulbricht, ich bin Polizistin.“ Sie blickte sich im Verkaufsraum um. „Können wir irgendwo ungestört reden?“

      „Aber sicher.“ Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. „Sie kommen wegen Kerstin, nehme ich an?“

      „Ja. Ich habe ein paar Fragen an Sie.“

      „Natürlich.“ Sven Gerissen machte eine auslandende Bewegung und deutete in Richtung der beiden gläsernen Büros. „Kommen Sie.“

      Wiebke folgte ihm in das kleine Büro und nahm vor dem ebenfalls gläsernen Schreibtisch Platz. Während Gerissen den Schreibtisch umrundete, um sich zu setzen, schaute Wiebke sich um. Das Büro war höchstens fünf Quadratmeter groß und recht spartanisch eingerichtet. Es gab einen Schlüsselkasten, in dem sich unzählige Autoschlüssel befanden, einen großen Kalender mit den aktuellen Modellen des Autoherstellers und ein halbhohes, offenes Aktenregal. Auf dem Schreibtisch die Nachbildung eines Autoreifens, die als Stifteköcher diente, daneben eine Zettelbox, die aus einem Miniatur-Motorblock bestand. Darauf erkannte Wiebke das Logo des Autohauses. Auf der linken Ecke stand ein flacher Monitor, zu dem sich Maus und Tastatur gesellten. Ein stehender Bilderrahmen war das einzige persönliche Einrichtungsmerkmal an Gerissens Arbeitsplatz. Wiebke bedauerte, aus ihrem Blickwinkel nur die Rückseite des Rahmens sehen zu können. Es hätte sie interessiert, ob Sven Gerissen das Bild seiner Freundin auf dem Schreibtisch stehen hatte.

      „Kerstins Vermieterin ist außer sich vor Sorge“, begann Gerissen das Gespräch, während er die fein manikürten Hände auf der gläsernen Tischplatte faltete.

      „Sind Sie nicht in Sorge?“, konterte Wiebke.

      „Doch, natürlich.“ Gerissens Antwort kam zu schnell, zu spontan. Sein Blick wurde unstet, während er mit den feingliedrigen Händen rang. „Was denken Sie denn?“ Als er zu Wiebke aufblickte, hatte er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

      Wiebke sparte sich eine Antwort. Sie wollte den Freund der Vermissten aus der Reserve locken.

      „Haben Sie denn schon eine Spur?“, riss Gerissen sie aus den Beobachtungen.

      „Leider nein.“ Wiebke schüttelte den Kopf. „Wie lange sind Sie schon ein Paar?“

      „Seit einem halben Jahr etwa.“ Er lachte trocken auf, als würde er ihr die Vorzüge eines neuen Automodells vorstellen. „Aber Paar, das klingt so hochtrabend.“

      Wiebke runzelte die Stirn. „Wie würden Sie es dann bezeichnen?“

      „Auch wenn wir zusammen sind, achten wir beide darauf, unsere Freiheit zu behalten.“ Das selbstgefällige Lächeln in seinem Gesicht war wie ausgelöscht.

      „Wie muss ich mir das vorstellen?“

      „Wir lassen uns unsere Freiräume und legen uns nicht in Ketten. Manchmal haben wir ein paar Tage lang gar keinen Kontakt, an anderen Tagen hängen wir aufeinander wie ein frisch verliebtes Paar.“ Jetzt rang er sich wieder ein Lächeln ab, doch es wirkte aufgesetzt.

      „Sie haben eine eigene Wohnung, nehme ich an?“

      „Aber sicher. Und die werde ich auch behalten. Mir ist ein Rückzugsort sehr wichtig.“

      „Ich verstehe.“ Wiebke machte sich Notizen. Etwas an Sven Gerissen gefiel ihr nicht, doch sie konnte nicht beschreiben, was ihr an ihm missfiel. Unwillkürlich dachte Wiebke an ihre Beziehung zu Eike. Ihr Freund machte auch keinen Hehl daraus, dass er ein eigenständiger Mensch bleiben wollte. Und momentan nutzte er das, was Gerissen eben als Rückzugsmöglichkeit bezeichnet hatte, für sich. Wiebke fragte sich, warum Eike, sobald er mit seiner Band auf Tour war, zu einem ganz anderen Menschen wurde. Sie ertappte sich bei der Frage, wie lange sie es noch an seiner Seite aushielt.

      Sie verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf den Fall. „Wann haben Sie Ihre Freundin zuletzt gesehen?“

      „Vorgestern Abend“, kam Sven Gerissens Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Wir waren eine Kleinigkeit essen und haben geredet. Kerstin war müde und wollte früh zu Bett gehen.“

      „Nach dem Besuch im Restaurant trennten sich Ihre Wege also wieder?“

      „Ja. Wir sind noch gemeinsam zum Parkplatz gelaufen, haben Händchen gehalten und geredet, haben uns zum Abschied geküsst und sind dann – jeder für sich – nach Hause gefahren.“ Als Wiebke schwieg, setzte er angriffslustig nach: „Ist das so ungewöhnlich?“

      „Nein, natürlich nicht.“ Wiebke lächelte. „Gab es Pläne für einen Urlaub, vielleicht gemeinsam, oder planten Sie, Deutschland dauerhaft zu verlassen?“

      „Was?“

      Wiebke wiederholte die Frage geduldig.

      „Ach was.“ Gerissen winkte ab. „Auswandern ist etwas für Spinner. Wir sind glücklich hier in Husum. Und unser nächster Urlaub ist zwischen Weihnachten und Neujahr angedacht. Wir wollten ein paar Tage nach Hamburg. Musical, Reeperbahn und die Elfie besuchen. Seit Corona bin ich sehr vorsichtig bei der langfristigen Reiseplanung.“

      „Ich verstehe.“

      Sven Gerissen betrachtete Wiebke, als würde er an ihren Worten zweifeln. Doch er verkniff sich eine Bemerkung.

      „Selbstmordgedanken sind ebenfalls kein Thema?“

      „Auch nicht.“ Jetzt lachte der Autoverkäufer, doch es war ein überhebliches Lachen. „Hören Sie, Frau Ulbricht – Sie kommen hierher und stellen mir eigenartige Fragen. Ich dachte, Sie kommen mit guten Nachrichten zu mir.“

      Statt einer Antwort zückte Wiebke ihr Smartphone. Sie zeigte ihm die Kleidung am Hünengrab. „Sind das die Laufsachen Ihrer Freundin?“

      Gerissens Miene erstarrte. „Ja“, sagte er tonlos. „Sie steht auf Pink und auf Adidas. Wo ist das?“

      „Sicher kennen Sie die alte Grabstätte am Parkplatz von Mühlenau an den Mildstedter Tannen?“

      „Aber sicher. Ich bin oft mit dem Rad dort unterwegs.“

      Wiebke kannte die Gegend. Dort gab es eine BMX-Strecke, die oft und gern von ambitionierten Bikern genutzt wurde.

      „Wer tut so etwas?“ Die Selbstsicherheit war aus Sven Gerissens Stimme gewichen. „Wurde sie … hat man sich an ihr …“ Er brachte die Worte nicht über die Lippen und senkte den Blick. Er rang mit den Händen, die bisher ruhig auf der gläsernen Schreibtischplatte gelegen hatten.

      „Das ist nicht bekannt“, antwortete Wiebke. „Gab es eigentlich Streit in letzter Zeit?“

      „Worauf wollen Sie hinaus?“

      „Ich stelle Fragen, um eine Lösung zu finden.“

      „Dumme Fragen – natürlich gab es immer wieder mal einen Streit, nichts Dramatisches. Und nichts, was so eine … so eine Aktion rechtfertigen würde.“

      „Wie steht es mit ehemaligen Liebhabern Ihrer Freundin, hat sie mit Ihnen über Ex-Freunde gesprochen?“

      „Leider, ja.“ Er nickte und hielt Wiebkes fragendem Blick stand. „Kerstin ist eine Seele von Mensch. Sie ist harmoniebedürftig und viel zu lieb für diese Welt.“

      „Ich fürchte, ich verstehe das nicht.“

      „Nun, sie hat sich von all ihren Freunden friedlich getrennt. Noch immer steht sie mit den Männern in sporadischem