Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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in jeder Aushebungseinheit wurde zum Unterhalt eines Soldaten in Friedenszeiten vorgesehen; wenn nun der Krieg kam und die Armee mobilmachte, übernahmen die Nachbarn die Bestellung von dessen Landstück.

      Spätere Kommentatoren haben viel in diese Maßnahmen hineingelesen – vor allem in den Vereinigten Staaten, wo Gustav Adolfs Vermächtnis auf den Lehrplan der Militärakademie von West Point gesetzt wurde. So wird der König etwa gepriesen als „einer der herausragenden Soldaten der Weltgeschichte und zugleich vielleicht der größte militärische Organisator und Innovator aller Zeiten“, der „eine vollkommen neuartige Militärdoktrin“ formuliert habe.150 Der führende britische Militärtheoretiker des 20. Jahrhunderts hat Gustav Adolf den „Begründer der modernen Kriegführung“ genannt, weil er angeblich als Erster die volle Bedeutung der Feuerwaffen auf dem Schlachtfeld erfasst habe und als Erster mit einer klaren Zielvorstellung ins Feld gezogen sei.151 Die schwedischen Militärreformen hätten „die erste moderne Armee“ geschaffen, indem sie auf eine landesweite Wehrpflicht und ein Offizierskorps aus Berufssoldaten setzten und zu offensivem wie defensivem Vorgehen gleichermaßen befähigten.152

      Derartige Lobeshymnen haben ihre Ursache in der starken teleologischen Färbung eines großen Teils der Militärgeschichtsschreibung, der in der Vergangenheit nach Lehrstücken oder Präzedenzfällen für die Doktrinen unserer Gegenwart sucht. Ganz ähnliche Bewertungen wurden auch dem Preußenkönig Friedrich dem Großen zuteil, der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer zumindest in Teilen aus Wehrpflichtigen bestehenden Armee das habsburgische Österreich bezwang. Beide Monarchen, Gustav Adolf wie den „Alten Fritz“, hat man als Kriegerkönige dargestellt, die in scheinbar aussichtsloser Lage spektakuläre Siege errangen. Insbesondere hat man die militärischen Erfolge Preußens im 18. Jahrhundert – genau wie jene Schwedens im 17. Jahrhundert – auf die vermeintlichen „Nationalarmeen“ beider Länder zurückgeführt, die homogener und also motivierter gewesen seien als die zusammengewürfelten Heere ihrer Gegner. Dabei bestanden sowohl die schwedische als auch die preußische Armee in Wirklichkeit zu über 50 Prozent aus professionellen Söldnern, von denen viele aus dem Ausland kamen.153 Wie die preußische Wehrpflicht war auch das System Gustav Adolfs eigentlich die Behelfslösung eines armen Landes mit einem unterkapitalisierten Agrarsektor, das noch dazu am äußeren Rand des europäischen Handelsraumes lag. In einem Staat, in dem das nötige Kleingeld für die Anwerbung weiterer Söldner fehlte, leistete die Konskription einen sprichwörtlichen Blutzoll. Das war auch den Zeitgenossen bewusst, und entsprechend wurde über die Musterungsquoten ebenso wie über andere Steuern im Riksdag debattiert. Am schwersten traf es die Ärmsten, denn wer sich augenscheinlich nicht selbst versorgen konnte, wurde automatisch eingezogen, während die wohlhabenderen Männer einer Gemeinde Lose zogen. Davon ganz abgesehen lenkt die ständige Fixierung auf Gustav Adolf als den „größten Feldherrn seiner Zeit“ völlig davon ab, wie – und warum – das schwedische System tatsächlich funktionierte. Die größtenteils auf Weidewirtschaft beruhende Agrarökonomie Schwedens und Finnlands ging mit einer dezentralisierten, auf viele kleine Einzelbauernhöfe verteilten Wirtschaftsweise einher, bei der viele Aufgaben von den Frauen übernommen werden konnten, wenn ihre Männer in den Krieg zogen. Es konnte deshalb ein wesentlich höherer Anteil der männlichen Bevölkerung zum Militärdienst verpflichtet werden, als dies in den Getreidewirtschaften Mittel- und Osteuropas möglich war, wo die Männer stattdessen zur Erntearbeit auf den Feldern ihrer Grundherren verpflichtet wurden.

      Der Griff nach der Macht Die tiefere Bedeutung der schwedischen Reformen nach 1617 liegt indes darin, dass sie bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts die internationale Stellung des Landes nachhaltig veränderten: Schweden wandelte sich von einer besiegten und erniedrigten Mittelmacht zu der Großmacht im Ostseeraum. Allerdings kann der Aufbau einer fiskalisch-militärischen Infrastruktur nur erklären, wie die Schweden ihren Machtbereich ausdehnten – aber nicht, weshalb sie das taten. Die letztere Frage ist eine berechtigte, gab es doch etliche Gründe, weshalb die schwedische Krone jeglichen Krieg hätte vermeiden sollen; immerhin liegt Schweden am Rand Europas und verfügte sein König nur über begrenzte Mittel und keine nennenswerten Verbündeten. Die Erklärungsansätze für den schwedischen Imperialismus lassen sich grob in zwei Lager einteilen.154 Deren „alte Schule“ wird vertreten durch Gustav Adolfs maßgebliche Biografen, nach deren Auffassung die schwedische Expansion nur einer Umzingelung durch Dänemark und Polen zuvorkommen sollte. Obwohl diese Autoren strukturelle Aspekte durchaus nicht vernachlässigen – so verweisen sie etwa auf die geografische Lage Schwedens oder das europäische Gleichgewicht der Kräfte –, liegt ihr Hauptaugenmerk auf dem Handeln „großer Männer“, sprich des Königs und seines engsten Beraterkreises. Nach 1600 sei klar gewesen, dass Sigismund fest entschlossen war, den schwedischen Thron zurückzuerobern; allein die mangelnde polnische Bereitschaft zu seiner Unterstützung habe ihn zurückgehalten. Die dynastische Spaltung innerhalb des Hauses Wasa sei durch den konfessionellen Gegensatz verstärkt worden, wobei die Schweden außerdem von jenem Nationalmythos inspiriert gewesen seien, der in ihnen die Nachfahren der Goten sah – und die hatten ja immerhin das Römische Reich bezwungen.

      Die „neue Schule“ betont im Gegensatz dazu den Unterschied zwischen (tatsächlichem) Handlungsmotiv und (geäußerter) Handlungsbegründung. Die „Selbstverteidigung“ Schwedens sei nur vorgeschoben gewesen, um wirtschaftliche Absichten zu kaschieren. Schweden habe den lukrativen Ostseehandel an sich reißen wollen und es dabei vor allem auf Getreide, Pelze und andere Handelsgüter aus Russland abgesehen. Im Jahr 1623 stammten gerade einmal 6,7 Prozent der schwedischen Nettoeinnahmen aus der Erhebung von Zöllen, was einerseits einen Mangel an Handelsaktivität im Inland offenbart, andererseits die Auswirkungen der dänischen Herrschaft am Sund deutlich werden lässt. Für gut 23 Prozent der Staatseinnahmen sorgte der Kupferexport, eine reine Rohstoffindustrie, während rund 45 Prozent der Einnahmen noch immer auf die Domänenwirtschaft entfielen. Eine solche Wirtschaftsstruktur ließ weder Großmachtstatus noch aristokratischen Prunk erhoffen. Wenn es nun aber, so die Vertreter der „neuen Schule“, Schweden gelungen wäre, die östliche Ostseeküste für sich zu gewinnen, dann hätte es die russischen und polnischen Handelswaren direkt an der Quelle erwerben und besteuern können – unter Umgehung der dänischen Zollstationen. Manche haben diesen Argumentationsstrang sogar noch schärfer gefasst und behauptet, die schwedische Krone habe absichtlich Kriege vom Zaun gebrochen, um sich selbst und ihre adligen Gefolgsleute zu bereichern. Zweifellos eröffnete die Teilnahme an einem Krieg neue Möglichkeiten – vor allem für den Adel, der sich in dieser Zeit zu einer reicheren und klarer abgegrenzten sozialen Gruppe entwickelte, als dies vorher der Fall gewesen war. 1633 erreichten die schwedischen Adligen für ihre Pächter eine Teilbefreiung von den seit 1620 eingeführten Steuern, wohingegen die Kronpächter noch immer den vollen Satz zu zahlen hatten. Auch die Wehrpflicht traf die Kronpächter und Freibauern härter als die abhängigen Bauern: Aus der ersten Kategorie wurde einer von zehn Männern eingezogen; bei der zweiten war es einer von zwanzig. Das bedeutete im Grunde eine Umverteilung landwirtschaftlicher Vermögenswerte in die Kornkammern und Geldbörsen des Adels, dem es die niedrigere Belastung durch den Staat nämlich ermöglichte, einen größeren Anteil von der Ernte der ihm unterstellten Bauern einzuziehen. Er profitierte aber auch auf direktere Weise vom Krieg, weil der König gezwungen war, anstelle von Geldzahlungen Kronrechte an die Adligen abzutreten, etwa so, wie es seit den 1590er-Jahren auch zwischen der spanischen Krone und den Adligen in Kastilien geschehen war.

      Im Grunde hat die „neue Schule“ natürlich recht: Man sollte durchaus zwischen Handlungsbegründungen und den tatsächlich zugrunde liegenden Motiven unterscheiden. Alles in allem kann ihre Interpretation aber nicht überzeugen. Schließlich war das Anhäufen von Reichtümern selbst für den schwedischen Adel kein Selbstzweck, sondern diente dem Erreichen diverser anderer Ziele. In der letzten Zeit hat man den schwedischen Imperialismus dadurch zu erklären gesucht, dass man auf ein Geltungsbedürfnis der schwedischen Elite hinwies, die sich auf dem internationalen Parkett habe beweisen wollen, zu ihrem eigenen Vorteil und dem ihres Königreichs.155 Ein solches Geltungsbedürfnis empfanden tatsächlich sämtliche europäischen Monarchen und Aristokraten, aber es ist wenig ersichtlich, warum ausgerechnet dieses Motiv über andere (konfessionelle, dynastische oder strategische) Interessen hätte gestellt werden sollen. Stattdessen handelte es sich dabei wohl eher um eine Facette eines wesentlich komplexeren Bündels von Motiven, deren Gewichtung sich je nach Situation