Urban Fantasy: going intersectional. Группа авторов

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Название Urban Fantasy: going intersectional
Автор произведения Группа авторов
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783947720644



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die Magie sich selbst von einem Ding zum nächsten tragen. Du wärst niemals selbst auf die Idee gekommen. Aber Inaya und Amal haben sich zusammengetan, dir eine Anleitung geschickt, Schritt für Schritt, sogar ein Video mit den richtigen Handbewegungen war dabei. Du rufst es noch einmal in der WitchCraft-App auf deinem Handy auf, lächelst kurz, als du ihre ermutigenden Worte hörst. Du sprichst die englischen Formeln nach, der Magie ist die Sprache egal, haben sie dir versichert. Dann vollführst du die Gesten, wartest, was passiert. Fragst dich, was der Zauber dich kosten wird.

      Das erste Aufleuchten ist so grell, dass du die Hände vor die Augen schlägst und vor Schmerz aufschreist. Du schimpfst laut, suchst in deiner Tasche nach deiner Sonnenbrille. Irgendwie hast du erwartet, dass magisches Licht anders ist, einen Weg findet, deine geschädigte Netzhaut zu umgehen. Aber es tut dir den Gefallen nicht. Früher hättest du das grellgrüne Leuchten vielleicht gemocht. Aber seit das Medikament, das es dir möglich macht, überhaupt hier zu stehen, deine Augen für immer geschädigt hat, ist alles Licht zu grell. Medizin unterscheidet sich für dich nicht besonders von Magie. Sie ist wie die böse Hexe in alten Sagen, die für alles, was sie dir gibt, einen Preis verlangt.

      Das grüne Licht stammt von einem winzigen Bilderrahmen, gerade so groß wie deine Handfläche. Im Inneren des Rahmens befindet sich hinter dem gesprungenen Glas kein Bild, sondern ein kreisrunder Aufkleber in grün-gelben, inzwischen verblassten Farben. Fast schneidest du dich in den Finger, als du ihn unter einem Trümmerstück hervorziehst.

      Du zeichnest das allsehende Auge in die Asche, sprichst die Worte, die dich das Innere sehen lassen, den Kern jedes Wesens, jedes Gegenstandes. Kurz fragst du dich, was dein wahres Wesen ist, jetzt, in diesem Moment. Tochter, vielleicht, aber bist du noch Tochter, wenn du keine Mutter mehr hast? Mutter, vielleicht, aber bist du eine Mutter, wenn du das Kind nicht selbst im Leib getragen hast? Kurz denkst du an das Adoptionsverfahren, die vielen Formulare, die du noch ausfüllen musst, um Mutter des Sohnes zu sein, den deine Frau geboren hat. Deine Frau, die du deine Frau nennst, obwohl sie das nicht sein darf. Kann das Innere eines Menschen überhaupt eingetragene Lebenspartnerin lauten? Ist das nicht ein viel zu sperriger Begriff?

      Du musst dich konzentrieren, verdammt. Einatmen, ausatmen. Es ist schon beinahe Mittag, und du stehst noch ganz am Anfang einer Kette aus Erinnerungen.

      Langsam senkt der Zauber deine Gedanken hinab in den gerahmten Aufkleber, es fühlt sich an wie ein vorsichtiges Abtauchen. Der Kern des Bildes ist eine Erinnerung an einen Supermarktbesuch, bunte Waren in scheinbar endlos vollen Regalen, fröhliche Menschen, ein kleiner Auflauf an Personen, die um einen hellblauen Trabbi stehen. Und die bräunliche, leicht stachelige Frucht, auf der einst der Aufkleber prangte. Kiwi, sagt eine lachende Männerstimme. Was das wohl ist? Sieht aus wie eine Art Kartoffel. - Egal, pack ein, erwidert die Stimme deiner Tante. Das Begrüßungsgeld wird schon reichen.

      Du fühlst dich auf einmal, als würde der Sprung im Bilderrahmen sich vergrößern, zu einem gähnenden Riss im Boden werden, der dich in sich hineinzieht. Es ist wie der alte Spruch mit dem Abgrund, der in dich zurückblickt. Nur müsste er hier wohl heißen, dass man keine Erinnerung erhält, ohne eine eigene preiszugeben. Aber es ist nicht eine einzelne Erinnerung, die in dir aufsteigt, es sind viele Fetzen von Erinnerungen. Manche sind leicht und hell, wie das Lachen deiner Frau, als ihr euch scherzhaft darüber streitet, ob ihr das Geschirr gerade auf- oder abwascht. Manche sind dumpf und dunkel, der Sachbearbeiter, der deinen Dialekt verspottet, die alte Frau, die im zufälligen Gespräch auf der Party fragt, ob deine Heimatstadt auch auf Kosten ihrer Steuergelder saniert wurde. Manche sind kaum greifbar, die vage Ahnung eines kratzigen Tuchs um deinen Hals, der Jubel einer Menschenmenge, der von fern durch das gekippte Fenster deines Kinderzimmers klingt.

      Seit du in der Schule gelernt hast, dass es das Land, in dem du geboren wurdest, nicht mehr gibt, seit du die Bilder aus jener Novembernacht kennst, fragst du dich, ob es Zufall war, dass deine Großmutter kurz darauf starb. Dass sie innerhalb von Wochen zu schrumpfen schien, weniger zu werden, bis sie mit dem ersten Schnee aus der Welt wehte.

      Die Welt läuft nicht einfach von allein, hat deine Mutter gesagt. Wütend war sie, am Tag, als du ausgezogen bist, am Tag, als du ihnen allen gesagt hast, dass du das Hexenwerk nicht weiter lernen willst. Du wusstest noch nicht, weshalb dir so viel Kraft fehlt, du wusstest nur, dass dein Herz zu schwer und deine Knochen zu weich waren. Die Welt braucht uns, hat sie gesagt, wir sind die einzigen, die sie verstehen. Die bis ins Innerste sehen können. Du hast das nie gewollt, ins Innerste der Welt zu sehen. Und jetzt sitzt du hier, die Hände voller Asche, in den Fingern einen Bilderrahmen mit einem Sprung. Das Innerste der Welt ist dir egal, aber das Innerste dieses Hauses musst du finden. Vor Mitternacht. Wie in einem verdammten Märchen.

      §§§

      Das grüne Leuchten um das Bild ist erloschen. Du schaust dich um, wartest auf das nächste Licht, aber es kommt nicht. Wut steigt in dir hoch, hilflose, unbeherrschte, sprachlose Wut, auf dich selbst, auf die Ascheberge, auf diese ganze absurde Situation. Du möchtest nicht hier sein. Möchtest das nicht tun müssen. Schon beginnen deine Hände zu zittern, während Tränen in deine Augen schießen und das Blut hinter deinen Schläfen pulsiert. Du kämpfst, einige gequälte Atemzüge lang, gegen die Wut. Du kannst sie dir nicht leisten. Aufregung macht alles schlimmer, lockt die Schmerzen in deine Gelenke, legt noch mehr Nebel in dein Gehirn. Du atmest tief, betont ruhig. Zählst von Zehn an rückwärts und als du bei Drei angekommen bist, leuchtet unter der Asche ein violettes Licht.

      Mit einem verkohlten Etwas in der Hand, das du zwischen Stein- und Holzstücken ausgegraben hast, zeichnest du erneut das Allsehende Auge. Du weißt nicht einmal, was du da eigentlich gefunden hast, es ist ein rechteckiges, flaches Ding, zur Unkenntlichkeit geschwärzt. Das Leuchten, ein dunkles, pulsierendes Violett, geht unverkennbar davon aus.

      Dieses Mal ist die Erinnerung kein sanftes Abtauchen, sondern scharf und unmittelbar. Kein Bild, kein Ton, nur ein Gefühl. Du weißt, dass der Gegenstand in deiner Hand die Zugehörigkeit zu etwas repräsentierte, vielleicht war es ein Mitgliedsausweis, ein Parteibuch, ein Abzeichen. In dem Moment, den du nachfühlst, fand sie ein Ende. Ein unschönes, schmerzliches Ende, selbstgewählt und voller Gefahren. Es gibt Dinge, denen man nicht den Rücken zudreht, ohne Konsequenzen zu erfahren. Das schwarzverbrannte Ding in deinen Fingern ist im tiefsten Inneren das Gefühl eines Moments, in dem sich alles verändert hat.

      Deine eigene Erinnerung ist ebenso unvermittelt. Das Behandlungszimmer, in dem du auf ein abstraktes Bild in fröhlichen Farben schaust, während die Worte deiner Ärztin an dir vorbeiziehen. Vielleicht ist es nicht wahr, wenn du nicht zuhörst? Vielleicht träumst du gerade? Das Sie werden mit dieser chronischen Erkrankung leben müssen trifft auf deinen Ohren auf und bohrt sich unnachgiebig in dein Bewusstsein. Die Frau, die damals deine neue Freundin war und heute die Mutter deines Sohnes ist, drückt deine Hand ganz fest.

      Du hast deine Mutter nie gefragt, ob sie dich gesund zaubern kann. Wir bestimmen nicht über Leben und Tod, hat sie immer gesagt. Wir beeinflussen nur manchmal, was die Menschen damit anfangen. Seit sie tot ist, fragst du dich, ob sie es doch versucht hat. Ob der schwere Verkehrsunfall, zwei Monate nach deiner Diagnose, eine Lüge war. Dir wird klar, dass du auf diese Frage keine Antwort mehr erhalten wirst, jetzt, wo auch deine Cousine fort ist. Du schiebst die Gedanken weg, zu den anderen Dingen, an die du jetzt nicht denken kannst.

      Nachdem das violette Leuchten vergangen ist, brauchst du eine Pause. Ein halber Liter Wasser, das Sandwich, das deine Frau dir belegt hat, drei Tabletten. Du kaust und schluckst, sitzend auf einem verkohlten Dachbalken. Betrachtest die Tabletten in deiner Hand. Legst zwei weitere nach. Du wirst für diesen Tag bezahlen, schon jetzt spürst du den nächsten Schub in deinen Fingerspitzen und Zehen. Deine Energie ist ein Konto mit hohem Dispositionszins, jede Überziehung zahlst du in Raten zurück, und deine stümperhaften Zauber kosten Kraft. Du spürst in dich hinein, fragst dich, ob es reichen wird. Dabei bist du Meisterin darin, deine Kraft einzuteilen, jeder deiner Tage ist sorgsam organisiert. Du führst Schlachtplanungen mit dir selbst, morgens, wenn du darauf wartest, dass die Beweglichkeit in deine Glieder zurückkehrt.

      Du schickst eine kurze Nachricht an deine Frau, mir geht es gut, schreibst du. Natürlich geht es dir nicht gut. Aber jede Beziehung kennt ihre eigene Geheimsprache, und mir geht es gut ist deine Art, ihr zu sagen, dass du es aus eigener Kraft nach