Heilsökonomik zu vollziehen ist, das stünde fest, auch wenn das Trauerspiel des Barock weniger deutlich auf Sturm und Drang, auf Romantik verwiese und weniger dringend, wenn auch wohl vergeblich, von neuesten dramatischen Versuchen die Rettung seines besten Teiles sich erhoffen würde. – Die fällige Konstruktion seines Gehaltes wird – das versteht sich – Ernst zu machen haben zumal mit jenen sprödesten Motiven, denen andere als stoffliche Feststellungen nicht scheinen abgewonnen werden zu können. Vor allem: welche Art Bewandtnis hat es mit jenen Greuel- und Marterszenen, in denen die barocken Dramen schwelgen? Der unbefangenen, unreflektierten Haltung der barocken Kunstkritik gemäß, fließen die Quellen einer unmittelbaren Antwort spärlich. Eine versteckte aber wertvolle: »Integrum humanum corpus symbolicam iconem ingredi non posse, partem tarnen corporis ei constituendae non esse ineptam.«
778 So heißt es in der Darstellung einer Kontroverse über die Normen der Emblematik. Nicht anders konnte der orthodoxe Emblematiker denken: der menschliche Körper durfte keine Ausnahme von dem Gebote machen, das das Organische zerschlagen hieß, um in seinen Scherben die wahre, die fixierte und schriftgemäße Bedeutung aufzulesen. Ja, wo konnte dieses Gesetz triumphierender dargestellt werden als am Menschen, der seine konventionelle, mit Bewußtsein staffierte Physis im Stich läßt, um an die vielfachen Regionen der Bedeutung sie auszuteilen. Nicht immer haben Emblematik und Heraldik dem ungehemmt nachgegeben. Vom Menschen heißt es in der schon genannten »Ars heraldica« nur: »Die Haar bedeuten die vielfältigen Gedancken«,
779 während »die Herolden« den Löwen regelrecht durchschneiden: »Das Haupt/ die Brust/ und das gantze vordere Theil bedeutet Großmüthigkeit und Dapfferkeit/ das hintere aber/ die Stärcke/ Grimm und Zorn/ so dem Brüllen folget.«
780 Solche emblematische Aufteilung diktiert – übertragen auf das Gebiet einer den Körper immerhin betreffenden Eigenschaft – Opitz das kostbare Wort von der »Handhabung der Keuschheit«,
781 die er der Judith abgelernt wissen will. Ähnlich Hallmann, wie er diese Tugend an der züchtigen Ägytha illustriert, deren »Geburts-Glied« noch viele Jahre nach ihrer Bestattung unverwest im Grabe gefunden worden sei.
782 Wenn das Martyrium den Körper des Lebendigen dergestalt emblematisch zurüstet, so ist doch daneben nicht unwichtig, daß der physische Schmerz schlechtweg als Aktionsmotiv jederzeit dem Dramatiker präsent war. Nicht nur der Dualismus des Cartesius ist barock; im höchsten Grade kommt als Konsequenz der Lehre von der psychophysischen Beeinflussung die Theorie von den Passionen in Betracht. Da nämlich der Geist an sich pure, sich selbst treue Vernunft ist und körperliche Influenzen ganz allein ihn mit der Außenwelt in Fühlung setzen, so lag die Qualgewalt, die er erleidet, als Basis heftiger Affekte näher als sogenannte tragische Konflikte. Wenn dann im Tode der Geist auf Geisterweise frei wird, so kommt auch nun der Körper erst zu seinem höchsten Recht. Denn von selbst versteht sich: die Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen. Und die Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehn. Nicht um der Unsterblichkeit willen, um der Leiche willen gehn sie zu Grunde. »Er lässt uns seine leichen | Zum pfände letzter gunst«,
783 sagt Carl Stuarts Tochter vom Vater, welcher seinerseits es nicht vergaß, um deren Einbalsamierung zu bitten. Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben. Nicht erst im Verlust von Gliedmaßen, nicht erst in den Veränderungen des alternden Körpers, in allen Prozessen der Ausscheidung und der Reinigung fällt Leichenhaftes Stück für Stück vom Körper ab. Und kein Zufall, daß gerade Nagel und Haare, die vom Lebenden weggeschnitten werden wie Totes, an der Leiche nachwachsen. Ein ›Memento mori‹ wacht in der Physis, der Mneme selber; das Toddurchdrungensein der mittelalterlichen und barocken Menschen wäre ganz undenkbar, wenn nichts als die Erwägung ihres Lebensendes sie beeindruckt hätte. Die Leichenpoesien eines Lohenstein sind ihrem Wesen nach nicht Manieriertheit, sowenig man sie auch darin verkennen wird. Merkwürdige Proben dieses lyrischen Themas begegnen schon unter Lohensteins frühesten Produkten. Noch auf der Schule hat er »das Leiden Christi mit lateinischen und deutschen Gegengedichten, nach den Gliedern des menschlichen Körpers geordnet«,
784 einem alten Schema folgend zu feiern gehabt. Denselben Typus zeigt der »Denck- und Danck-Altar«, den er seiner toten Mutter errichtete. Neun unnachsichtliche Strophen schildern die Leichenteile im Zustand der Fäulnis ab. Ähnlich aktuell muß dergleichen für Gryphius gewesen sein und gewiß haben neben naturwissenschaftlichen diese sonderbaren emblematischen Interessen sein Studium der Anatomie, dem er immer treu geblieben ist, bestimmt. Vorlagen der entsprechenden Beschreibungen fürs Drama fand man in Senecas »Hercules Ötäus« zumal, doch auch in »Phädra«, in den »Troades« und sonst. »In anatomischer Sektion werden, mit unverkennbarer Freude an der Grausamkeit, die einzelnen Körperteile aufgezählt.«
785 Bekanntlich ist Seneca auch sonst für die Greueldramatik eine hoch geachtete Autorität gewesen und es wäre der Mühe wert, zu untersuchen, wie weit den damals wirksamen Motiven seiner Dramen analoge Voraussetzungen zugrunde liegen. – Für das Trauerspiel des XVII. Jahrhunderts wird die Leiche oberstes emblematisches Requisit schlechthin. Beinahe undenkbar sind ohne sie die Apotheosen. »Mit blassen Leichen prangen«
786 sie und Sache des Tyrannen, das Trauerspiel damit zu versorgen. So führt der Abschluß des »Papinian«, der Spuren vom Einfluß des Bandenstückes auf den späten Gryphius zeigt, das Werk des Bassianus Caracalla an der Familie des Papinian vor Augen. Der Vater und zwei Söhne sind erlegt. »Beyde leichen werden auf zweyen trauerbetten von Papiniani dienern auf den Schauplatz getragen und einander gegenüber gestellet. Plautia redet nichts ferner, sondern gehet höchst-traurig von einer leiche zu der andern, küsset zuweilen die häupter und hände, bis sie zuletzt auf Papiniani leichnam ohnmächtig sincket und durch ihre statsjungfern den leichen nachgetragen wird.«
787 Am Schluß der Hallmannschen »Sophia« eröffnet sich nach der Vollstreckung sämtlicher Martyrien an der standhaften Christin und ihren Töchtern der innere Schauplatz, »in welchem die Todtenmahlzeit gezeiget wird/ nehmlich die drey Köpfe der Kinder mit drey Gläsern Blut«.
788 Die ›Todtenmahlzeit‹ stand in hohem Ansehn. Bei Gryphius wird sie noch nicht dargestellt, vielmehr berichtet. »Fürst Meurab, blind von hass, getrotzt durch so viel leiden, | Ließ der entleibten schaar die bleichen köpff abschneiden, | Und als der häupter reyh, die ihn so hoch verletzt, | Zu einem schaugericht auf seinen tisch gesetzt,| Nam er, schier außer sich, den dargereichten becher | Und schrie: diß ist der kelch, den ich, der meinen rächer, | Nu nicht mehr sclav, erwisch!«
789 Später erschienen dann solche Mahlzeiten auf der Bühne; dabei verfuhr man nach einem italienischen Trick, den Harsdörffer und Birken empfehlen. Durch ein Loch in der Platte eines Tischs, dessen Decke bis zum Boden herniederhing, erschien das Haupt eines Schauspielers. Gelegentlich gibt es diese Schaustellungen des entseelten Körpers auch zu Anfang des Trauerspiels. Die einleitende Bühnenanweisung der »Catharina von Georgien«
790 gehört ebenso hierher wie Hallmanns kuriose Szenerie im ersten Akte des »Heraclius«: »Ein grosses Feld/ erfüllet mit sehr vielen Leichen des geschlagenen Krieges-Heeres des Keisers Mauritii nebst etlichen aus dem benachbarten Gebirge entspringenden Wässerbächlein.«
791
Es ist kein antiquarisches Interesse, welches befiehlt, den Spuren nachzugehen, die deutlicher von dieser Stelle aus als irgend sonst ins Mittelalter zurückführen. Denn die Erkenntnis des christlichen Ursprungs der allegorischen Anschauung in seiner Bedeutung für das Barock kann nicht überschätzt werden. Und von wie vielen, wie verschiedenen Geistern auch geprägt, sind diese Spuren doch die Merkzeichen eines Weges, den da der Genius allegorischer Betrachtung selbst im Wandel seiner Intentionen einschlug. Oft haben die Dichter des XVII. Jahrhunderts dieser Spur sich rückblickend versichert. Für den »Leidenden Christus« hat Harsdörffer seinen Schüler Klai auf die Passionsdichtung des Gregor von Nazianz hingewiesen15. Auch Gryphius hat »beinahe zwanzig frühmittelalterliche Hymnen … in seine für diesen feierlich brausenden Stil wohl geeignete Sprache übersetzt; den größten aller Hymniker, den Prudentius, liebt er besonders«.792 Dreifach ist zwischen der barocken und mittelalterlichen Christlichkeit die sachliche Verwandtschaft. Der Kampf gegen die Heidengötter, der Triumph der Allegorie, das Martyrium der Leiblichkeit gilt ihnen gleichermaßen notwendig. Diese Motive hängen aufs engste zusammen. Sie sind – wie sich ergibt – unter dem religionsgeschichtlichen Aspekt ein und dasselbe. Und zu erhellen ist der Ursprung der Allegorie nur unter ihm. Spielt die Auflösung des antiken Pantheons in diesem Ursprung eine entscheidende Rolle, so ist höchst aufschlußreich, daß dessen Repristination im Humanismus das XVII. Jahrhundert zum Protest auffordert. Rist, Moscherosch, Zesen, Harsdörffer, Birken eifern gegen das