Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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darunter ein spitz zulaufendes Gesicht. In der Badehose: Da ist jede Rippe zu zählen, und das Jämmerlichste an ihm sind die Beine, mit denen er zu seinem größten Leidwesen nie lernte, auch nur einigermaßen Fußball zu spielen. Er war allzeit mit erfreulichem Appetit gesegnet und machte außer dem Üblichen, Masern und Ziegenpeter und Keuchhusten, keine Krankheit durch. In seiner Familie hatte man sich auf diese Formel geeinigt: Das ist nun mal so ’ne zähe Rasse. Sein Vater war Kaufmann und hatte eine Eisenwarenhandlung gepachtet, dort half die Mutter mit. Der Knabe Erich unterstand ihnen und den Großelternpaaren, Gaswerksdirektor und Oberlehrer mit ihren Frauen, er zog, kam er nach Hause, die Schuhe aus, da das Dienstmädchen es so anordnete, und erkannte wenigstens damals noch die Autorität seiner ein Jahr älteren Schwester an, die ein Mustermädchen war und die besten aller denkbaren Zensuren nach Hause brachte. In dieser Familie gab es nie die Spur von Not und erst recht nicht auch nur einen Anflug von Verschwendung. Es wurde solid gearbeitet und sparsam gewirtschaftet, der Pfennig galt und die Minute auch, und aus allen diesen Gründen fiel es dem Sohn leicht, sich nun auch noch dem Jungenschaftsführer und dem Jungzugführer zu fügen. Leidlich gern ging er zum Dienst und noch lieber wieder nach Hause, wo er las und mit seinen Elastolinsoldaten spielte; er besaß an die zweihundert, Deutsche meist, auch Franzosen und Engländer, dazu Geschütze, Autos, Schützengräben und Bunker. Sein Stolz war ein sieben Zentimeter großes Hitlerchen, das den Arm strecken konnte; zwei Jahre vorher hatten er und ein Freund einen sieben Zentimeter messenden Hindenburg in einem schwarzen Karton im Garten vergraben. Mit diesen Armeechen schlug er die Schlachten des Ersten Weltkriegs, der damals noch schlicht Weltkrieg hieß, noch einmal, und wenn er mit seinem Vater am Sonntagmorgen spazieren ging, ließ er sich von der Somme erzählen; Vater war verschüttet gewesen und hatte Fleckfieber überstanden, aus verworrenen Gründen war er beim Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschland mit seinem Schreibstubenkameraden Carl von Ossietzky, dem späteren Nobelpreisträger, in einen Soldatenrat gewählt worden und hatte geholfen, den Rücktransport seiner Kompanie zu organisieren. Aber das war die einzige halblinke Episode, der Vater war bürgerlich gesonnen wie alle in der Familie, die demokratisch gewählt hatten während der ersten zehn Jahre der Weimarer Republik und für Hitler ab 1931, »denn so konnte es nicht weitergehen«.

      Ein Vierteljahr nach seinem Eintritt ins Jungvolk legte L. die Pimpfenprobe ab. Er packte einen Tornister und half beim Aufbau eines Zwölferzeltes und spulte allerlei bräunliches Wissen ab, den Lebenslauf des Führers und die Schwertworte der Hitlerjugend, in denen es hallte, Hitlerjungen seien hart, schweigsam und treu, und des Hitlerjungen höchstes sei die Ehre. Hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde sollten Hitlerjungen sein, und da er gemäßigten Willen mitbrachte, so zu werden, und alle Strophen der von seinem Reichsjugendführer gedichteten Hitlerjugendhymne aufsagen konnte – »und die Fahne führt uns in die Ewigkeit, denn die Fahne ist mehr als der Tod« –, durfte er künftig das Fahrtenmesser tragen, das eine Blutrinne aufwies und die geätzten Worte »Blut und Ehre«. Dann kehrte er zu seinen Büchern und Spielsoldaten und zu seinem Atlas zurück. Drei Tage später meldete er sich wieder zum Dienst, nur hin und wieder drückte er sich vor Wochenendfahrten, bei denen gezeltet oder in einer Scheune kampiert wurde, wo er sich nicht richtig waschen konnte, wo Erbsensuppe aus einem Bottich geschöpft wurde und er den heimischen Sonntagskarpfen oder das Schnitzel verpaßte. Herzlich gern verzichtete er auf die Teilnahme am Sommerlager – zwei Wochen auf Stroh; einmal schwemmte ein Wolkenbruch das Lager fort – und fuhr statt dessen mit Großeltern und Schwester bravbürgerlich an die Ostsee.

      Der Chronist, ein Mittfünfziger, lauscht, äugt, tastet zurück, um dieses Bürschleins habhaft zu werden, das in seiner Erinnerung hochschnellt, sächsisch spricht, marschiert, sich ängstigt, hofft. Dem Chronisten helfen Gespräche mit seiner Frau Annelies auf, die am Rand Mittweidas aufwuchs. Begriffe werden aus zwei Gedächtnissen gegraben: Kletterweste, ein Stück der BdM-Uniform, die womöglich nicht Uniform hieß, sondern Kluft. Der Chronist könnte in seiner vertrauten Bibliothek nachschlagen, der Deutschen Bücherei in Leipzig, aber was bedeuten schon Begriffe, wenn sie nur noch auf dem Papier stehen und in keinem Gedächtnis mehr Sinn haben oder Unfug treiben? Heilkräutersammlung. WHW-Sammlung. Gab es einen Uniformschuh der HJ? Das Jungvolk besaß Fähnleinfahnen, der BdM nur Wimpel. Weil Mädchen zu schwach waren, Fahnen zu schleppen? Immer wieder redete der Chronist mit seinen Uralt-Schulkameraden, dem Journalisten Carl Andrießen und dem Romanisten Manfred Naumann, über die Schule damals, über Mittweida vor der Nazizeit und bis zum Krieg und im Krieg; diese drei belästigten ihre Umgebung, die nichts mit Mittweida zu tun hatte, und forderten Spott heraus: Mittweida sei wohl der Nabel der Welt? Für diese drei war Mittweida die Nabelschnur, die sie mit der Welt verband, ehe sie sich nach Leipzig davonmachten und zwei von ihnen später weiter nach Berlin. Der Chronist besitzt kein Gedächtnisvehikel wie Oskar Matzerath in der »Blechtrommel« des Günter Grass, mit dem er sich die Vergangenheit aus weiter Ferne aus dem Brunnen der Vergangenheit herauftrommeln könnte. Sein bißchen Gehirn befragte er, nutzt die Erinnerung der Schwester, der Schwägerin, auch die Chronik des Arztes Dr. Sauer. Und das Familienalbum. Oskar Matzerath stellt die umfassende Frage: Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Familienalbums?

      Schwarzledern, einen halben Meter lang, zehn Zentimeter dick prunkt es heute zwischen Zinn. Auf der ersten Seite: »Landsmannschaft PLATTONIA i/​e Ehrenmitgliede A. Loest in Dankbarkeit gewidmet. Mittweida, Weihnachten 1906.« Was heißt i/​e? Das Fremdwörterbuch behauptet: id est, zu deutsch: das ist, das heißt. Das gäbe wenig Sinn. Immerhin, man zeigte Drang zur Bildung. Gesichter über Gesichter, Studenten des Technikums Mittweida mit Schärpen und Mützen und Kordeln, mit Säbeln und Trinkhorn, Gasfachleute später, unter ihnen immer Albert L., der Großvater, der wohl schon mit zwanzig vollbärtig und vollglatzig war. Martha, seine Frau, nach eigener jahrzehntelang wiederholter Aussage einst das schönste Mädchen aus der Weberstraße, Rück- und Seitenblicke auf das Pommersche Dorf, aus dem Albert L. aufs Mittweidaer Technikum gekommen war, der Aufbau der Gasanstalt – so blättert sich’s hin bis zum Ersten Weltkrieg, da erweist sich der Sohn der Martha und des Albert, Alfred, schon beinahe als kriegsflügge. Samtigbräunlich ist der Ton der Bilder, hasenhaft und nicht nackt schwarzweiß wie später und schon gar nicht rotgrün- gelbschreiend wie die Fotos, die die Westverwandtschaft letzten Sommer in Italien schoß. Da war Vorbereitung, Sammlung nötig zu jedem Konterfei, die Familie kleidete sich feiertäglich und pilgerte zum Atelier und postierte sich vor phantastischem Hintergrund, reckte Hälse und Brüste – klack, das war’s dann für die nächsten fünf Jahre. Gruppen, die Hochzeit feiern – welche Seitenlinie? Zwanzig Vorzeitgenossen an Bord eines Schiffes –, wanderten sie nach Amerika aus oder amüsierten sie sich bei anderthalbstündiger Hafenrundfahrt in Stettin? Keine Aufregungen, klack, keine Krankheiten, klack, keine Gräber, klack, Hochzeiten und Kindtaufen, keiner fotografierte Alfred im Gasgranatenbeschuß an der Somme. Als der Krieg begann, hätte Gaswerksdirektor Albert eine Briefmarkensammlung für etliche tausend Reichsmark kaufen können, aber er zeichnete Kriegsanleihe. Hätte er Thurn und Taxis, Bergedorf und die berühmte Sachsen Eins der Finanzierung des U-Boot-Baus vorgezogen, wäre der Chronist längst Millionär. Schon taucht im Familienalbum das freundliche Klärchen an Alfreds Seite auf, die Lehrerstochter, die keinen Zentner wog, aufgezogen worden war mit Kenntnissen im Kochen, Sticken, Klavierspielen und sogar Klöppeln, die ihren Alfred heiratete im Inflationsjahr 1923 und zwei Jahre später Mutter der Käthe und ein Jahr darauf des Erich wurde, und dann mischt sich dieses Bürschlein ins Gruppenbild, der Stammhalter, ostisch rundköpfig, krummbeinig, mit magerem Po auf dem Schaffell und windelpraller Hose an der Hand seiner Schwester, einszweidrei im Sauseschritt, da hält er schon die Zuckertüte. Ein Germane war er keineswegs; die Loests aus Pommern waren blond und blauäugig, aber Martha, das schönste Mädchen aus der Weberstraße, hatte massenhaft Pigmente in die Erbmasse eingestreut. Alle Rippen der Sonne und der Vogtländerkamera darbietend hockt der vorerst Letzte seines Namens auf einem Steg an der Kriebsteintalsperre. Zehn Jahre alt ist er inzwischen, klappen wir das Album einstweilen zu.

      In diesem Jahr 1936 erlebte Berlin die Olympischen Spiele. Die Arbeitslosigkeit war beseitigt, in Mittweida unter anderem dadurch, daß die Firma Wächtler & Lange Millionen Blechabzeichen für braune Feste und Kampagnen stanzte. In Spinnereien, Steinbrüchen und Maschinenfabriken war wieder jeder Arbeitsplatz besetzt, in Alfred Loests Eisenwarengeschäft stieg der Umsatz. Fremde strömten nach Mittweida, denn die Kriebsteintalsperre staute seit kurzem ihr Wasser bis vor die Tore der Stadt, Zufahrtsstraßen und