Das Honecker-Attentat und andere Storys. Dieter Bub

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Название Das Honecker-Attentat und andere Storys
Автор произведения Dieter Bub
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954622115



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fernen Leben, von seiner Zeit im Westen, den 23 Jahren zwischen Abkehr und Rückkehr, von der gemütlichen fränkischen Kleinstadt Schwabach und seinen ersten Reportagen für die Zeitung, von seinem Wechsel in die Bischofsstadt Limburg an der Lahn, nach Hannover, Hamburg, Berlin, von seinen gescheiterten Ehen, von der Bindungsunfähigkeit, die er bei sich vermutet, von den Fluchten.

      „Und dann kommst du ausgerechnet zu mir?“, fragt ihn Brigitte B.

      „Es sollte wohl so sein“, antwortet er.

      „Du wirst nicht bleiben. Du kannst nicht bleiben“, sagt sie.

      Er weiß, sie würde ihn gehen lassen.

      Müller erzählt, von anderen nach seiner Biografie gefragt, Geschichten, die den Bewohnern in diesem Land zwar aus dem Fernsehen bekannt sind, die ihnen dennoch unglaublich erscheinen, die sie nun aber von einem hören, der dabei gewesen ist: bei den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, gegen den Schah-Besuch, gegen die Berichterstattung der Springer-Presse, gegen die Haftbedingungen der Mitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe, von einem, der die Straßenschlachten in Westberlin, die Proteste gegen die Atommülldeponie in Gorleben im Wendland und gegen den Bau von Brockdorf miterlebt hat.

      Manches Mal ertappt er sich zu spät dabei, dass er seine Zuhörer verletzt, ein Angeber, erzählt er von Taucherlebnissen auf den Malediven oder im mexikanischen Cozumel, von den Straßenküchen und den schwimmenden Märkten in Bangkok, von den Fremdenführern in Kairo, Reisen nach Bali, Hongkong, Peru. Ihnen ist alles verwehrt, selbst die nahe gelegenen Ziele: Dänemark, Schweden, Italien, die Schweiz, Österreich.

      Ein Ehepaar und ein Eindringling. Der Zerstörer einer Beziehung. Aber: Der Mann von Brigitte B. lässt sie gehen, gibt sie frei. Hier gehören sie einander weniger als drüben, weniger aneinandergebunden, verbunden. Vielleicht wird alles anders. Nur eine Laune. Eine Affäre, die von den Umständen beendet wird. Oder eine Chance. Er hat sich entschieden. Für eine andere – eine, die ihm gefällt. Das Abenteuer in der Krise. Im Land der Trennungen. Land der selbstbewussten Frauen. Unabhängig, von allem, nur nicht von Gefühlen. Das schmerzhafte Ende. Der Versuch des Neuen. Der andere Wolf B., ihr Mann, der verlassene Mann kennt Marlies, eine Begegnung in Ahrenshoop, ein Wiedersehen in Berlin.

      Er begehrt Marlies, er verlässt Brigitte B.

      Wiedersehen mit Halle

      In den Berichten, die Wilhelm in der Runde vorgelegt bekommt, wird gemeldet, Müller fahre auffällig häufig nach Halle. Fotos zeigten ihn an unterschiedlichsten Orten in der Stadt.

      „Gibt es irgendeine Erklärung?“, fragt Meyer.

      „Wir haben noch nichts herausgefunden.“

      „Sein Verhalten ist merkwürdig. Vergleichen wir seine Aufenthalte in Halle mit seinen Reisen nach Jena, Dresden oder Rostock, so hat das keinen Sinn“, wendet Dr. Otto ein.

      „Keine Adresse, kein Kontakt zu Oppositionellen, nichts.“

      „Wo hält er sich auf?“

      „Überall, in den Straßen rund um den Marktplatz, an der Saale, auf der Peißnitzinsel, im Zoo, in Reichardts Garten …“

      „Reichardts Garten?“

      „Ein Park, der nach einem Komponisten der Goethezeit benannt ist.“

      „Und nirgendwo eine Begegnung, ein Gespräch?“

      „Nein, er ist allein unterwegs, auch abends. Er geht immer wieder in die Oper, trinkt im Ratskeller Bier.“

      „Er sucht irgendetwas.“

      „Es muss eine Erklärung geben.“

      Rückkehr: Halle stinkt, die Luft giftig wie damals, verdreckte Kindheit vor fünfunddreißig Jahren, grau gefärbt von Abgasen. Das Plattenbauhotel zwischen Bahnhof und Bezirksleitung der SED, ein überheiztes Zimmer mit Ausblick auf die Straße nach Merseburg, auf der Rückseite die Hochstraße in die Massensiedlung von Neustadt.

      Nachmittags angekommen, allein. Müller fährt mit dem klapprigen Fahrstuhl ins Foyer, erwartet von einem Mann in Plastejacke hinter einer Zeitung, die er eilig zusammenfaltet, aufsteht, ihm folgt, bemerkt, dass die Zielperson nicht mit dem Wagen fahren wird, sondern sich zu Fuß zum Roten Turm und durch die Leipziger Straße zur Straßenbahnhaltestelle neben dem Händeldenkmal auf dem Marktplatz bewegt; eine attraktive Rothaarige zu Hilfe ruft, die nun, gemeinsam mit dem Hotelaufpasser, nur wenige Meter entfernt, die Zielperson beobachtet. Die Straßenbahn Richtung Giebichenstein. Sie steigen zu dritt ein. Müller vorn, beide Beobachter hinten. Müller springt im letzten Augenblick heraus. Die Türen schließen sich vor seinen Verfolgern, die nun ohne ihn davonfahren.

      Er winkt ihnen zu, eilt zur nächsten Haltestelle, nimmt die nächste Bahn. Unbewacht, ungestört verbringt er ein paar Stunden an der Saale, dem Fluss seiner Kindheit und Jugend. Glücklich wehmütig unterwegs in seinen Erinnerungen die Ausflüge zur Pionierrepublik auf der Peißnitzinsel, an die Küsse, das Mädchen, die erste große Liebe, Doris.

      Er riecht und sieht. Die Saale als stinkende Kloake, eine chemische Brühe, die grauschmutzige Schaumkronen trägt. Nein, sauber hat er den Fluss auch aus seiner Kindheit nicht in Erinnerung, aber roch er damals nicht noch nach Wasser, nicht dass er sauber gewesen, zum Baden eingeladen hätte aber war nicht etwas von seiner Ursprünglichkeit geblieben? Als er das Wehr erreicht, die gewaltige Wasserlandschaft seiner Träume, stauen sich die schmutzigen Flocken.

      Ohne Bewachung kehrt er in die Stadt zurück, findet er in der Nähe des Hallmarkts eine Imbissbude. Er bestellt Bockwurst mit Senf und Brötchen, dazu Kaffee, aufmerksam von fünf Arbeitern an einem Stehtisch beobachtet. Fremde sind hier die Ausnahme.

      „Hamse sich verlaufen?“, fragt einer.

      „Nee, ich hatte Hunger“, antwortet Müller. „Is doch jut hier.“

      „Der Kaffee, der ist Bohne hier“, sagt ein anderer.

      Sie haben den Fremden sofort als einen „von drüben“ erkannt, so als wäre ihm seine Herkunft auf die Stirn geschrieben.

      „Zu Besuch, was?“

      „Die Händelfestspiele“, erklärt Müller, erzählt ihnen dann doch, er sei eigentlich nach Hause zurückgekommen.

      Die Männer sind eine Gerüstbauerbrigade, die zur Mittagspause immer hierher kommen. „Und wie gefällt es Ihnen?“ fragen sie. „Haben Sie Halle wiedererkannt?“

      „Es hat sich wenig verändert“, antwortet Müller.

      „Klar, immer noch der alte Dreck.“

      „Hier passiert doch nischt, rein jar nischt.“

      „Ja, is vieles noch wie damals, in meiner Jugend.“

      „Mir versuchen, das Schlimmste zu verhindern, dass die Häuser nich zusammenkrachen.“

      „Weil alles nach Berlin geht“, sagt ein anderer.

      „Mir ham noch nich ma anständige Gerüste. Die könn’ jeden Tach einstürzen. Unn wir mit ihnen.“

      „Weil der Arweeter nischt wert is, rein jar nischt.“

      Sie reden sich in Rage.

      „Das isses doch, es bleibt nischt. Nach Ulbricht hammer jedacht, es wird’s besser. Jetzt is der Schlamassel nur noch größer jeworden. In Berlin wird’s Jeld verprasst unn für hier bleibt nischt übrig. Weeßte.“

      „Bei uns draußen im Dorf – die Straße besteht nur noch aus Schlaglöchern, keene Straßenbeleuchtung, da musste ’n Mond noch mit der Stange wegschieb’n. So isses.“

      „Mach’s jut. Grüß deine Leute.“

      Sie haben nur ein paar Schritte zu einem der grau verwohnten Häuser, gleich hinter dem Markt, in unmittelbarer Nähe neuer Plattenbauten, an Stelle verfallener Straßenzüge, die, unsanierbar, abgerissen werden mussten.

      Abends im Weinrestaurant,