Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



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trinken

      Und wie heftig wir schliefen

      (…)45

      In seinen Versen verwandeln die Dinge der Natur sich auf überraschende Weise. Da wird die „distel, das königszepter voller blattläuse“ und „im quaken der frösche / grünte die nacht“, oder nach einem lange versprochenen Aufbruch werden die „wolken, naßkalt wie gesprenkelte forellen, / schnellen über unsere köpfe. // Und wir geben diesem wind den namen Jaromír …“. Besorgnis um das Dasein, die Menschen eingeschlossen, macht die Aura der Verse dieses Dichters aus, egal ob sie von Heiterkeit oder von Melancholie getragen sind.

      Jan Skácel und Reiner Kunze verbindet lebenslang eine herzliche Freundschaft. In einem seiner langen Briefe schreibt der Brünner Freund: „Wirst Du wieder einmal zu uns kommen? Briefe sind ein zu dünnes eis, sie tragen nicht alles, womit man einen fluss überqueren möchte.“46

      Nach 1968 kann Jan Skácel seine Gedichte nur noch im Ausland oder im Samisdat veröffentlichen. Die tschechischen Kulturverhinderer erreichen ihr Ziel. Als er 1989 stirbt, ist er den jüngeren tschechoslowakischen Lesern nahezu unbekannt.

      1961 veröffentlicht Reiner Kunze im DDR-Verlag „Volk und Welt“ seinen ersten Band tschechischer und slowakischer Nachdichtungen unter dem Titel Der Wind mit Namen Jaromír nach einer Gedichtzeile Skácels. Dieser kleine Band verschafft ihm Hochachtung unter tschechoslowakischen Kollegen. Ihr Land ist ihm da längst zur Wahlheimat geworden. Durch Elisabeth und die Schriftstellerfreunde findet er nach dem Tiefpunkt Leipzig für sich einen neuen Sinn.

      Und er ist herzlich willkommen. Milan Kundera schreibt 1964 in den Literární noviny, Kunze sei der slawischste Deutsche, den er kenne. Welch ein Kompliment! Wann immer er die Möglichkeit erhält, fährt er auf Besuch:

      (…)

      In den nächten, da das visum abläuft

      mit dem ticken meiner uhr,

      brechen die alten wunden auf in mir, kreisen die

      gedanken, sich formierend

      für die rückkehr in die unbewältigte

      vergangenheit …

      (…)47

      Einmal bekommt er einen schweren Asthmaanfall in der schwerst belasteten Luft von Aussig. Er muss ins Krankenhaus, und die Ärzte verlängern den Aufenthalt mit einer mehrwöchigen Krankschreibung über das abgelaufene Visum hinaus. Er dankt ihnen auf seine Weise:

       ENTSCHULDIGUNG

      (den waschfrauen des bezirkskrankenhauses Aussig

      an der Elbe)

      Seit mir das chemische konglomerat über der stadt,

      physikalisch durchsetzt mit flugasche und

      lokomotivenruß

      und unlängst vom wochenblatt SEVER gereinigt

      geboten

      in dem begriff „luft“,

      schwarz in der lunge verblieb

      (nebst einem schock nebel über der Elbe),

      werde ich reichlich beschenkt

      mit der weisheit der ärzte, den mühen der

      schwestern,

      (…)

      Das bettuch mit den schlimmen tintenflecken im

      haufen der abgezogenen wäsche

      ist meines.48

      Reiner Kunze nutzt die Aufenthalte für Gespräche, für die Arbeit an Nachdichtungen und als freier Mitarbeiter für tschechoslowakische Literaturzeitschriften:

      Wir haben nie geschwätzt. Es ging immer um Literatur, um Übersetzungen, um die einzelnen Texte und um die Frage: Was machen wir? Wie können wir helfen? Es war eine solidarische Gemeinschaft. Und dann erschien „Iwan Denissowitsch“. Die ČSSR war das einzige Ostblockland, in dem dieses Buch von Solschenizyn veröffentlicht wurde. So habe ich es kennengelernt. Inzwischen ging es auch um das Politische. Was wir da alles besprochen haben, Nächte haben wir so verbracht. Manchmal haben wir auch einen Ausflug gemacht, mit Ludvík Kundera, oder wir haben bei ihm lange Abende in seinem Riesengarten gesessen, haben „Špekáčky“, das sind fette, dicke Würstchen, ins Feuer gehalten. Und immer ging es um Literatur oder um die politische Situation.

       Was wesentlich ist, und was oft nicht unterschieden wird: In der Opposition der Intellektuellen gab es eine große Gruppe und eine ganz winzige Gruppe. Die große Gruppe begehrte auf gegen den Parteikurs und gegen das Stalinistische, forderte Lockerungen. Da waren sicher auch viele darunter, die westliche Demokratie wollten, aber sie artikulierten es nicht. Wer wirklich ein demokratisches System mit Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, freie Wahlen, soziale Marktwirtschaft forderte, war die winzige Gruppe um Václav Havel und Rio Preisner.

      In der DDR habe ich nie differenziert zwischen dieser kleinen Gruppe und den anderen intellektuellen Empörern. Es hätte sie gefährden können.

      Eine große Ehre wird Reiner Kunze 1968 zuteil. Der Einmarsch der sowjetischen Besatzungstruppen steht direkt bevor, doch er wird in Prag mit dem Übersetzerpreis des tschechischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet: „Es war allein schon eine unwahrscheinliche Geschichte, dort hinzufahren. In dieser Situation den Preis zu bekommen, war eine beglückende Auszeichnung.“

      Kurz darauf wird der Verband aufgelöst, kritische Autoren und Intellektuelle emigrieren oder erhalten Berufsverbot und werden zum Teil als Hilfsarbeiter im Straßenbau oder in der Forstwirtschaft zwangsverpflichtet.

      Begonnen hatte alles in Aussig durch jene junge Frau namens Elisabeth. Doch das Hochzeitsversprechen, das das Paar sich gab, ist weit schwerer einzulösen, als sie dachten. Tschechoslowakische Staatsbürger, die einen Ausländer heiraten wollen, benötigen die Einwilligung des Innenministers. Und die scheint auch in ihrem Fall aussichtslos. Elisabeth Kunze erzählt:

       Wie oft bin ich nach Prag gefahren. Am Eingang des Ministeriums befand sich eine kleine Telefonzelle. Weiter durfte man nicht hinein. Von dort aus musste man anrufen und seinen Namen nennen. Dann kam die Antwort: „Nein, ist nicht erledigt.“

      Geholfen hat uns, dass mein Mann Nachdichtungen machte, die er in der DDR als kleines Bändchen herausbrachte. Dieses Büchlein hat er an den tschechischen Schriftstellerverband geschickt und gebeten, ob sie sich nicht dafür einsetzen könnten, dass wir heiraten dürfen.

      Zuvor hatte Reiner Kunze sich an die zuständigen Stellen der DDR, selbst an Ministerpräsident Otto Grotewohl gewandt. Erfolglos. Den glücklichen Ausgang ergänzt er so:

       Im tschechischen Schriftstellerverband witterte man einen Nachdichter tschechischer Poesie. Das Büchlein in der Hand intervenierten sie beim tschechischen Kulturminister und erklärten, dass unsere Heirat im nationalen Interesse liege. Eines Tages kam mit unscheinbarer Post die Heiratserlaubnis. So wurde meine Frau mein erster und kostbarster Literaturpreis. 49

      Im Sommer 1961 können Elisabeth und Reiner Kunze endlich in Aussig ihre Hochzeit feiern. Wie viel sie einander bedeuten, erzählen

      DIE GROSSEN SPAZIERGÄNGE:

      Die großen Spaziergänge, auf denen wir

      nicht ins leere greifen

      Immer geht die hand des anderen mit50

      Hier, spricht die Gewissheit, finden und verbinden zwei sich auf ein Leben. Dennoch müssen sie noch fast ein Jahr warten, bis Elisabeth Kunze die Ausreisegenehmigung in die DDR erhält.

      Bisher ist Elisabeths Tochter Marcela die meiste Zeit bei den Großeltern in Znaim aufgewachsen. Der Schichtdienst im Krankenhaus lässt keine andere Möglichkeit für ihr kleines Kind. Als Marcela auf die Welt kommt, ist ihre Mutter noch Studentin. Der Vater trennt sich vor der Geburt.