Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Название Jahrgang 1936 – weiblich
Автор произведения Barbara Schaeffer-Hegel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783826080616



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bedeckt waren. Aber ich kannte ja die Furt, kannte jeden Stein. Von so vielen Badetagen in vielen Badesommern her kannte ich den besten Übergang. Ich zögerte keinen Moment. Ich musste auf die andere Seite. Auf der anderen Seite war der Sportplatz. Und auf dem Sportplatz waren Fritz und die Mädchen! Ich musste hinüber. Auch wenn mir das Wasser bald bis zum Knie stand und dann weiter anstieg, mein Kleid und dann meine Unterhose erreichte, und ich der stärker werdenden Strömung des Flusses kaum standhalten konnte. Ich musste hinüber. Diesen Verrat konnte ich Fritz nicht durchgehen lassen. Und den beiden Ziegen aus Ingelfingen würde ich es zeigen! Ich stolperte. Die Steine waren glitschig und das schmutzig braune Wasser machte es unmöglich, sich einen flachen Stein als Tritt auszusuchen. Mit Händen und Füßen tastete ich nach Halt, versuchte verzweifelt, der Strömung zu widerstehen und mich über Wasser zu halten. Doch ich stürzte, fiel der Länge nach in den Fluss und konnte mich, klitschnass von Kopf bis Fuß, nur mit Mühe zurück an mein eigenes Ufer retten.

      Als ich mit nassen Haaren und triefendem Kleid den Wiesenweg entlang und dann das kleine Straßenstück bis zu unserem Haus zurückging, war mir, als würde ich Spießruten laufen, obwohl kein Mensch auf der Straße war. Zornestränen liefen mir übers Gesicht. Zornestränen über mich selbst! Ich glaubte, jeder Mensch müsse mir ansehen, welch ungeheuerliche Dummheit ich da vorgehabt hatte. Auf den Sportplatz rennen, Fritz zur Rede stellen, die beiden Mitschülerinnen beschimpfen! Wie konnte ich nur! Wie schrecklich hätte ich mich blamiert, wenn der Fluss mich nicht aufgehalten hätte! Die Scham drang mir bis ins Mark.

      Zuhause angekommen wechselte ich die Kleider und schloss mich im Kinderzimmer ein. Noch waren die anderen nicht von der Schule zurück. Ich holte ein sauberes Heft aus meinem Ranzen und schrieb mit meinem lecken Füllfederhalter, der nach jedem Gebrauch Tintenflecken auf Zeige- und Mittelfinger zurückließ, mit möglichst sauberen Buchstaben folgendes Gelöbnis in mein Heft:

      »Nie mehr werde ich Fritz ansehen. Ich werde mich zur Seite drehen, wenn er mich anschaut. Nie mehr werde ich im Religionsunterricht vor ihm sitzen und ich werde niemals mehr eine Radtour mit ihm machen. Ich werde nicht mehr mit ihm spielen. Ich werde so tun, als gäbe es Fritz Weidler nicht«.

      Es fiel mir unendlich schwer, mein Gelöbnis einzuhalten und Fritzens freundlichen Attacken zu widerstehen. Fritz suchte bei jeder Gelegenheit Blickkontakt, versuchte, mir kleine Geschenke und Bücher aus den Beständen seiner Tante zuzustecken, und bei dem täglichen Klassenraumwechsel boxte er mich liebevoll. Obwohl es mir das Herz zerriss, blieb ich standhaft. Ich sah ihn nicht, redete nicht mit ihm, ich ließ mich auf nichts ein. Ein ganzes Jahr lang bestrafte ich mich und hielt durch. Dann musste ich Künzelsau verlassen und zum Vater nach Stuttgart ziehen. Und sah Fritz nur noch selten. Gelegentlich an den Wochenenden. Erst jetzt sprach ich wieder mit ihm und in den großen Ferien nach meinem Auszug aus Künzelsau verabredete ich mich mit ihm zu einem Fahrradausflug.

      Noch nie zuvor hatten wir einen Fahrradausflug zu zweit gemacht. Zum ersten Mal nur wir beide. Fritz und ich. So viel ich erinnere, wollten wir die Stuppacher Maria von Matthias Grünewald besuchen, die etwa 20 km von Künzelsau entfernt in einer kleinen Kapelle zu Hause war. Aber wir kamen nicht bis zur Kapelle. Auf halbem Weg packten wir in einer Waldlichtung nahe an der Straße unsere mitgebrachten Wurst- und Käsebrote aus, zogen die Cola- und für Fritz eine Bierflasche aus dem Rucksack und lagerten uns zum Picknick. Das Picknick artete jedoch in eine wilde Rauferei aus, da Fritz versuchte, mich zu küssen und ich mich mit der ganzen Entschlusskraft meiner 14 Jahre dagegen wehrte. Meine Freundin Hanne und ich, wir hatten doch geschworen, uns erst von dem Manne küssen zu lassen, den wir auch heiraten würden. Und ob ich Fritz heiraten wollte, darüber war ich mir noch nicht im Klaren. Aber der Abwehrkampf fiel mir schwer. Zum ersten Mal spürte ich die Kraft sexuellen Begehrens meinen ganzen Körper wie einen Rausch durchfluten und durfte ihm doch nicht nachgeben.

      Ob wir die Stuppacher Madonna bei diesem Ausflug dann doch noch irgendwie erreicht haben, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass sich in der darauffolgenden Nacht wilde Albträume und traumatische Schuldgefühle wie Felsbrocken auf meine Brust legten. Mich nicht schlafen ließen und mich noch in den Tag hinein verfolgten. Trotzdem zog ich Ende Juli mit Fritz und Uli, dem jüngeren Bruder von Fritzens Freund Klaus, und mit meinem Bruder Jochen auf hochgepackten Fahrrädern und ausgerüstet mit Schlafsäcken und Zelt, mit Kochgeschirr und Gaskocher zu viert in die Schweiz. Die Reise war wunderschön. Erotisch aufgeladen, aber ungefährlich. Im Zelt schlief ich außen neben meinem kleinen Bruder und die gemeinsamen Unternehmungen, Zeltplätze aussuchen, Zelt aufbauen, irgendetwas Essbares für uns vier in dem großen Kochtopf zusammenbrauen, in fremden Seen baden, in Sandalen auf hohe Berge zu steigen – den Pilatus zum Beispiel und die „Jungfrau“ –, all das gehörte zum zauberhaften Schlussakt meiner Kindheit.

      Denn unsere Reise endete auf dem „Tonacker“. Onkel Gusti und Tante Liseli, denen der Tonacker gehörte, hatten nach dem Krieg mehrmals unterernährte Kinder aus verschiedenen europäischen Ländern aufgenommen und auf ihrem Bauernhof hochgepäppelt. Durch die Vermittlung einer Freundin meiner inzwischen verstorbenen Tante Gertrud war ich 1949, als zwölfjähriges an chronischer Bronchitis leidendes Kind auf den Tonacker gekommen. Und hatte mich dort drei herrliche Monate lang verwöhnen lassen. Mit gutem Essen, mit nicht entrahmter Frischmilch direkt aus dem Stall, mit Bergen von Schokolade, die es in Deutschland noch nicht gab und die mir von allen Tanten und Onkeln und Freundinnen, die auf den Tonacker zu Besuch kamen, so reichlich zugesteckt wurden, dass ich Vorräte davon aufsparen und mit nach Hause bringen konnte. Verwöhnt worden war ich aber nicht nur mit Nahrhaftem, sondern auch mit Zuwendung und Liebe. Denn nicht nur Tante Liseli und Onkel Gusti, auch die im Altenteil auf dem Hof lebenden Großeltern und Erna, die Magd, waren so liebevoll und freundlich zu mir gewesen, dass ich niemals Heimweh bekam. Und jetzt den Wunsch hatte, meine Pflegeeltern von damals wieder zu besuchen.

      Mit Jochen u. Fritz am Bodensee,1953.

      Nach einem Tag Pause auf dem „Tonacker“ fuhren Fritz und Uli nach Deutschland zurück. Ich blieb mit meinem Bruder für eine weitere Woche zu Gast auf dem Tonacker. Onkel Gusti und Tante Liseli hatten zu dieser Zeit einen Knecht aus Deutschland eingestellt, Dieter, dessen Vater Altphilologe und Rektor des Herrenberger Gymnasiums war, der aber selbst Bauer werden wollte. Dieter war ein aufgeweckter junger Mann, mittelgroß und mit sonnengebräunten Armen, fröhlichen braunen Augen und leichtgelocktem Haar, das seinen runden Kopf wie eine braune Kappe umschloss. Dieter fand offenbar Gefallen an mir. Ich half ihm im Stall, fuhr neben ihm auf dem Kutschbock und bei Tisch lachten und scherzten wir beide auf Schwäbisch, unserer gemeinsamen Muttersprache. Eines Nachmittags versuchte Dieter mich am Ausgang der Scheune von hinten mit seinen kräftigen Armen zu fassen und zu küssen. Ich entwand mich ihm schnell; aber der kurze Moment, in dem er mich im Arm gehalten und an sich gezogen hatte, ließ mich brennen. Dieter war ein gestandener Mann. Seine Wärme ergriff meine Seele. Ich verliebte mich in Dieter.

      Am Sonntag lud mich Dieter zu meinem allerersten Rendezvous ein, zu einer Kahnfahrt auf dem nahe gelegenen Zürchersee und anschließend zu Eis und Kuchen im Terrassencafé über dem Wasser. Unsere Unterhaltung verlief anfangs etwas stockend, dann aber sprachen wir über meine Radtour, über meine albernen Klassenkameradinnen in Stuttgart und über das Leben in der Stadt. Und Dieter erklärte mir, warum er Bauer werden wolle. Wir sprachen über alles, was es zwischen einem erwachsenen Mann und einem 15jährigen Mädchen zu sprechen gab. Einem jungen Mädchen, das dem jungen Mann gefiel, das aber offensichtlich völlig unerfahren und als „Pflegetochter“ des Chefs ohnehin tabu war. Dieter machte keinen weiteren Versuch, mich zu berühren, aber das war auch nicht nötig. Sobald ich mir darüber klar geworden war, dass ich diesen jungen Mann liebte, der mir jetzt ganz ohne Stallgeruch, glattrasiert und in frisch gestärktem Sonntagshemd gegenübersaß, hatte ich in meinem Jungmädchenherzen beschlossen, ihn, wenn ich älter wäre, zu heiraten und mit ihm einen Bauernhof zu betreiben. Ich war mir meiner Sache so sicher, dass ich es nicht für nötig hielt, jetzt mit ihm darüber zu sprechen. In drei Jahren, wenn ich mit der Schule fertig wäre, würde ich wiederkommen. Dass ich seinetwegen ein Jahr später nach Amerika fahren würde, ahnte ich nicht.

      3Johann