Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Название Jahrgang 1936 – weiblich
Автор произведения Barbara Schaeffer-Hegel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783826080616



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Rand. Offenbar das Abzeichen eines Ordens, dem sie angehörte, oder dem sie einmal angehört hatte. Schwester Paula war während des Krieges in der christlichen Mission in Afrika tätig gewesen und konnte stundenlang von armen, verhungerten Negerkindern erzählen, deren Augen strahlten, wenn sie ihnen von Jesus und seiner Liebe zu den Menschen sprach, und die sie aus den Fängen eines barbarischen Irrglaubens hatte retten können. Schwester Paula war die zuständige Gemeindeschwester, bei der ich zu Jungschar und Bibelstunde ging, und die immer größeren Einfluss auf mein Leben gewann. Sie hatte mich zu einer gläubigen Christin gemacht, und hieß mich zum Beispiel für das Seelenheil meines Onkels beten, der aus der Kirche ausgetreten war. Und später Danksagungen gen Himmel schicken, als meine Gebete erhört wurden und der Onkel wieder in die Kirche eintrat. Erst sehr viel später fiel bei mir der Groschen und ich erkannte, dass der Onkel sowohl den Austritt als auch den Wiedereintritt in die Kirche dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend und seiner Karriere zuliebe vorgenommen hatte.

      Schwester Paula lehrte mich beten und an Wunder glauben. Als ich ein verlorenes Silberarmbändchen nach intensiven Stoßgebeten zum lieben Heiland in einem der Nachbarsgärten zwischen den Kieselsteinen wiederfand, war das ein Wunder, das mir Gott hatte zuteilwerden lassen. Regelmäßig spendete ich die Hälfte meines Taschengeldes für die Mission in Afrika und übergab Schwester Paula den gesamten Geldbetrag, den ich am Samstag vor dem Muttertag als dreizehnjährige durch den Verkauf von selbst gepflückten Blumen erwirtschaftet hatte. Nach meiner Konfirmation begann ich als Kinderkirchenlehrerin die kleineren Jungen in biblischer Geschichte zu unterrichten.

      Später kamen abendliche Treffen mit Schwester Paula hinzu. Sie waren irgendwie gruselig, aber doch so voller traumseliger Nähe und überirdischer Ahnung, dass ich wie süchtig auf die wöchentlichen Sitzungen wartete. Eine kleine Gruppe ausgewählter junger Mädchen versammelte sich im hoch über der Stadt gelegenen Kirchturmzimmer. Wenn es dämmerig wurde lasen wir bei Kerzenschein, denn es gab im Turmstübchen kein elektrisches Licht. Meiner Erinnerung nach lasen wir hauptsächlich in der Offenbarung des Johannes. Ich erzitterte vor den Visionen des Jüngsten Gerichts, widersetzte mich mit den anderen Mädchen dem Antichristen und war fest davon überzeugt, dass das Ende der Welt nahe bevorstand. Schwester Paula betete und sang mit uns, erklärte uns die Gesichter des prophetischen Apostels, und wenn wir uns dann an den Händen hielten und gemeinsam das Vaterunser gebetet hatten, sagte sie uns die Formel vor, mit der wir vereint dem Satan abschworen. Wie im Rausch ging ich nachhause. Lobte Gott ewige Treue und verspürte beißende Reue darüber, dass ich den Segensspruch, der meinem Freund Fritz bei der Konfirmation zugeteilt worden war, schneller auswendig kannte als meinen eigenen.

      Bis die Sache mit dem Stadtpfarrer passierte.

      Es war in der fünften Oberschulklasse. Ich war ein Jahr vorher konfirmiert worden und unterrichtete seither Sonntag für Sonntag in der Kinderkirche. Ein vorübergehend nach Künzelsau abgeordneter Vikar hatte unsere Klasse fast ein ganzes Jahr in Religion unterrichtet. Mit seinen spannenden Erzählungen aus der biblischen Geschichte hatte er alle Schüler in Bann gezogen, musste dann aber Künzelsau verlassen. Seit dem neuen Schuljahr war daher der Stadtpfarrer Hartmann unser Religionslehrer. Eine mittlere Katastrophe. Der Unterricht des Herrn Pfarrer war totlangweilig. Meist war ich die einzige in der Klasse, die seinem Unterricht folgte und seine Fragen beantwortete. Bis dem Stadtpfarrer eines Tages die Geduld riss über diese unaufmerksame und ständig schwatzende Schülerbande, die er nicht in den Griff bekam und einem Schüler eine schallende Ohrfeige verpasste. Einem Schüler, der einer der stillsten und schwächsten der Klasse war, der von den anderen häufig gehänselt und geschubst wurde und der gewiss keinen Ton von sich gegeben hatte.

      Die Schüler waren empört. Da der Klassensprecher katholisch war, gab es niemanden, der dem Herrn Pfarrer den Protest hätte überbringen können. Auch war den meisten Schülern meiner Klasse der Religionsunterricht ohnehin egal. Nur mir nicht. Es konnte nicht sein, dass ein Pfarrer einen Schüler schlug – und das noch ohne sich vergewissert zu haben, ob dieser Schüler den Unterricht wirklich gestört hatte. Ich forderte meine Mitschüler zum Boykott auf. Keiner dürfe in die nächste Religionsstunde das Gesangbuch mitbringen oder das Neue Testament. In der nächsten Religionsstunde müsse mit dem Stadtpfarrer über diesen Vorfall gesprochen werden.

      Als der Stadtpfarrer in der nächsten Religionsstunde die Klasse aufforderte, Matthäus II aufzuschlagen, begann die ganze Klasse zu kichern. Kein Schüler und keine Schülerin hatte die Bibel dabei. Aber es meldete sich auch niemand, um dem Pfarrer zu erklären, was da vor sich ging! Ich war wütend. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Da keiner meiner Mitschüler Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, stand ich schließlich selber auf und sagte dem Herrn Pfarrer, dass wir die Bücher absichtlich zuhause gelassen hätten, und dass alle in der Klasse der Meinung seien, im Religionsunterricht dürfe nicht geschlagen werden. Der Pfarrer begann sich zu rechtfertigen und wies auf den Lärmpegel in der Klasse hin. Und dass die Schüler anders nicht zu disziplinieren seien.

      »Aber beim Herr Vikar waren alle still. Sein Religionsunterricht war immer interessant. Da haben alle Schüler mitgemacht. Der Herr Vikar musste nicht schlagen! «

      Ob der Pfarrer die Stunde zu Ende führte oder das Klassenzimmer gleich nach dem Wortwechsel mit mir verließ, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass es Pfarrer Hartmann nach diesem Vorfall ablehnte, nochmals in unserer Klasse zu unterrichten. Und dass er mir ein Schuldtrauma hinterließ. Ich hatte den Pfarrer angegriffen! Ihn, der doch auch für mich hohe, wenn nicht höchste Autorität besaß. Wie hatte ich das nur tun können! Wie konnte ich das je wiedergutmachen? Tagelang schlich ich nach der Schule um das Pfarrhaus herum - bis ich mir schließlich ein Herz fasste und bei dem Pfarrer klingelte. Und mich schuldbewusst und tränenreich entschuldigte.

      Der Stadtpfarrer schätzte meinen Einsatz als „Hilfspastorin“ in der Kinderkirche. Er nahm meine Entschuldigung an. Aber für mich selbst war dieser Vorfall der Beginn eines Erosionsprozesses, der dazu führte, dass ich Jahrzehnte später aus der Kirche austrat.

      Unser Haus in der Amrichshäuser Straße stand etwa 300m oberhalb des Flusses, auf dessen jenseitiger Seite das Sportfeld lag. Die Entfernung zu dem Platz war per Luftlinien also nicht besonders weit. Der Fluss teilte sich unten bei der Badeanstalt, kurz vor dem Sportplatz. In den Kanal, der den Großteil des Wassers geradeaus zur Stadt führte und die Lohmühle speiste, und den Restfluss, der bei der Badestelle, am Anfang des Kanals, rechts über ein Wehr ablief, dann einen großen Bogen um den Sportplatz machte, um am Ende des Ortes hinter der Brücke das Kanalwasser wiederaufzunehmen. Der Alt Fluss, der meine Uferseite vom Sportplatz trennte, war flach und breit und voller Steine und führte im Sommer fast kein Wasser. Nur jetzt, im Frühjahr, war er etwas angeschwollen.

      Mit dem Fernglas, das ich trotz des Verbotes der Mutter aus dem Bücherschrank genommen hatte, konnte ich nach einiger Übung und wenn ich den Arm auf das Fensterbrett legte und ihn ganz ruhig hielt von unserer Wohnung aus ziemlich genau erkennen, wer sich da auf dem Sportplatz herumtrieb. Die beiden letzten Schulstunden waren heute ausgefallen und da hatten wir, ich selbst, mein Freund Fritz, dessen Freund Klaus und meine Freundin Hanne, vor dem Schulhaus mit den Fahrschülern, die auf ihren Zug warten mussten, verhandelt, ob man noch etwas unternehmen wolle. Das war üblich, wenn Randstunden ausfielen. Für mich waren die freien Randstunden das Schönste an der Schule. Eine ganze Stunde mit Fritz reden, spielen, raufen, oder sich im Winter eine Schneeballschlacht liefern!

      Zwar sah ich Fritz täglich in der Schule. Und manchmal sogar beim Sonntagsspaziergang, wenn seine Eltern zufällig den gleichen Spazierweg genommen hatten und uns auf ihrem Rückweg entgegenkamen. Dann hatten wir uns immer schon von weitem erspäht. Während wir uns näherkamen, hefteten sich unsere Augen aneinander, und wenn Fritz mit seinen Eltern an mir vorbeiging, klopfte mein Herz wie wild. Dass ich Fritz täglich in der Schule sah, verlieh der Schule einen beglückenden Reiz. Wenn wir nach den Schulstunden die Klassenräume wechseln mussten, konnte Fritz mir in dem lärmenden Gedrängel oft so nahekommen, dass ich sein liebevolles Anrempeln wie eine Umarmung empfand. Dabei steckte er mir manchmal kleine Geschenke zu. Wie zum Beispiel die Geo- Dreiecke aus braunem Plastik, deren Einzelteile ich noch als Studentin in meinem Federmäppchen mit mir führte, und die damals, so kurz nach dem Krieg, eine Kostbarkeit waren. Geo- Dreiecke waren, wenn man überhaupt welche bekommen konnte,