Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Название Jahrgang 1936 – weiblich
Автор произведения Barbara Schaeffer-Hegel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783826080616



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Schülerhaufens in der Pause in die Hand schmuggelte. Oder aber er steckte mir eine Zeichnung zu. Für den Kunstunterricht oder auch eine Erdkundezeichnung. Fritz war kein guter Schüler, war aber Klassenbester in Kunst und Sport.

      Dass ich mein Abitur mit dem großen Latinum abschloss, was für meinen späteren beruflichen Werdegang nicht ganz unwichtig war, verdanke ich meiner Schülerliebe. Nach der zweiten Oberschulklasse musste ich entscheiden, ob ich Französisch oder Latein als zweite Fremdsprache nehmen wollte. Fritz hatte für Latein optiert und so stand für mich fest, dass auch ich Latein lernen würde. Und ich blieb dabei. Trotz aller Bemühungen meiner Mutter, mir klarzumachen, dass Französisch eine viel schönere Sprache sei, die mir außerdem im späteren Leben von viel größerem Nutzen sein würde, und die auch viel besser zu einem Mädchen passe. Beeindruckt von meiner Standhaftigkeit und weil mein Vater erste Anzeichen von wissenschaftlichem Ehrgeiz in seiner Tochter zu erkennen glaubte, gab die Mutter schließlich nach. Ich wurde der kleinen Gruppe der „Lateiner“ zugeordnet. Zusammen mit Fritz, der allerdings nach zwei Monaten zu den „Franzosen“ überwechseln musste, weil Latein angeblich zu schwierig für ihn war.

      An diesem speziellen Tag war ich nach der Schule unschlüssig neben Fritz bei der kleinen Schar von Schülern gestanden, die den Weg nachhause nicht angetreten hatten, bzw. ihn noch nicht antreten konnten, und überlegte mit ihnen, was man bis zur Abfahrt der Fahrschüler noch unternehmen könne. Sollte man eine Runde Fangerles spielen oder Verstecken, was in den verwinkelten Gässchen immer sehr spannend war, oder sollte man nachsehen, ob es beim Konditor Österlin schon Eis gab. Immerhin war es April und erste heiße Tage hatte es schon gegeben. Das Wetter war durchwachsen, der Himmel bewölkt. Vielleicht würde es bald regnen. Irgendwie hatte dann aber doch niemand so recht Lust auf Eis oder auf Spielen und auch ein Stadtbummel reizte nicht wirklich. Das Grüppchen beschloss, nachhause zu gehen. Die Fahrschüler würden in einem leerstehenden Klassenzimmer ihre Hausaufgaben erledigen.

      Und jetzt, etwa eine viertel Stunde später, stand ich mit dem Fernglas am Fenster unseres Wohnzimmers und versuchte herauszufinden, wer sich da auf dem Sportplatz tummelte. Mehrere Figuren waren das, vier oder fünf, die da hinter einander herrannten, jetzt auf dem Holzbalken saßen, der das Fußballfeld umgrenzte, und dann wieder zu rennen begannen. Und jetzt wieder nebeneinander auf dem Balken saßen. War es wirklich möglich, dass Fritz und Klaus ohne mich, ja sogar entgegen unserer gemeinsamen Abrede, mit den Fahrschülerinnen auf den Sportplatz gegangen waren? Und jetzt dort mit ihnen spielten?

      Meine Augen hatten sich inzwischen an das Fernglas gewöhnt. Ich konnte jetzt alles genau erkennen: Fritz war zusammen mit den beiden Ursulas auf dem Sportplatz! Ich wollte es nicht glauben. Wie konnte er nur? Ursula Veigel und Ursula Weiß hatten einen schlechten Ruf in der Klasse. Ich wusste eigentlich nicht warum. Vielleicht „gingen“ sie ja schon mit Jungen, oder hatten einen Freund aus dem Lehrerseminar, das nach dem Krieg im Schloss eingezogen war. Jedenfalls waren sie die ältesten Mädchen in der Klasse, mehr als ein Jahr älter als ich, und sie kannten sicher schon Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich war die jüngste in der Klasse und brannte jetzt vor Eifersucht.

      Fritz gehörte zu mir! Er hatte immer zu mir gehört und jeder in der Klasse wusste das! Fritz liebt Babsi! oder Babsi liebt Fritz! stand mindestens einmal in der Woche auf der großen Kipptafel, wenn ein Lehrer sie umdrehte, um die Hausaufgaben für die Klasse aufzuschreiben. Und die ganze Klasse kicherte. Ich konnte mich nicht erinnern, ob Fritz auch schon mit mir in der Klasse von Herrn Faude gewesen war. Aber ich wusste, dass ich ihn kannte und mochte, sehr mochte, seit ich in der Oberschule war. Und Fritz mochte mich auch. Dessen war ich mir sicher. Warum sonst die Geo-Dreiecke und die Zeichnungen und das – ich wurde rot, wenn ich daran dachte –, das verbotene Zusammentreffen unserer Füße unter der Schulbank. Wenn ich mich an die Stunden erinnerte, in denen ich direkt vor Fritz saß, in einer der langen Bänke, mit denen nur der Chemie- und der Physiksaal ausgestattet waren, dann erschauerte ich. Normalerweise saß ich weder im Chemie- noch im Physiksaal direkt vor Fritz, der seinen Platz in der dritten Jungenreihe hatte, während ich in der zweiten Mädchenreihe saß. Nur im evangelischen Religionsunterricht, den die katholischen Schüler nicht besuchten, hatte es sich ergeben, dass ich in der letzten Mädchenbank saß und Fritz in der ersten Jungensbank direkt hinter mir. Und dann spürte ich eines Tages diese unsäglich wohlige Wärme in mir aufsteigen, als meine Füße versehentlich mit Fritzens Füßen zusammenstießen. Und dann immer wieder. Nicht mehr aus Zufall, sondern weil wir beide, kaum hatte der Religionsunterricht begonnen, wie Süchtige den Kontakt unter der Bank suchten. Fast die ganze Religionsstunde über brannte sich das Sündenfeuer von meinen Füßen aufwärts in die Seele. Und ich wusste, dass das, was ich da fühlte – ausgerechnet im Religionsunterricht – eine besonders schwere Sünde war.

      Sollte das alles jetzt nicht mehr gelten? Wollte Fritz mich für eine dieser zickigen Puten aus Ingelfingen aufgeben! Konnten seine Blicke so lügen! Noch heute Morgen hatte er mich mit seinen dunklen Augen so angesehen, dass ich, wie immer, wenn sein Blick mich traf, vor Wohlgefühl zu zerschmelzen meinte. Und dass er mich als einziger Mensch in ganz Künzelsau mit meinem richtigen Namen ansprach: Barbara! Nicht Bärbel, oder Babsi, oder Babs wie alle anderen! All das sollte jetzt keine Bedeutung mehr haben! Wenn Fritz mich Barbara nannte, war das wie eine Liebkosung.

      Ich stand am Fenster und starrte hinaus. Auf dem Sportplatz bewegten sich vier kleine Pünktchen, entfernten sich voneinander, liefen auf einander zu, um dann so nahe zusammen zu stehen, dass sie in einem großen Punkt verschmolzen. Ich war alleine zuhause. Meine Mutter und die Brüder waren in der Schule und Rosel war offenbar zum Einkaufen gegangen. Ich dachte an die heimlichen Ausflüge, die ich im letzten Sommer und auch schon im Jahr davor mit Fritz gemacht hatte. Ich und meine Freundin Hanne hatten sich für eine Tagestour mit dem Fahrrad zuhause abgemeldet und das gleiche hatten Fritz und sein Freund Klaus gemacht. Vor der Stadt, da wo die Straße nach Kupferzell steil ansteigt und die katholische Kirche etwas verlassen am Berg steht, trafen wir uns, um die gemeinsame Tour zu beginnen. Fritz und ich fuhren immer nebeneinander, eskortiert vom besten Freund und von der besten Freundin, die selbst kein Pärchen waren, aber selbstverständlich gerne mitfuhren.

      Schon seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich Fahrradtouren unternommen. Natürlich nur mit der Freundin, aber da die Mutter in dieser Hinsicht großzügig war, durfte ich schon als Zwölfjährige mit der nur um ein Jahr älteren Hanne mehrere Tage unterwegs sein und in Jugendherbergen übernachten. So hatte ich in fast allen Ferien Radtouren in die nähere und weitere Umgebung unternommen und kannte alle Kirchen und Schlösser, alle berühmten Kunstschätze, Madonnenbilder und geschnitzten Altäre, alle von Fachwerkhäusern umstellten Marktplätze, die in zwei bis drei Tagesreisen Entfernung von Künzelsau zu besichtigen waren.

      Aber die Tagesausflüge mit Fritz, von denen weder seine noch meine Eltern noch auch die Eltern unserer Freunde etwas wussten, waren besonders. Natürlich waren Fritz und ich nie allein. Davon hätte ich nicht einmal geträumt. Die Innigkeit, die daraus entstand, dass wir in so großer Nähe beieinander waren, dass wir einen ganzen Tag lang alles gemeinsam machten, die Räder gemeinsam die Scherersteige hinaufschoben, um auf der anderen Seite freihändig und jubelnd nebeneinander hinunter zu sausen, das gemeinsame Picknick im Wald, die Gespräche über die Schule, die Schulkameraden und vor allem über die verrückten Lehrer, – all das war so voll betörenden Glücks, dass ich mir nichts weiter vom Leben wünschte, als dass diese Tage nie vergehen würden.

      Und jetzt spielte Fritz da unten mit den „Ursulinen“! Noch immer stand ich unbeweglich am Fenster. Aber in mir kochte es. Etwas Unbändiges, etwas, von dem ich nicht wusste, ob es Wut, Sehnsucht, Liebe, Empörung oder Hass war, etwas, das ich noch nie zuvor gefühlt hatte, überfiel mich wie ein Sturzbach. Keine Sekunde länger konnte ich das ertragen.

      Wie ich zum Fluss gekommen war, wusste ich später nicht. Mit der Starrheit einer Traumwandlerin verließ ich das Haus, bog am Ende der Straße nach rechts in den Feldweg ein, an dessen Anfang noch einige Häuser standen, der aber weiter unten in eine große Wiese mündete, an deren Ende der kanalisierte Fluss entlanglief. Und an deren rechten, dem Sportplatz zugewandten Seite das alte Flussbett verlief. Manchmal, nach starkem Regen, gab es etwas Wasser im Alt Fluss, aber trotzdem konnte man, die Schuhe in der Hand, mitsamt Kleidern und Badesachen das breite Flussbett leicht durchqueren. Jetzt war April. Im April konnte man nicht baden und ich hatte den Fluss noch