Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel

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Название Jahrgang 1936 – weiblich
Автор произведения Barbara Schaeffer-Hegel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783826080616



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Lehrer. An richtigen Lehrern fehlte es gewaltig nach dem Krieg. Daher musste man auf noch jüngere Männer zurückgreifen. Sofern sie alt genug waren und Interesse an Kindern hatten, wurden sie vor oder während ihrer Ausbildung als hauptamtliche Lehrer eingestellt. Herr Faude war jung, sah nett aus und hatte rote Haare. Und er war der beste Lehrer, den ich je erlebt habe. Wenn Herr Faude uns etwas beibringen wollte, sprach er so spannend – während er dabei durch die Bankreihen marschierte –, dass wir Schüler fasziniert an seinen Lippen hingen und ihm auf Schritt und Tritt folgten. Wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln liefen wir ihm durchs ganze Klassenzimmer nach. Ab und an drehte sich Herr Faude um, sah die Schülerschlange hinter seinem Rücken, klatschte in die Hände und forderte uns fröhlich aber entschieden auf, doch wieder unsere Plätze einzunehmen. Sein Unterricht war immer interessant und abwechslungsreich; vor allem aber überließ er uns Kindern einen beachtlichen Part darin. Wir sollten/ mussten/durften in Heimatkunde Vorträge halten, unsere eigenen Geschichten vor der Klasse erzählen oder vorlesen, und bei Mathematik oder Geometrieaufgaben ließ er uns die Lösungen an der Tafel selber finden. Herr Faude praktizierte Methoden, die zu seiner Zeit völlig ungewöhnlich waren, die jedoch später in die Didaktik und Unterrichtslehren eingingen. Und wir liebten ihn dafür. Er wohnte in einer Wohnung im Stadttor am Ende der Schnurgasse. Vor allem wir Mädchen brachten ihm dort immer wieder mal ein Ständchen dar.

      Nach einem knappen Jahr in der vierten Klasse bei Herrn Faude wurde ich 1946 nach bestandener Aufnahmeprüfung in die erste Klasse der Oberschule aufgenommen. Diese Aufnahmeprüfung wurde ein richtungsweisendes Erlebnis für mich. In der schriftlichen Deutschprüfung hatte ich einen Aufsatz abgeliefert, dessen Inhalt alle Mitglieder der Prüfungskommission so beeindruckte, dass sie trotz der über 30 Schreibfehler, die ich auf vier Seiten Geschriebenem untergebracht hatte, davon absahen, mich durchfallen zu lassen. Sie bestellten mich zur mündlichen Prüfung ein. Diese mündliche Prüfung würde darüber entscheiden, ob ich zur Oberschule zugelassen würde oder nicht. Und dann geschah in dieser Prüfung etwas auch für mich völlig Unerklärliches. Obwohl ich noch niemals Grammatikunterricht gehabt hatte, wusste ich auf alle Fragen der Kommission eine Antwort. Zwar wusste ich nichts von Haupt- und Nebensätzen, Subjekt, Objekt, Satzgegenstand und Satzaussage, aber Herr Faude hatte mir im Rechenunterricht sehr gründlich selbstständiges Denken und Kombinieren beigebracht. »Warum stehen diese Teile des Satzes zwischen Kommata?« – an diese Frage und an meine Antwort kann ich mich noch heute, als 83- jährige, erinnern. Ich brachte eine perfekte Definition des „Relativsatzes“ zustande und weil ich mich wohl auch sonst bewährte, bestand ich die Prüfung. Die positive Erfahrung mit meiner ersten Prüfung wirkte sich auf alle weiteren Prüfungen aus, die ich in meinem Leben ablegen musste. In Prüfungen schien ich immer mehr zu wissen als ich vorher gewusst hatte; ich hatte nie Angst und habe Prüfungen immer glänzend bestanden.

      Die Oberschule in Künzelsau war besonders. Sie war in sehr vieler Hinsicht besonders; für mich schon dadurch, dass meine Mutter an der Oberschule unterrichtete und daher auch meine Lehrerin war. In den unteren Klassen unterrichtete sie Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Englisch und Französisch. Es war ihr also nicht zu entkommen.

      In welchem Fach und in welcher Klasse der folgende Vorfall passierte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es im Musikzimmer im oberen Stock war und dass ich in der ersten Bank in der Fensterreihe saß und danach vor dem Musikzimmer im Flur stand und vor Wut und Empörung kochte. Meine Mutter hatte mich aus der Klasse getrieben. Meine eigene Mutter hatte mich an den Haaren durch das gesamte Klassenzimmer geschleift, von jeder Bank losgezerrt, an der ich versuchte, mich festzuhalten, und bis zur Tür geschleppt. Sie hatte mich auf den Flur gestoßen und mit einem »da bleibst du jetzt!« die Türe mit einem Knall zugezogen. Ich hatte nichts getan! Ich hatte still auf meinem Platz gesessen und hatte der Mutter zugehört, als sich diese plötzlich zu mir umdrehte und mich zur Rede stellte.

      Voller Wut über die Ungerechtigkeit meiner Mutter blickte ich auf den auch jetzt vergleichsweise ruhigen Platz und dachte an das Geheimnis, das mir diesen Platz für immer lieb und wert machte. Aber auch das konnte nicht helfen gegen die Wut. Ich hasste meine Mutter. Wie konnte sie mir das antun! Das war ungerecht! Mutter hatte gar nicht hören wollen, was ich zu meiner Verteidigung vorbringen wollte. Und doch war meine Mutter, das wusste ich, unter anderem deswegen bei den Schülern beliebt, weil sie zwar streng, aber meistens sehr gerecht war. Die Schüler hatten ihr den Spitznamen „Sächle“ gegeben, weil sie im Unterschied zu den männlichen Lehrern vergleichsweise „sachlich“ blieb. Die männlichen Lehrer hatten nämlich alle einen Knall. Sie rasteten beim geringsten Anlass aus, und waren oft in hohem Maße ungerecht.

      Wie zum Beispiel Herr Dürr, der Musiklehrer, der beim kleinsten Misston, den wir beim Chorsingen produzierten, wie eine Rakete in die Luft ging, sich lauthals über seine Schüler beschwerte – »das ist ja zum Kotzen mit euch!« – und das Fenster an der Schmalseite des Musikraums aufriss. Bis eines Tages unsere kleine, schüchterne Klassenbeste, Trudel Weigert, die niemals frech wurde, die eingetretene Todesstille mit »Jetzt kotzt er!« durchbrach, die ganze Klasse losprustete und in der letzten Stunde nachsitzen musste.

      Oder Fräulein Raidt, die wir die „alte Jungfer“ nannten - ihr Verlobter wurde, wie es hieß, gleich in den ersten Kriegstagen getötet - und die außer meiner Mutter die einzige Lehrerin an der Schule war. Fräulein Raidt strafte mit Ironie und Sarkasmus und fixierte ertappte Sünder mit starrem Blick, während sie dabei die linke Augenbraue hochzog. Nur die linke. Alle wussten, dass dies ein Warnzeichen war. Ich brauchte lange, bis es mir durch tägliches Üben vor dem Spiegel gelang, die linke Braue anzuheben ohne die rechte zu bewegen – eine Fähigkeit, die ich noch heute beherrsche – und Fräulein Raidt bei ihrer nächsten visuellen Attacke gleiches mit gleichem vergelten konnte.

      Aber die Lehrer waren schlimmer. Alle meine Lehrer waren gesund aus dem Krieg zurückgekommen. Alle hatten noch zwei Arme und zwei Beine und an jeder Hand fünf Finger. Der Krieg hatte sie auf andere Weise verletzt. Auf eine Weise, die nicht zu sehen war. Ich hatte keine Ahnung, wie das passiert sein konnte, aber ich spürte, dass diese Männer, meine Lehrer, abgesehen davon, dass sie Lehrer waren, was allein schon bedenklich schien, auf unerklärliche Weise beschädigt waren. Herr Faude war auch Lehrer. Aber der war ja nicht im Krieg gewesen.

      Am schlimmsten war zweifellos der Biologielehrer, Herr Wieser, der auch Biologie und Chemie unterrichtete. Herr Wiesner war dick wie eine Trommel. Wenn er im Schulhaus die Treppe herunterkam, mussten sich entgegenkommende Schüler mit eingezogenem Bauch an die Wand drücken, damit er passieren konnte. Seine beiden Kinder jedoch, die auch in die Oberschule gingen, waren klein und schmächtig und erzielten bei den Untersuchungen für die Zuteilung der Schulspeisung – einer Spende des amerikanischen Expräsidenten Hoover – regelmäßig den höchsten Unterernährungsgrad. Sie waren immer unter denen, die in der großen Pause freie Mahlzeiten bekamen; einen zähflüssigen Schokoladenbrei, oder Maissuppe, oder dicke Bohnen. Als Lehrer war Herr Wiesner unerbittlich. Er unterrichtete nur im Chemiesaal, hatte also den erhöhten Experimentiertisch, der die ganze Breite des Raumes einnahm, zwischen sich und den Schülern, die ihm in sechs ansteigenden, ebenso langen Bänken gegenübersaßen. Herr Wieser saß wie ein Buddha nahezu unbeweglich auf seinem ausladenden Podest. Breit und gewichtig, die Arme abgewinkelt vor sich abgelegt, saß er in der Mitte seines langen Tisches und dozierte. Während der Schulstunde stand er niemals auf. Nie schrieb er etwas an die Tafel. Und Lehrmittel gab es keine. Kein Buch, keine kopierten Seiten, keine Materialien, kein nichts. Aber der dicke Wieser erwartete, dass sich die Schüler jedes seiner Worte merkten. Oder seine Ausführungen in rasendem Tempo mitschrieben. Er verhielt sich wie ein Professor (vielleicht war er das ja gewesen und war degradiert worden) und nahm keinerlei Rücksicht darauf, dass er nicht Studenten, sondern zwölfjährige Schüler und Schülerinnen vor sich hatte. Es war unvermeidlich, dass ich eines Tages mit ihm zusammenstoßen würde.

      Wieser hatte als Hausaufgabe von jedem Schüler 50 gepresste Pflanzen mit deutschem und lateinischem Namen, Fundort und Blütezeiten verlangt. Das war viel Arbeit gewesen, aber jeder meiner 30 Mitschüler und alle Mitschülerinnen hatten am Ende der gesetzten Frist 50 Pflanzen abgegeben. Und dann kam die Klassenarbeit. Wieser saß auf seinem Hochsitz und wählte aus den 1500 Blättern, die er vor sich auf dem Tisch gestapelt hatte 30 Blätter aus, die er nacheinander hochhielt. Die Schüler sollten die Pflanze erkennen und benennen. Aufschreiben! Und bitte absolute Ruhe im Raum!