Название | De Temps en Temps |
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Автор произведения | Jacqueline Hoffmann |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962298654 |
„Heißt das, du willst endlich mit mir reden und mich nicht mehr ausschließen?“
„Ich würde gerne, aber du wirst mich für verrückt halten oder gleich einen Arzt rufen und mich zwangseinweisen lassen. Wie gerne würde ich mit dir darüber reden, aber ich verstehe meine Gefühle und Gedanken selbst nicht. Warum also dich damit belasten?“ Anna trat einen Schritt auf ihre Schwester zu. „Weil ich deine Schwester bin, Aurelie. Und ich immer für dich da bin, egal wie verrückt du wirst oder bist.“ Aurelie lächelte und nahm ihre Schwester in die Arme. „Danke, Anna.“
Nachdem Anna ihr Missgeschick repariert hatte und auch Maja versorgt war, kochten die Schwestern sich einen Kaffee und setzten sich dann gemeinsam, in eine grüne Fließdecke gekuschelt, auf den Balkon. Der Mond schien hell und die Sterne funkelten auf sie herab. „Fast wie früher“, lachte Anna. „Ja nur, dass es damals Kakao und kein Kaffee war“, sagte Aurelie lächelnd zu ihrer Schwester. „Dann erzähl mir mal von deinem Traum oder was dich sonst belastet.“ Aurelie holte tief Luft und nahm noch einen großen Schluck von ihrem schwarzen Kaffee. „Die Träume habe ich nicht erst seit ein paar Monaten. Da hast du nur das erste Mal gefragt, ob etwas nicht stimmt. Der Traum kommt jetzt seit fast 10 Jahren so gut wie jede Nacht.“
„So lange schon? Warum hast du nie etwas gesagt?“, unterbrach Anna ihre Schwester entsetzt. „Ich habe mich nicht getraut. Es gibt ja noch etwas, was mich seitdem belastet. Aber lass mich dir erst mal vom Traum erzählen, bevor mich der Mut wieder verlässt.“ Aurelie nahm wieder einen großen Schluck und begann, weiter zu erzählen. „In dem Traum bin ich nicht ich. Also ich sehe mir sehr ähnlich, aber irgendwie bin ich nicht ich. So als ob ich in einem anderen Körper wäre. Ich bin in einem Geschäft. Es könnte ein Café, eine Bäckerei oder ein Bistro sein. Das kann ich dir nicht genau sagen. Ich spüre, wie glücklich ich bin und dass mein Leben perfekt ist. Ich stelle eine Erdbeertorte, die ich scheinbar selbst gebacken habe, gerade in eine Auslage, als mich von hinten ein Mann umarmt.“
„Was für ein Mann? Will er dir was tun?“, fragte Anna dazwischen. „Nein. Er tut mir nichts. Er scheint mich zu lieben. Er dreht mich um, zieht mich vorsichtig zu sich und küsst mich zärtlich.“
„Das ist aber doch schön. Was ist daran so schrecklich, dass du nach dem Traum immer so durcheinander bist? Sieht er etwa nicht gut aus?“ Aurelie lächelte. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich sehe sein Gesicht nicht. Er redet auch nicht, sodass ich wenigstens seine Stimme hören könnte. In diesem Moment spüre ich einfach nur pures Glück und enorm viel Liebe.“ Aurelie machte eine Pause. Jetzt kommt der Teil des Traumes, über den sie nicht reden will. Am besten gar nicht daran denken. Aber wie hat Frau Meier so schön gesagt, wenn man drüber redet, ist der Schmerz nicht mehr so groß. „Im nächsten Moment geht die Tür auf. Soldaten kommen herein. Sie tragen aber sehr alte Uniformen und es scheint mir so, als ob es auch keine deutschen Soldaten sind. Sie reißen uns auseinander. Sie schlagen den Mann zusammen und nehmen ihn mit in den hinteren Teil des Geschäftes, sodass ich ihn nicht mehr sehen kann.
Dann beginnen sie, auf mich einzutreten und mir Fragen zu stellen. Aber ich verstehe sie nicht. Sie sprechen eine andere Sprache. Dann fesseln sie mich und bringen mich auf einen Laster. Im nächsten Moment sehe ich mich in einem Raum liegen. Es ist dunkel und kalt. Zwei Männer kommen herein, schreien mich an, aber ich versteh sie wieder nicht.
Dann reißen sie mir die Kleider vom Leib.“ Ihr bricht die Stimme weg. Sie kann nicht mehr. Anna nimmt sie in die Arme und streicht ihr über den Kopf. „Du musst nicht weiterreden. Es ist okay.“ Aurelie greift nach einem Taschentuch. „Nein, nichts ist gut. Ich lebe mit diesem Traum und dieser Angst schon viel zu lange. Ich will dir alles erzählen.“ Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt ist und beginnt weiter zu erzählen. „Nachdem sie mit dieser Abscheulichkeit fertig sind, stechen sie mehrfach mit einem Messer auf mich ein. Nur um mich dann sterbend zurückzulassen. Ich spüre die Schmerzen jedes Mal und wenn ich aufwache, tut mein ganzer Körper weh, so als ob ich diese Messerstiche gerade wirklich bekommen hätte.“ Anna ist sprachlos. Sie nippt an ihren Kaffee und lässt ihren Blick über die beleuchtete Stadt schweifen. Sie kann nichts sagen. Was soll man dazu auch sagen? Was sind die richtigen Worte, die sie ihrer Schwester danach sagen sollte?
Wenn es ein einmaliger Traum gewesen wäre, hätte sie gesagt, schau abends kein Fernsehen mehr, davon bekommst du solche Träume. Aber ihre Schwester quälte sich seit so vielen Jahren mit diesem Traum. „Warum hast du mir nicht schon viel früher davon erzählt?“, fragte Anna mit ruhiger Stimme. „Ich weiß nicht. Die Träume fingen an, als ich 20 war. Da habe ich das auf zu viel Internet, Bücher oder Fernsehen geschoben. Aber jedes Jahr wurde der Traum etwas länger. Neue Details kamen dazu und die Schmerzen wurden immer schlimmer und intensiver. Am Anfang war ich mir sicher, dass dieser Traum bald wieder aufhören würde. Aber nach 10 Jahren muss ich einfach wissen, was das zu bedeuten hat. Ich glaube langsam, er will mir etwas sagen oder zeigen. Keine Ahnung was, aber er macht etwas mit mir.“ Eine Weile sitzen die Schwestern einfach nur ruhig nebeneinander. „Und ich muss wissen, was aus dem Mann geworden ist. Was sie ihm angetan haben.
Weißt du, Anna, ich glaube nicht an Wiedergeburt oder Geister, aber ich spüre, dass das, was ich da sehe, eine wichtige Bedeutung hat. Und ich das nicht ohne Grund jede Nacht durchmachen muss.“ Anna stand auf und ging hinüber zum Balkongeländer. „Wann hat das alles angefangen? Also gab es einen Auslöser für diese Träume?“ Aurelie gab ihr nur ein kurzes, leises „Ja“ als Antwort. Und jetzt kam er also, der Teil, den sie noch viel weniger erzählen wollte. Jetzt würde sich entscheiden, ob Anna sie nur auslachte oder gleich in der Psychiatrie anruft. „Du weißt doch, dass ich schon seit Jahren diesen französischen Sänger höre.“ Anna überlegte kurz. „Du meinst den, der schon verstorben ist?“
„Ja genau. Finn Martinez. Weißt du, seit ich seine Stimme das erste Mal gehört habe, hat das irgendwas in mir ausgelöst. Es fühlt sich so an, als ob ich ihn schon lange kennen würde. Seine Augen, sein Lächeln, das kommt mir so vertraut und bekannt vor. Wenn ich ihn singen höre, fühle ich mich sicher und geborgen. Ich weiß, das klingt voll dämlich und gestört und um ehrlich zu sein, ist es mir auch peinlich, mit dir darüber zu reden, aber ich halte diesen Druck nicht mehr aus. In mir ist irgendetwas, was mir sagt, dass er mich ruft.“ Anna war still. Sie hörte ihrer Schwester zu. „Jetzt sag doch auch mal was. Ich erzähle dir hier, dass ich möglicherweise durchdrehe und du stehst einfach ganz still da.“ Anna nahm einen großen Schluck von ihrem nun auch kalten Kaffee und schaute nach unten auf die Straße. Sie sah die vielen Autos, die sich durch die engen Straßen den Weg nach Hause bahnten. Wie hektisch doch alles noch um diese Uhrzeit war.
Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. „Warum hast du nicht eher mit mir geredet? Ich habe die letzten Jahre gedacht, dass dir was fehlt oder dass es dir nicht gut geht, aber ich dachte, so schlimm kann es nicht sein, du würdest ja sonst zu mir kommen und mit mir reden. Ich hatte den Gedanken, dass dir das mit dem Café vielleicht zu viel wird. Oder dass du genervt bist von mir und meinem Chaos, was ich immer hinterlasse. Aber ich hätte nie gedacht, dass es etwas ist, das dich so sehr belastet.“ Sie setzte sich wieder neben ihre Schwester und nahm sie kurz in die Arme, dann schaute sie ihr ins Gesicht. „Aurelie, du kannst mit mir über alles reden. Egal, wie merkwürdig oder verrückt es klingt. Ich bin für dich da.
Ich höre dir zu, egal, um was es geht oder wie verrückt es sich anhört. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was dieser Traum oder auch deine Gefühle zu bedeuten haben.“ Aurelie nahm ihre Schwester erleichtert in die Arme. Wie groß war ihre Angst vor diesem Gespräch. Wie oft ist sie in Gedanken das hier schon durchgegangen, aber nie hätte sie mit dieser Reaktion gerechnet. Gehofft ja, aber nie gedacht, dass es so kommt. Hatte sie sich also in ihrer kleinen Schwester getäuscht? „So, jetzt lass uns lieber reingehen. Sonst erfrieren wir, bevor wir herausgefunden haben, was dein Franzose von dir will.“
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