Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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er goss reichlich Soße über die Klöße.

      August Stillmark war ein schwergewichtiger Mann. Obwohl er nur mittelgroß war, wog er über zwei Zentner. Er war ein Genussmensch, der unheimlich gern aß. Seit seiner Operation vor 13 Jahren habe er nur noch ein Drittel Magen, und dass er wieder so essen könne, sei ein wahres Wunder, stellte er schließlich zufrieden fest.

      „Es war eine schlimme Zeit“, sagte er und gab endlich einmal zu, dass er es ohne Lisbeth nicht geschaffte hätte, wieder gesund zu werden.

      Denn Lisbeth Stillmark hatte alles unternommen, um ihren Mann wieder aufzupäppeln: Sie arbeitete nur stundenweise, damit sie ihrem Mann das Essen immer frisch kochen konnte, und sie kochte nur, was er vertrug. Sie nahm die schlechte Laune ihres Mannes hin, wenn es, besonders in den ersten Monaten nach der Operation, gesundheitliche Rückschläge gab. Das Wichtigste für sie war, dass er wieder auf die Beine kam.

      „Zwei Jahre dauerte es, bis ich wieder arbeitsfähig war“, sagte August Stillmark, und putzte das zweite Schälchen Pflaumenkompott weg.

      Als Heidi ihm die Kompottschale wegnahm und anfing, das Geschirr abzuräumen, sagte August Stillmark: „Lisbeth wird doch verstehen, dass ich sie heute Nachmittag nicht mit besuchen komme.“ Er müsse bei der Kapelle „Edelweiß“ aushelfen, brachte er als Entschuldigung vor und zog sich nach einem opulenten Mittagessen in die Schlafstube zurück, um ausgiebig Mittagsschlaf zu halten.

      Stunden später trat August Stillmark als Gasttrompeter bei einem Sommerfest in der „Hasenhohle“ auf, und Heidi und Wolfgang besuchten Lisbeth Stillmark im Krankenhaus.

      Wolfgangs erste Begegnung mit Lisbeth Stillmark kam jedoch nicht über ein „Guten Tag“ hinaus. Denn Krankenhausbesuche waren für Wolfgang seit jeher ein Horror, und die Krankenhausluft, die in Lisbeth Stillmarks Zimmer herrschte, setzte ihm arg zu. Er wurde bleich, fühlte sich einer Ohnmacht nahe und sagte: „Es tut mir leid. Aber ich muss an die Luft, sonst kippe ich hier noch um.“

      Lisbeth Stillmark, die Wolfgang sympathisch fand, brachte Verständnis für ihn auf. Sie war ihm nicht böse, dass er vorzeitig das Zimmer verließ und unten vorm Krankenhaus auf Heidi wartete, bis die Besuchszeit zu Ende war.

      Als August Stillmark am Abend von seinem Sommerfest-Auftritt ziemlich betrunken nach Hause kam, fragte er Heidi, wie es im Krankenhaus gewesen sei und wie es Lisbeth gehe.

      „Es geht ihr so gut, dass sie schon morgen Mittag aus dem Krankenhaus entlassen wird.“

      Ihrem Vater war anzumerken, wie froh und erleichtert er darüber war, und für Wolfgang war die Mission Arnsbach erfüllt.

       10. Kapitel

      Am nächsten Morgen fuhr Wolfgang mit dem Bus von Birkenhall aus zurück nach Erfurt. Auf der Rückfahrt musste er an den ersten Abend in Arnsbach denken: August Stillmark war in Erzähllaune gewesen und hatte sich im Herbeten seiner Vorfahren, die bis ins vierte Glied zurückreichten, gefallen. Die breiten Hüften, die alle Büchnerschen Frauen hätten, seien auf die Urgroßmutter seiner Mutter zurückzuführen. Die habe Maria Barbara geheißen. Und Heidi schlage in diese Linie.

      August Stillmark war versessen auf Familiengeschichte, und es interessierte ihn brennend, wo Wolfgang geboren worden war. „In Hausdorf“, sagte Wolfgang. Aber er wusste nicht, wo das lag. Er kannte den polnischen Namen seines Heimatdorfes nicht, und er wusste auch nicht, wo er die ersten beiden Jahre seines Lebens verbracht hatte.

      Wolfgangs Auskunft, dass er nicht wisse, wo sein Geburtsort sei, quittierte August Stillmark mit einem Kopfschütteln. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, dass jemand seinen Geburtsort nicht kannte und nichts über seine Vorfahren wusste.

      Als Wolfgang sagte, dass er aus Schlesien stamme und in Sachsen aufgewachsen war, meinte August Stillmark: „Also bist du ein Evakuierter“, und ausladend breit erklärte er, dass die Leute in Arnsbach in Hiesige, Unhiesige, Zugezogene, Fremde und Evakuierte eingeteilt würden.

      „Ich als Einheimischer bin ein Hiesiger, weil ich in Arnsbach geboren bin“, dozierte er. „Meine Frau ist eine Unhiesige, weil sie aus einem der umliegenden Dörfer stammt. Und wer in Arnsbach wohnt, ohne in eine hiesige Familie eingeheiratet zu haben, ist ein Zugezogener. Und wer von weiter her ist – zum Beispiel aus Berlin – ist ein Fremder. Und Evakuierte sind Leute, die nach dem zweiten Weltkrieg aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen kamen und hier hängengeblieben sind.“

      Auf der Stufenleiter der gesellschaftlichen Anerkennung standen die Evakuierten, zu denen Wolfgang zählte, auf der untersten Sprosse der Dorfhierarchie.

      „Für kurze Zeit hatten wir auch mal Evakuierte im Haus. Zwangseinquartierung“, sagte August Stillmark. „Butzke hießen die Leute und wohnten oben in der Mansarde.“ Sie seien aus Schlesien, aus der Nähe von Breslau, gekommen und Anfang der 50er-Jahre nach Hessen gegangen, wo ihr Sohn bei einem Bauern untergekommen war.

      „Wir waren heilfroh, als sie endlich auszogen und wir wieder das Haus für uns alleine hatten“, sagte August Stillmark.

      Wenn Wolfgang daran dachte, welch großen Wert August Stillmark auf Herkunft, Heimat und all den Kram gelegt hatte, kam ihm die Welt, in der Heidi lebte, bizarr und unendlich fremd vor, und er konnte sich beileibe nicht vorstellen, irgendwann einmal in Arnsbach leben zu müssen. Großstädte hatten etwas Inspirierendes für ihn, und er war froh, wieder zu Hause in Erfurt zu sein.

      Wolfgang saß im Wohnzimmer und hämmerte von morgens bis mittags auf seine alte Reiseschreibmaschine ein, und mit Riesenschritten schrieb er sich auf das Ende des Stücks zu, dessen Inhalt schnell erzählt ist: André, die Hauptfigur, hat die Schnauze gestrichen voll von der Schule, dem Lehrmeister und seinem Vater. Von Abenteuerlust getrieben, geht er auf eine Großbaustelle. Als er sich in die sieben Jahre ältere Kellnerin Irene verliebt, gibt sie ihren zwielichtigen Lebenswandel und er sein Frust-Saufen auf. Er versucht ernsthaft, seinen Platz im Leben zu finden. Er geißelt die Scheinmoral und versucht, die Gesellschaft zu ändern. Am Ende des Stücks gibt Irene ihr verruchtes Kellnerinnen-Dasein auf und beschließt, in einer neu erbauten Kaufhalle als Verkäuferin zu arbeiten. Sie glaubt, dass Andrés Liebe so groß sei, dass er bei ihr bleibe. Aber André sieht ein, dass die Großbaustelle nicht seine Endstation sein kann. Er verlässt Schwedt und lässt Irene, die mit ihm ein neues Leben beginnen wollte, enttäuscht zurück und beginnt im Herbst 1965 mit dem Studium.

      Die Geschichte, an der Wolfgang schrieb, nahm ihn so gefangen, dass es ihm nichts ausmachte, wenn seine Großmutter, von einer unbändigen Unruhe getrieben, in der Wohnung herumgeisterte. Während er schrieb, ging sie in der Stube unruhig umher, packte Sachen und hantierte an der Schutzkette der Korridortür herum. Nach Hause wollte sie, wenn man sie fragte.

      Wolfgang ging äußerst liebevoll mit seiner Großmutter um, selbst wenn das Herumhantieren an der Schutzkette ungeheuer nerven konnte, flippte er nie aus. Vielleicht war ihm deshalb die Anfangsszene so gelungen, in der der alte Linke, etwas vergesslich schon, ständig nach der Zeitung fragt, die noch nicht gekommen ist.

      Bis seine Mutter, die halbe Tage im Kaufhaus arbeitete, nach Hause kam, kümmerte sich Wolfgang um seine Großmutter. Sie war leicht dement und konnte nicht mehr alleine auf die Straße gelassen werden. Denn in einem herannahenden Auto sah sie keine Gefahr. So nahm Wolfgang sich oft Zeit und ging mit seiner Großmutter in den Anlagen entlang des Flutgrabens spazieren. Und er hatte sich daran gewöhnt, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte und ihn Heinrich nannte. Onkel Heinrich war Theatermaler in Berlin gewesen und 1942 in Russland gefallen.

      Sobald seine Mutter die Wohnung betrat, verließ Wolfgang das Haus und erholte sich vom Schreiben und dem Aufpassen auf seine Großmutter, indem er Nachmittage lang die Stadt durchstreifte.

      Auf einem seiner Streifzüge begegnete er Trebing, den er seit seiner Oberschulzeit kannte und urig lange nicht gesehen hatte.

      Trebing, auf Kurzbesuch bei seinen Eltern, erzählte Wolfgang, dass er sein Studium an der TU Dresden nach drei Jahren geschmissen habe und jetzt Volontär beim Fernsehen sei. „Ich habe riesiges Glück gehabt, dass ich zu den 20 Volontären für Regie gehört habe“, meinte Trebing.