Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго

Читать онлайн.
Название Die Stadt der Sehenden
Автор произведения Жозе Сарамаго
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455812787



Скачать книгу

sollten und sich teils aus den Geheimdiensten, teils aus öffentlichen Institutionen rekrutierten, ging schnell und effizient vonstatten. Nachdem diese, als Beweis für ihren beispiellosen Gemeinsinn, unter Eid den Namen der von ihnen gewählten Partei verraten hatten, nachdem sie, ebenfalls unter Eid, ein Dokument unterzeichnet hatten, in dem sie ihre tiefe Abscheu vor dieser moralischen Pest zum Ausdruck brachten, die einen beachtlichen Teil der Bevölkerung befallen hatte, war die erste Amtshandlung dieser Agenten, welche wohlgemerkt beiderlei Geschlechts waren, damit es hinterher nicht wieder hieße, alles Böse sei Männerwerk, die in Vierzigergruppen eingeteilt waren und von Tutoren mit einer Spezialausbildung in Erkennung und Interpretation elektronischer Bild- und Tonaufzeichnungen angeleitet wurden, ihre erste Amtshandlung war also, sagten wir, die Sichtung dieser enormen Masse von Material, das die Spione bei der zweiten Wahl gesammelt hatten, sowohl jene, die sich zum Abhören der Gespräche in die Schlangen geschmuggelt hatten, als auch die anderen, die mit versteckten Videokameras und Mikrophonen an den Schlangen vorbeigefahren waren. Beginnend mit dieser Nachleseoperation in den Gedärmen des Geheimdienstes, vermittelte man den Agenten, bevor sie sich mit Eifer und dem Riecher von Spürhunden in die Feldarbeit stürzten, hinter verschlossenen Türen eine schnelle Forschungsgrundlage, und worum es dabei ging, haben wir ein paar Seiten weiter oben mit unseren kleinen, aber aussagekräftigen Beispielen bereits angedeutet. Einfache, gängige Sätze wie die folgenden, Normalerweise wähle ich gar nicht, aber heute hat’s mich hierher verschlagen, Mal sehen, ob das zu irgendwas gut ist, Der Krug geht zum Brunnen, bis der Henkel bricht, Beim letzten Mal habe ich auch gewählt, aber ich kam erst um vier Uhr aus dem Haus, Das ist wie bei der Lotterie, man geht fast immer leer aus, Trotzdem muss man durchhalten, Die Hoffnung ist wie das Salz, es nährt nicht, verleiht aber dem Brot seinen Geschmack, stundenlang wurden diese und tausend andere gleichermaßen harmlose, gleichermaßen neutrale, gleichermaßen unschuldige Sätze bis in die letzte Silbe zerstückelt, zerkrümelt, umgekehrt, im Mörser unter dem Stößel der Fragen zermahlen, Erklären Sie mir doch, was das für ein Krug ist, Warum ist der Henkel am Brunnen abgegangen und nicht auf dem Weg oder zu Hause, Wenn Sie normalerweise gar nicht wählen, warum haben Sie dann diesmal gewählt, Wenn die Hoffnung wie das Salz ist, was sollte man dann Ihrer Meinung nach tun, damit das Salz wie die Hoffnung wird, Wie würden sie den Farbunterschied zwischen der Hoffnung, die grün ist, und dem Salz, das weiß ist, erklären, Glauben Sie wirklich, der Wahlschein sei so etwas wie ein Lottoschein, Was wollten Sie damit sagen, als Sie das Wort leer benutzten, und erneut, Was für ein Krug ist das, Gingen Sie zum Brunnen, weil Sie Durst hatten, oder wollten Sie dort jemanden treffen, Wofür steht der Henkel des Kruges, Wenn Sie Salz in Ihr Essen geben, glauben Sie dann, Sie legen Hoffnung hinein, Warum tragen Sie ein weißes Hemd, Was war das nun für ein Krug, ein echter oder ein metaphorischer, Und der Ton, welche Farbe hatte er, war er schwarz, war er rot, War er glatt oder verziert, Gab es Einlegearbeiten aus Quarz darauf, Wissen Sie, was Quarz ist, Haben Sie schon mal im Lotto gewonnen, Warum sind Sie bei der ersten Wahl erst um vier Uhr aus dem Haus gegangen, wenn es doch schon seit über zwei Stunden nicht mehr regnete, Wer ist die Frau neben Ihnen auf dem Foto, Worüber lachen Sie so herzhaft, Meinen Sie nicht, ein so gewichtiger Akt wie der des Wählens hätte eine würdige, ernste und überzeugte Haltung der verantwortungsbewussten Wähler verdient, oder sind Sie der Meinung, die Demokratie sei eher was zum Lachen, Oder denken Sie, sie sei etwas zum Weinen, Eher zum Lachen oder zum Weinen, Sagen Sie mir noch was zu dem Krug, warum kamen Sie nicht auf die Idee, den Henkel wieder anzukleben, dafür gibt es doch Spezialkleber, Bedeutet dieses Zögern, dass Ihnen auch ein Henkel fehlt, Welcher, Gefällt Ihnen die Zeit, in der Sie leben, oder würden Sie lieber in einer anderen leben, Kommen wir noch einmal auf das Salz und die Hoffnung zurück, welche Menge an Hoffnung nimmt man am besten, damit das, was man sich erwartet, nicht ungenießbar wird, Sind Sie müde, Wollen Sie nach Hause, Werden Sie nicht ungeduldig, Ungeduld ist der schlechteste Ratgeber, man überlegt nicht mehr gut, was man antwortet, und das kann fatale Folgen haben, Nein, Sie sind nicht verloren, wo denken Sie hin, Sie haben nur offensichtlich noch nicht verstanden, dass man hier drin nicht verloren gehen, sondern nur gefunden werden kann, Ganz ruhig, wir bedrohen Sie nicht, wir wollen doch nur, dass Sie nicht ungeduldig werden, mehr nicht. An diesem Punkt, an dem das Opfer bereits in die Enge getrieben und ausgeliefert war, wurde ihm schließlich die verhängnisvolle Frage gestellt, Und jetzt sagen Sie mir doch, wie Sie gewählt haben, das heißt, welcher Partei Sie Ihre Stimme geschenkt haben. Da zu diesem Verhör fünfhundert in den Wählerschlangen aufgespürte Verdächtige geladen worden waren, wobei jeder von uns sich in dieser Lage befinden könnte, da die Vorwürfe absolut haltlos waren, wie wir anhand der armseligen, von den Richtmikrophonen und Aufnahmegeräten eingefangenen Beispielsätzen überzeugend belegen konnten, wäre es in Anbetracht der relativen Größe des befragten Universums nur logisch, dass die Antworten annähernd der Stimmenverteilung bei der Wahl entsprächen, mit einer kleinen Fehlertoleranz natürlich, das heißt, dass vierzig Personen voller Stolz erklärten, die Partei der Rechten, nämlich die Regierungspartei, gewählt zu haben, dass dieselbe Anzahl von Personen mit leisem Trotz behauptete, die einzige wirklich diesen Namen verdienende Oppositionspartei gewählt zu haben, nämlich die Partei der Mitte, und dass fünf, lediglich fünf in die Ecke gedrängte, an die Wand gedrückte Personen mit fester Stimme, doch zugleich auch in einem Ton, als wollten sie sich für einen Starrsinn entschuldigen, für den sie nichts konnten, erklärten, Ich habe die Partei der Linken gewählt. Die übrigen, dieser enorme Rest von vierhundertfünfzehn, hätte nach Logik der Meinungsforschung sagen müssen, Ich habe einen weißen Stimmzettel abgegeben. Diese klare Antwort, ohne dünkelhafte oder diplomatische Zweideutigkeit, würde ein Computer oder eine Rechenmaschine geben, und es wäre die einzige, die ihr unveränderliches, rechtschaffenes Wesen, nämlich das informatische und das mechanische, zuließe, doch wir haben es hier mit Menschen zu tun, und die Menschen gelten allgemein als die einzigen Lebewesen, die imstande sind zu lügen, wobei sie dies nachweislich aus Angst oder Eigennutz tun, manchmal jedoch auch, weil sie rechtzeitig erkannt haben, dass es der einzige Weg zur Verteidigung der Wahrheit ist. Allem Anschein nach war der Plan des Innenministeriums also gescheitert, und in der Tat herrschte in dieser ersten Zeit eine peinliche Ratlosigkeit bei den Assistenten, es wollte schier unmöglich scheinen, den unerwarteten Widerstand zu brechen, außer man ließe all diese Leute foltern, was, wie wir alle wissen, nicht gern gesehen wird in demokratischen Staaten, die über die entsprechenden Rechtsmittel verfügen, um diese Ziele zu erreichen, ohne auf so primitive, mittelalterliche Methoden zurückgreifen zu müssen. In dieser komplizierten Lage bewies schließlich der Innenminister seine ganze politische Größe und zudem eine ungewöhnliche taktische und strategische Gewandtheit, weshalb ihm vielleicht Höheres winkt im Leben, wer weiß. Er traf zwei Entscheidungen, und beide waren wichtig. Die erste, die später für ausgesprochen machiavellistisch erklärt werden sollte und Bestandteil einer offiziellen, von der staatlichen Presseagentur herausgegebenen Mitteilung des Ministeriums an die Medien war, stellte eine rührende Danksagung der Regierung an die fünfhundert Musterbürger dar, die sich in den letzten Tagen aus freien Stücken bei den Behörden gemeldet hätten, um ihre loyale Unterstützung und die uneingeschränkte Mitarbeit bei den derzeit laufenden Untersuchungen der bei den letzten Wahlen festgestellten Unregelmäßigkeiten anzubieten. Zusammen mit diesem Dank bat das Ministerium, Fragen vorgreifend, die Familien dieser Personen, sich nicht zu wundern oder zu sorgen über fehlende Lebenszeichen ihrer lieben Angehörigen, läge doch genau in diesem Schweigen der Schlüssel für deren persönliche Sicherheit, da diese heikle Mission mit der höchsten Sicherheitsstufe, nämlich rot/rot, belegt worden sei. Die zweite, nur intern bekannt gegebene und umgesetzte Entscheidung, beinhaltete die vollkommene Abkehr von dem zunächst entwickelten Plan, der, wie wir uns sicher erinnern werden, das massive Eindringen von Agenten in den Schoß der Massen als das probateste Mittel zur Aufdeckung des Geheimnisses, Rätsels, Mysteriums, oder wie immer man es nennen will, der weißen Stimmzettel erachtete. Von nun an sollten die Agenten in zwei unterschiedlich großen Gruppen arbeiten, wobei die kleinere für die Feldarbeit zuständig wäre, von der man sich, ehrlich gesagt, kaum noch etwas erhoffte, und die größere mit den Verhören der fünfhundert in Gewahrsam genommenen, wohlgemerkt nicht inhaftierten Personen fortfahren und nötigenfalls den körperlichen und psychischen Druck, dem sie bereits ausgesetzt waren, noch erhöhen sollte. So wie das alte Sprichwort es jahrhundertelang gelehrt hat, Lieber fünfhundert Spatzen in der Hand als fünfhundertundeine Tauben auf dem Dach. Die Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten. Als der Agent fürs Feld, sprich, für die Stadt, nach langen diplomatischen