Название | Die Stadt der Sehenden |
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Автор произведения | Жозе Сарамаго |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783455812787 |
Die beeindruckende Gelassenheit der Wähler auf der Straße und in den Wahllokalen entsprach nicht der Stimmung in den Ministerien und Parteizentralen. Die Frage, die die einen wie die anderen beschäftigt, ist, wie hoch wird diesmal die Zahl der Nichtwähler ausfallen, als fände sich darin der Schlüssel zum Ausweg aus dieser schwierigen gesellschaftlichen und politischen Lage, in der das Land seit einer Woche steckt. Eine relativ hohe Zahl von Nichtwählern, vielleicht sogar über das Höchstmaß früherer Wahlen hinausgehend, doch nicht zu extrem, würde bedeuten, dass man zur Normalität zurückgekehrt ist, zur gewohnten Routine der Wähler, die nie an den Nutzen einer Wahl geglaubt haben und daher mit Abwesenheit glänzen, von solchen, die lieber das schöne Wetter ausnutzen und mit der Familie einen Tag am Strand oder auf dem Land verbringen, oder solchen, die einfach nur aus unüberwindlicher Faulheit zu Hause bleiben. Hatte der Urnenansturm, beinahe ebenso heftig wie bei der letzten Wahl, den Behörden bereits zweifelsfrei angezeigt, dass der Prozentsatz der Nichtwähler sehr gering ausfallen oder gar gegen null gehen werde, so verwirrte sie nun am meisten, ja, brachte sie fast um den Verstand, dass die Wähler mit einigen wenigen Ausnahmen mit undurchdringlichem Schweigen auf die Frage der Meinungsforscher reagierten, wie sie denn gewählt hätten, Es ist doch nur für statistische Zwecke, Sie müssen sich doch gar nicht ausweisen, nicht Ihren Namen angeben, insistierten sie, doch nicht einmal damit konnten sie die misstrauischen Wähler überzeugen. Vor einer Woche hatten die Journalisten es noch geschafft, Antworten zu bekommen, die zwar gelegentlich ungehalten, gelegentlich auch ironisch oder verächtlich ausfielen, Antworten, die in Wirklichkeit eher ein Schweigen waren, doch zumindest hatte es einen Wortwechsel gegeben, einer hatte gefragt, der andere geantwortet, kein Vergleich zu dieser undurchdringlichen Mauer des Schweigens, zu diesem Geheimnis, das zu hüten sich alle geschworen hatten. Vielen von uns mag dieses übereinstimmende Handeln Tausender und Abertausender Menschen, die sich nicht kennen, nicht das Gleiche denken, verschiedenen gesellschaftlichen Klassen oder Schichten angehören, kurzum, die politisch rechts, in der Mitte oder links stehen, wenn nicht gar nirgendwo, seltsam oder abwegig vorkommen, und doch hat jeder für sich beschlossen, bis zur Stimmauszählung den Mund zu halten und das Geheimnis erst später zu lüften. Das versuchte der Innenminister in der Hoffnung, Recht zu behalten, dem Premierminister weiszumachen, das gab der Premierminister eilends an den Staatschef weiter, der, da er älter war, mehr Erfahrung und mehr Schwielen an den Händen hatte, mehr erlebt und mehr gesehen hatte, nur träge antwortete, Wenn sie jetzt nicht reden wollen, dann nennen Sie mir doch bitte einen Grund, weshalb sie hinterher reden sollten. Dieser Eimer kalten Wassers, ausgekippt vom höchsten Beamten der Nation, nahm dem Premierminister und dem Innenminister nur deshalb nicht allen Mut, stürzte sie nur deshalb nicht in Verzweiflung, weil sie schon nichts mehr hatten, an das sie sich hätten klammern können, und sei es auch nur vorübergehend. Der Innenminister hatte keine Lust gehabt, die beiden darüber zu informieren, dass er aus Angst vor möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, eine Befürchtung, die inzwischen von den Tatsachen entkräftet worden war, in allen Wahllokalen der Stadt zwei Zivilbeamte der Sicherheitskräfte hatte einsetzen lassen, die befugt waren, die Wahlhandlungen zu überprüfen, und zugleich jeweils den Auftrag hatten, ihren Kollegen zu überwachen, damit sich dort keine ernsthaften politischen Seilschaften bildeten oder auch nur schmierige Kungeleien ergaben. So wirkte mit all den Spionen und Beobachtern, den Aufnahmegeräten und Videokameras alles sicher, sogar bombensicher, vor bösen Machenschaften geschützt, die die Reinheit des Wahlaktes trüben könnten, und nun, da das Spiel vorbei war, galt es, die Arme zu verschränken und das endgültige Urteil der Urnen abzuwarten. Als im Wahllokal Nummer vierzehn, dem wir als Hommage an die pflichtbewussten Bürger ein ganzes Kapitel widmen durften, ohne gewisse persönliche Probleme Einzelner auszulassen, als in all den übrigen Wahllokalen, von Nummer eins bis dreizehn, von Nummer fünfzehn bis vierundvierzig, die jeweiligen Wahlvorsteher die Stimmzettel auf die langen Bänke leerten, die ihnen als Tische gedient hatten, brach ein wildes Gerücht wie eine Lawine in die Stadt ein. Es war der Vorbote des politischen Erdbebens, das sich bald darauf ereignen sollte. In den Häusern, Cafés, Kneipen und Bars, auf sämtlichen öffentlichen Plätzen, wo es einen Fernseher oder einen Radioempfänger gab, warteten die Hauptstadtbewohner, ruhiger die einen, weniger ruhig die anderen, auf das Ergebnis der Auszählung. Niemand vertraute seinem Nachbarn an, wie er gewählt hatte, die engsten Freunde bewahrten Stillschweigen, den geschwätzigsten Menschen fehlten anscheinend die Worte. Um zehn Uhr abends erschien endlich im Fernsehen der Premierminister. Sein Gesicht wirkte verändert, er hatte tiefe Ringe unter den Augen, Auswirkung einer Woche voller schlafloser Nächte, und trotz der Gesundheit vortäuschenden Maske war er blass. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, doch las er kaum ab, warf nur gelegentlich einen Blick darauf, um nicht den Faden zu verlieren, Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sagte er, das Ergebnis der heute in der Landeshauptstadt durchgeführten Wahl lautet wie folgt, Partei der Rechten, acht Prozent, Partei der Mitte, acht Prozent, Partei der Linken, ein Prozent, Enthaltungen, null Prozent, ungültige Stimmen, null Prozent, leere Stimmzettel, dreiundachtzig Prozent. Er machte eine Pause, um das Wasserglas an die Lippen zu führen, das er neben sich stehen hatte, und fuhr fort, Obgleich die Regierung erkennen muss, dass die heutige Wahl die bereits letzten Sonntag ausgemachte Tendenz bestätigt und erhärtet, und daher einhellig eine gründliche Untersuchung aller nur denkbaren Gründe für diese beunruhigenden Ergebnisse befürwortet, sieht sie nach Beratung mit seiner Exzellenz, dem Staatschef, ihre Berechtigung zum Weiterregieren dennoch nicht in Frage gestellt, und zwar nicht nur, weil die heute durchgeführte Wahl lediglich eine Kommunalwahl war, sondern auch, weil sie es als ihre vornehmliche und dringende Pflicht erachtet, diese abnormen Ereignisse, die wir in der letzten Woche als verblüffte Zeugen sowie als ängstliche Akteure miterlebt haben, mit aller Konsequenz aufzuklären, und wenn ich dies voller Schmerz sage, dann deswegen, weil diese leeren, weißen Stimmzettel, ein brutaler Schlag gegen die demokratische Normalität unseres Lebens und Gemeinwesens, weder vom Himmel gefallen noch aus dem Innern der Erde aufgestiegen sind, dreiundachtzig von hundert Wählern dieser Stadt haben sie in ihren Taschen getragen und mit eigener, jedoch nicht patriotischer Hand in die Urne geworfen. Ein weiterer Schluck Wasser, diesmal dringender benötigt, da ihm der Mund plötzlich trocken geworden war, Es ist noch Zeit, den Fehler zu