Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго

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Название Die Stadt der Sehenden
Автор произведения Жозе Сарамаго
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455812787



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müsste, und das wäre wirklich eine wundersame Gerechtigkeit, selbst wenn es vielleicht auf den ersten Blick skandalös erschiene, da es doch in dem ganzen Prozess nicht den geringsten Hinweis auf eine Nichtschuld des Angeklagten gab. Wir erzittern bei der bloßen Vorstellung, was diesem Unschuldigen morgen womöglich widerfahren wird, wenn man ihn zum Verhör führt, Geben Sie zu, dass Sie zu dem Menschen, mit dem Sie sprachen, gesagt haben, Eines Tages musste es so kommen, Ja, das gebe ich zu, Überlegen Sie gut, bevor Sie antworten, was haben Sie mit diesen Worten gemeint, Wir haben über meine Trennung gesprochen, Trennung oder Scheidung, Scheidung, Und was waren, was sind Ihre Gefühle in Bezug auf diese Scheidung, Ich glaube, ein wenig Wut und ein wenig Resignation, Mehr Wut oder mehr Resignation, Mehr Resignation, nehme ich an, Finden Sie nicht, dass es in dem Fall das Normalste gewesen wäre, einen Seufzer auszustoßen, zumal Sie mit einem Freund gesprochen haben, Ich könnte nicht beschwören, dass ich nicht geseufzt habe, ich weiß es nicht mehr, Aber wir haben die Gewissheit, dass Sie nicht geseufzt haben, Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie gar nicht dabei waren, Und wer sagt Ihnen, dass wir nicht dabei waren, Vielleicht kann sich ja mein Freund daran erinnern, dass ich geseufzt habe, Sie müssten ihn nur fragen, Offensichtlich bedeutet er ihnen als Freund nicht sehr viel, Was soll das heißen, Ihren Freund kommen zu lassen, bedeutet, ihm Scherereien zu machen, O nein, das will ich nicht, Na schön, Kann ich dann gehen, Wo denken Sie hin, mein Herr, nur keine Eile, erst müssen Sie uns noch die Frage beantworten, die wir Ihnen gestellt haben, Welche Frage, Woran Sie wirklich dachten, als Sie diese Worte zu Ihrem Freund sagten, Das habe ich doch bereits beantwortet, Geben Sie uns eine andere Antwort, die letzte hat nichts getaugt, Es war die Einzige, die ich Ihnen geben konnte, weil es die wahre ist, Das meinen Sie, Außer ich würde jetzt etwas erfinden, Tun Sie das, uns stört es überhaupt nicht, wenn Sie die Antworten erfinden, die Sie für richtig halten, mit etwas Zeit, Geduld und den entsprechenden Techniken werden Sie schon darauf kommen, was wir hören wollen, Dann sagen Sie es mir doch, und wir beenden das Ganze, O nein, das wäre doch völlig witzlos, wofür halten Sie uns denn, mein lieber Herr, wir haben hier doch einen wissenschaftlichen Standard, ein Berufsethos zu verteidigen, für uns ist es ganz wichtig, unseren Vorgesetzten zeigen zu können, dass wir das Geld, das sie uns zahlen, und das Brot, das wir essen, auch verdienen, Ich bin verloren, Nicht so hastig.

      Die beeindruckende Gelassenheit der Wähler auf der Straße und in den Wahllokalen entsprach nicht der Stimmung in den Ministerien und Parteizentralen. Die Frage, die die einen wie die anderen beschäftigt, ist, wie hoch wird diesmal die Zahl der Nichtwähler ausfallen, als fände sich darin der Schlüssel zum Ausweg aus dieser schwierigen gesellschaftlichen und politischen Lage, in der das Land seit einer Woche steckt. Eine relativ hohe Zahl von Nichtwählern, vielleicht sogar über das Höchstmaß früherer Wahlen hinausgehend, doch nicht zu extrem, würde bedeuten, dass man zur Normalität zurückgekehrt ist, zur gewohnten Routine der Wähler, die nie an den Nutzen einer Wahl geglaubt haben und daher mit Abwesenheit glänzen, von solchen, die lieber das schöne Wetter ausnutzen und mit der Familie einen Tag am Strand oder auf dem Land verbringen, oder solchen, die einfach nur aus unüberwindlicher Faulheit zu Hause bleiben. Hatte der Urnenansturm, beinahe ebenso heftig wie bei der letzten Wahl, den Behörden bereits zweifelsfrei angezeigt, dass der Prozentsatz der Nichtwähler sehr gering ausfallen oder gar gegen null gehen werde, so verwirrte sie nun am meisten, ja, brachte sie fast um den Verstand, dass die Wähler mit einigen wenigen Ausnahmen mit undurchdringlichem Schweigen auf die Frage der Meinungsforscher reagierten, wie sie denn gewählt hätten, Es ist doch nur für statistische Zwecke, Sie müssen sich doch gar nicht ausweisen, nicht Ihren Namen angeben, insistierten sie, doch nicht einmal damit konnten sie die misstrauischen Wähler überzeugen. Vor einer Woche hatten die Journalisten es noch geschafft, Antworten zu bekommen, die zwar gelegentlich ungehalten, gelegentlich auch ironisch oder verächtlich ausfielen, Antworten, die in Wirklichkeit eher ein Schweigen waren, doch zumindest hatte es einen Wortwechsel gegeben, einer hatte gefragt, der andere geantwortet, kein Vergleich zu dieser undurchdringlichen Mauer des Schweigens, zu diesem Geheimnis, das zu hüten sich alle geschworen hatten. Vielen von uns mag dieses übereinstimmende Handeln Tausender und Abertausender Menschen, die sich nicht kennen, nicht das Gleiche denken, verschiedenen gesellschaftlichen Klassen oder Schichten angehören, kurzum, die politisch rechts, in der Mitte oder links stehen, wenn nicht gar nirgendwo, seltsam oder abwegig vorkommen, und doch hat jeder für sich beschlossen, bis zur Stimmauszählung den Mund zu halten und das Geheimnis erst später zu lüften. Das versuchte der Innenminister in der Hoffnung, Recht zu behalten, dem Premierminister weiszumachen, das gab der Premierminister eilends an den Staatschef weiter, der, da er älter war, mehr Erfahrung und mehr Schwielen an den Händen hatte, mehr erlebt und mehr gesehen hatte, nur träge antwortete, Wenn sie jetzt nicht reden wollen, dann nennen Sie mir doch bitte einen Grund, weshalb sie hinterher reden sollten. Dieser Eimer kalten Wassers, ausgekippt vom höchsten Beamten der Nation, nahm dem Premierminister und dem Innenminister nur deshalb nicht allen Mut, stürzte sie nur deshalb nicht in Verzweiflung, weil sie schon nichts mehr hatten, an das sie sich hätten klammern können, und sei es auch nur vorübergehend. Der Innenminister hatte keine Lust gehabt, die beiden darüber zu informieren, dass er aus Angst vor möglichen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, eine Befürchtung, die inzwischen von den Tatsachen entkräftet worden war, in allen Wahllokalen der Stadt zwei Zivilbeamte der Sicherheitskräfte hatte einsetzen lassen, die befugt waren, die Wahlhandlungen zu überprüfen, und zugleich jeweils den Auftrag hatten, ihren Kollegen zu überwachen, damit sich dort keine ernsthaften politischen Seilschaften bildeten oder auch nur schmierige Kungeleien ergaben. So wirkte mit all den Spionen und Beobachtern, den Aufnahmegeräten und Videokameras alles sicher, sogar bombensicher, vor bösen Machenschaften geschützt, die die Reinheit des Wahlaktes trüben könnten, und nun, da das Spiel vorbei war, galt es, die Arme zu verschränken und das endgültige Urteil der Urnen abzuwarten. Als im Wahllokal Nummer vierzehn, dem wir als Hommage an die pflichtbewussten Bürger ein ganzes Kapitel widmen durften, ohne gewisse persönliche Probleme Einzelner auszulassen, als in all den übrigen Wahllokalen, von Nummer eins bis dreizehn, von Nummer fünfzehn bis vierundvierzig, die jeweiligen Wahlvorsteher die Stimmzettel auf die langen Bänke leerten, die ihnen als Tische gedient hatten, brach ein wildes Gerücht wie eine Lawine in die Stadt ein. Es war der Vorbote des politischen Erdbebens, das sich bald darauf ereignen sollte. In den Häusern, Cafés, Kneipen und Bars, auf sämtlichen öffentlichen Plätzen, wo es einen Fernseher oder einen Radioempfänger gab, warteten die Hauptstadtbewohner, ruhiger die einen, weniger ruhig die anderen, auf das Ergebnis der Auszählung. Niemand vertraute seinem Nachbarn an, wie er gewählt hatte, die engsten Freunde bewahrten Stillschweigen, den geschwätzigsten Menschen fehlten anscheinend die Worte. Um zehn Uhr abends erschien endlich im Fernsehen der Premierminister. Sein Gesicht wirkte verändert, er hatte tiefe Ringe unter den Augen, Auswirkung einer Woche voller schlafloser Nächte, und trotz der Gesundheit vortäuschenden Maske war er blass. In der Hand hielt er ein Blatt Papier, doch las er kaum ab, warf nur gelegentlich einen Blick darauf, um nicht den Faden zu verlieren, Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sagte er, das Ergebnis der heute in der Landeshauptstadt durchgeführten Wahl lautet wie folgt, Partei der Rechten, acht Prozent, Partei der Mitte, acht Prozent, Partei der Linken, ein Prozent, Enthaltungen, null Prozent, ungültige Stimmen, null Prozent, leere Stimmzettel, dreiundachtzig Prozent. Er machte eine Pause, um das Wasserglas an die Lippen zu führen, das er neben sich stehen hatte, und fuhr fort, Obgleich die Regierung erkennen muss, dass die heutige Wahl die bereits letzten Sonntag ausgemachte Tendenz bestätigt und erhärtet, und daher einhellig eine gründliche Untersuchung aller nur denkbaren Gründe für diese beunruhigenden Ergebnisse befürwortet, sieht sie nach Beratung mit seiner Exzellenz, dem Staatschef, ihre Berechtigung zum Weiterregieren dennoch nicht in Frage gestellt, und zwar nicht nur, weil die heute durchgeführte Wahl lediglich eine Kommunalwahl war, sondern auch, weil sie es als ihre vornehmliche und dringende Pflicht erachtet, diese abnormen Ereignisse, die wir in der letzten Woche als verblüffte Zeugen sowie als ängstliche Akteure miterlebt haben, mit aller Konsequenz aufzuklären, und wenn ich dies voller Schmerz sage, dann deswegen, weil diese leeren, weißen Stimmzettel, ein brutaler Schlag gegen die demokratische Normalität unseres Lebens und Gemeinwesens, weder vom Himmel gefallen noch aus dem Innern der Erde aufgestiegen sind, dreiundachtzig von hundert Wählern dieser Stadt haben sie in ihren Taschen getragen und mit eigener, jedoch nicht patriotischer Hand in die Urne geworfen. Ein weiterer Schluck Wasser, diesmal dringender benötigt, da ihm der Mund plötzlich trocken geworden war, Es ist noch Zeit, den Fehler zu