Название | Die Stadt der Sehenden |
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Автор произведения | Жозе Сарамаго |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783455812787 |
Wie alle anderen Wahlvorsteher der Stadt war sich der des Wahllokals Nummer vierzehn sehr wohl bewusst, dass er einem einzigartigen historischen Augenblick beiwohnte. Zu fortgeschrittener Stunde, als das Innenministerium bereits eine zweistündige Verlängerung der Wahlzeit zugestanden hatte, die später noch einmal um eine halbe Stunde ausgedehnt werden musste, damit all die Wähler, die sich in dem Gebäude drängten, ihr Wahlrecht ausüben konnten, als der erschöpfte und hungrige Wahlvorstand zusammen mit den Parteienvertretern endlich vor dem Berg von Stimmzetteln stand, die der Inhalt der beiden Urnen ergeben hatte, wobei die zweite auf die Schnelle beim Ministerium hatte angefordert werden müssen, ließ sie die Dimension der bevorstehenden Aufgabe erzittern, in einem Gefühl, das wir ohne Scheu als episch oder heroisch bezeichnen wollen, als seien die guten Geister der Heimat auf magische Weise in diesen Zetteln wiedererstanden. Einer dieser Zettel stammte von der Frau des Wahlvorstehers. Ein Impuls hatte sie bewogen, das Kino zu verlassen und wählen zu gehen, zwei Stunden brachte sie in einer Schlange zu, die im Schneckentempo voranschritt, und als sie endlich vor ihrem Mann stand, als sie ihn ihren Namen aussprechen hörte, verspürte sie in ihrem Herzen etwas, das vielleicht der Hauch eines alten Glücks war, lediglich der Hauch, dennoch dachte sie, dass sich allein deswegen das Kommen gelohnt hatte. Es war bereits nach Mitternacht, als die Auszählung abgeschlossen war. Die gültigen Stimmen machten nicht einmal fünfundzwanzig Prozent aus und verteilten sich auf die Partei der Rechten mit dreizehn, auf die der Mitte mit neun und die der Linken mit zweieinhalb Prozent. Es gab nur sehr wenige ungültige Stimmen, sehr wenige Nichtwähler. Alle anderen Stimmzettel, über siebzig Prozent, waren leer und weiß.
Verunsicherung, Bestürzung, aber auch Spott und Sarkasmus fegten über das Land. Die ländlichen Gemeinden, in denen die Wahl, von gelegentlichen wetterbedingten Verzögerungen abgesehen, ohne Zwischenfälle oder Überraschungen verlaufen war und Ergebnisse ähnlich denen früherer Jahre gebracht hatte, nämlich soundso viele gültige Stimmen, soundso viele eingefleischte Nichtwähler, unbedeutend wenige ungültige und leere Stimmzettel, diese Gemeinden, die der zentralistische Triumph so gedemütigt hatte, als die Hauptstadt sich vor dem ganzen Land als Beispiel wahren Bürgersinns hervorgetan hatte, konnten nun die Ohrfeige zurückgeben und sich über den albernen Hochmut einiger Herren lustig machen, die sich für etwas Besseres hielten, bloß weil sie durch irgendeinen Zufall in der Hauptstadt gelandet waren. Die Bezeichnung Diese Herren, hervorgebracht mit einem leichten Schürzen der Lippen, das bei jeder Silbe, um nicht zu sagen jedem Buchstaben, Verachtung ausdrückte, galt nicht jenen Menschen, die bis vier Uhr zu Hause geblieben und dann plötzlich, als hätten sie einen unwiderruflichen Befehl erhalten, zur Wahl geströmt waren, sondern der Regierung, die vorzeitig triumphiert hatte, den Parteien, die bereits mit den leeren, weißen Stimmzetteln zu pokern begonnen hatten, als seien sie ein zu erntender Weinberg und sie die Winzer, den Zeitungen und anderen Medien, die so leichtfertig von Beifall für die Sieger auf Verdammung der Verlierer umschalteten, als trügen sie selbst gar nichts zum Zustandekommen derartiger Katastrophen bei.
Gewiss waren die Spötter aus der Provinz irgendwie im Recht, doch wiederum auch nicht so sehr, wie sie glaubten. Hinter dieser ganzen politischen Aufregung, die sich wie eine ihre Zündschnur suchende Bombe durchs Land zieht, ist auch eine Unruhe wahrzunehmen, die man nicht laut zu benennen wagt, außer man ist unter seinesgleichen, ein Mensch unter intimsten Freunden, eine Partei mit ihrem Apparat, die Regierung unter sich, Was passiert, wenn die Wahl wiederholt wird, das ist die Frage, die alle mit leiser, verhaltener Stimme stellen, heimlich, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Es kursiert auch die Meinung, am besten sei es, nicht zu viel Staub aufzuwirbeln, sondern lieber alles beim Alten zu lassen, die PDR in der Regierung, die PDR im Rathaus, so zu tun, als sei nichts geschehen, sich vorzustellen, der Ausnahmezustand sei in der Hauptstadt ausgerufen und damit auch die verfassungsmäßigen Rechte aufgehoben worden, um dann, nach einiger Zeit, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, wenn das unheilvolle Ereignis sich in die Liste vergessener Vergangenheitsformen einreihen kann, endlich Neuwahlen vorzubereiten, beginnend mit einer ausgefeilten Kampagne voller Schwüre und Versprechungen, wobei gleichzeitig mit allen Mitteln verhindert werden muss, und zwar ohne über harmlose bis mittelschwere Unregelmäßigkeiten die Nase zu rümpfen, dass sich dieses Phänomen, dem ein namhafter Fachmann bereits den unbarmherzigen Namen politisch-soziale Teratologie gegeben hat, wiederholt. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen, die einwenden, die Gesetze seien heilig und das dort Festgelegte müsse eingehalten werden, auch wenn es für einige schmerzlich ist, und die Pfade der Verstohlenheit und Geheimabkommen führten geradewegs zu Chaos und Moralverlust, sprich, wenn das Gesetz besagt, im Falle einer Naturkatastrophe seien die Wahlen eine Woche später zu wiederholen, dann