Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter

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Название Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie
Автор произведения Jürgen Daviter
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783347103290



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Wissen“ eben nur die starke Überzeugung‚ also die subjektive Gewissheit gemeint ist.

      Wir sollten eine klare Vorstellung vom Begriff der Wahrheit haben und deutlich zwischen subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit unterscheiden. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff in der Formulierung‚ ein Satz sei wahr‚ wenn er mit der Wirklichkeit übereinstimmt‚ lässt denn auch keinen Raum für irgendeine subjektivistische Vorstellung von Wahrheit im Sinne von Gewissheit. Doch das zentrale Problem der Erkenntnistheorie ist nicht‚ was man unter Wahrheit versteht‚ auch nicht der Unterschied zwischen subjektiver Gewissheit und objektiver Wahrheit‚ nicht einmal‚ ob es Wahrheit überhaupt gibt oder nicht; denn dass es sie gibt‚ darf und muss man - unter der Voraussetzung einer von sprachfähigen Wesen belebten wirklichen Welt - voraussetzen‚ und zwar im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das zentrale Problem ist vielmehr‚ ob die Wahrheit - und wenn ja: auf welche Weise - unbezweifelbar zu erkennen ist‚ und wenn nicht‚ welches darunter liegende Maß an Sicherheit und Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisse erreichbar ist. Die zentrale Frage der Erkenntnistheorie ist die Frage nach der Erreichbarkeit von Objektivität im Sinne von sicherer Allgemeingültigkeit unserer Vorstellungen über die Welt.

       5. Realität‚ Objektsprache und Metasprache

      Wenn wir über die Korrespondenz zwischen einem Sprachgebilde und einer Tatsache reden‚ benutzen wir eine besondere Sprache.34 Die Sprache‚ in der wir über Tatsachen reden‚ z. B. dass die Erde sich dreht‚ nennt man Objektsprache. Die Sprache‚ in der wir - eine Ebene darüber - über solche objektsprachlichen Gebilde reden‚ nennt man Metasprache. Objektsprache: »Die Erde dreht sich.« Metasprache: ‚Der Satz »Die Erde dreht sich.« ist wahr.‘ Dieser Satz der Metasprache kann auf einer darüber liegenden Sprachebene (Meta-Metasprache) selbst wieder zum Gegenstand einer Aussage werden. Beispiel: „Das Sprachgebilde ‚Der Satz »Die Erde dreht sich.« ist wahr.‘ ist eine Sachaussage und kein Werturteil.“35

      Nun muss auch klar sein‚ dass wissenschaftliche Aussagen einerseits und erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Aussagen andererseits zueinander stehen wie objektsprachliche Aussagen und metasprachliche Aussagen: Die wissenschaftlichen Aussagen als objektsprachliche Aussagen über die Welt werden ihrerseits zum Objekt der erkenntnistheoretischen Aussagen. In den Wissenschaften wird überprüft‚ ob sich Dinge so verhalten‚ wie in Theorien (Hypothesen) angenommen wird. Auf der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ebene werden die wissenschaftlichen Aussagen beurteilt und bewertet‚ beispielsweise hinsichtlich ihrer Prüfbarkeit‚ Bewährung und schließlich der Vertretbarkeit von Wahrheitsansprüchen.36 Im Sinne dieses Objektcharakters der Wissenschaft kann man sagen: „Erkenntnistheorie verhält sich zur Naturwissenschaft ähnlich‚ wie diese zur Erfahrungswelt.“37 In einer gewissen Arbeitsteilung geht es in der Erkenntnistheorie eher um die Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis überhaupt‚ während in der Wissenschaftstheorie eher die methodologischen Möglichkeiten erörtert werden‚ die Grenzen möglicher Erkenntnis auszuschöpfen.

      Die hier besprochene Unterscheidung zwischen Ebene und Metaebene kann uns helfen‚ die Bedeutung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Erkenntnistheorie besser zu verstehen. Die Wissenschaftler dürfen den Erkenntnistheoretikern sagen: „Ihr mögt euch den Kopf zerbrechen‚ soviel ihr wollt: Die einzigen Erkenntnisse‚ auf die es letztlich ankommt‚ sind die Erkenntnisse über die Wirklichkeit selber. Nur sie können uns helfen‚ unser Leben zu bewältigen.“ Die Erkenntnistheoretiker können ihnen aber antworten: „Ihr könnt euch auf euren Wegen mit euren hausgemachten praktischen und Denkmethoden bemühen‚ so viel ihr wollt: Ohne unsere wohldurchdachten Ratschläge‚ welche Wege ihr einschlagen und wie ihr prinzipiell vorgehen müsst‚ d. h. wie und wonach ihr suchen müsst‚ würdet ihr doch nur im Dunkeln tappen und völlig unsicher bleiben‚ was ihr von euren Entdeckungen zu halten habt.“ Aber können wir uns denn auf die Erkenntnistheoretiker verlassen? In diesem Sinne mag hier der erste Satz des Vorwortes wiederholt werden. Dies ist die Leitfrage des Buches: Was bleibt als eine realistische Einschätzung unserer Erkenntnismöglichkeiten übrig‚ wenn wir einige der wichtigsten Erkenntnistheorien der Neuzeit auf den Prüfstand stellen?

      1 Ein ganz spezieller Unterschied zwischen dem essentialistischen und nominalistischen Begriffsverständnis wird im folgenden Zitat anschaulich beschrieben: „Während die essentialistische Interpretation eine Definition «normal»‚ das heißt von links nach rechts liest‚ muß eine Definition‚ wie sie gewöhnlich in der modernen Wissenschaft verwendet wird‚ von rückwärts nach vorne‚ das heißt von rechts nach links gelesen werden; denn sie beginnt mit der Definitionsformel und fragt nach einer kurzen und handlichen Bezeichnung‚ nach einer Art Etikette [sic] für sie. In der wissenschaftlichen Auffassung ist eine Definition wie etwa «Ein Fohlen ist ein junges Pferd» eine Antwort auf die Frage «Wie sollen wir ein junges Pferd nennen?»‚ nicht aber eine Antwort auf die Frage «Was ist ein junges Pferd?»[*]. … Den wissenschaftlichen Gebrauch von Definitionen‚ der durch das Vorgehen «von rechts nach links» gekennzeichnet ist‚ kann man im Gegensatz zur Aristotelischen oder essentialistischen Interpretation die nominalistische Interpretation nennen.“ (Karl R. Popper‚ Falsche Propheten. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‚ Bd. II‚ [Francke] Bern und München 19733‚ S. 21.) [*] Diese Frage ist in einer späteren Veröffentlichung (Karl Popper. Lesebuch‚ [Hrsg. David Miller]‚ [Mohr] Tübingen 1975‚ S. 76) durch die Frage „Was ist ein Fohlen?“ ersetzt worden. Da ja Leserichtungen in Bezug auf ein und denselben Satz‚ nämlich „Ein Fohlen ist ein junges Pferd.“‚ zur Diskussion stehen‚ entspricht die Frage „Was ist ein Fohlen?“ besser dem Sinn dessen‚ was Popper darstellen will. Zu einer ausführlicheren Darstellung und erkenntnistheoretisch kritischen Gegenüberstellung von Essentialismus und Nominalismus s. Karl R. Popper‚ Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‚ Bd. I‚ (Francke) Tübingen 19806‚ S. 59-62‚ sowie ders.‚ Falsche Propheten. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‚ Bd. II‚ a. a. O.‚ S. 15-30.

      2 Karl Popper‚ Das Elend des Historizismus‚ (Mohr) Tübingen 19692‚ S. 23.

      3 Siehe hierzu Aristoteles‚ Zweite Analytik‚ bes. II‚ 10-11; 19.

      4 Hans-Georg Gadamer‚ Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik‚ (Mohr) Tübingen 1990‚ S. 409.

      5 Ebd..

      6 Ebd.‚ S. 411. In demselben Sinne spricht Isaiah Berlin von der „Gefahr der unerlaubten ‚Reifikation’ - fälschlicherweise Wörter für Dinge‚ Metaphern für Realitäten zu halten …“. (Isaiah Berlin‚ Historical Inevitability‚ in: ders.‚ Four Essays on Liberty‚ (Oxford University Press) Oxford‚ New York 1969‚ S. 54‚ Fußnote 1‚ meine Übersetzung.)

      7 Karl R. Popper‚ Falsche Propheten. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‚ Bd. II‚ a. a. O.‚ S. 15.

      8 Karl R. Popper‚ Die erkenntnistheoretische Position der Evolutionären Erkenntnistheorie‚ in: Rupert Riedl und Franz M. Wuketits (Hrsg.)‚ Die Evolutionäre Erkenntnistheorie‚ (Parey) Berlin und Hamburg 1987‚ S. 36: „Die genaue Semantik des Wortes »Wissen« ist‚ daß Wissen s i c h e r e s Wissen ist. Ich kann nicht sagen: »Ich weiß‚ daß ich in Wien bin‚ obwohl ich es nur vermute.« [sic].“

      9 Gerhard Vollmer‚ Was können wir wissen? Bd. 1: Die Natur der Erkenntnis‚ (S. Hirzel) Stuttgart 19882‚ S. 72.

      10 Meyers Kleines Lexikon "Philosophie"‚ (Bibliographisches Institut) Mannheim‚ Wien‚ Zürich 1987‚ S. 344.

      11 David Hume‚ An Enquiry Concerning Human Understanding. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Englisch/Deutsch‚ (Reclams Universalbibliothek)‚ Stuttgart 2016‚ S. 387 f..

      12 Nicolai Hartmann‚ Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis‚ (Vereinigung wissenschaftlicher