Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter

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Название Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie
Автор произведения Jürgen Daviter
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783347103290



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darüber besteht aus Kenntnissen (Annahmen) über systematische‚ gesetzmäßige Zusammenhänge‚ also über Ursachen und ihre Wirkungen. Man sieht: Die Voraussetzung einer nicht chaotischen Welt ist für jede Erkenntnis zwingend‚ weil es in einer chaotischen Welt keine Gesetzmäßigkeiten geben könnte‚ man aus ihr also auch nichts lernen und von ihr nichts wissen könnte.

      Die Ansicht‚ dass es eine wirkliche Welt mit ebenso wirklichen Dingen und Ereignissen gibt‚ nennt man Realismus‚ oft auch ganz bescheiden hypothetischen Realismus‚ denn es ist eine philosophische Position‚ die selbst nicht beweisbar ist (dazu Näheres insbesondere im Kapitel über Hume). Der hypothetische Realismus „sieht selbst die Existenz der Welt nur als eine (wohl begründete) Vermutung an und versucht‚ Argumente zur Stützung dieser Hypothese zu finden.“9 Es sollte allerdings leicht fallen‚ solchen Argumenten zu vertrauen‚ denn „[a]ller Realismus im Sinne einer realistischen Grundhaltung ist Ausdruck der fundamentalen Tatsache‚ dass ohne die Annahme einer realen‚ wirklich existierenden Welt (= Summe realer Vorkommnisse) unser gesamter Lebenszusammenhang‚ alle Erfahrungen‚ Handlungen sowie der Umstand‚ daß wir miteinander kommunizieren (können)‚ nicht nur sinnentleert‚ sondern gänzlich unbegreiflich wäre.“10 Und Hume schreibt: „Es scheint offenkundig‚ dass die Menschen durch einen natürlichen Instinkt oder eine Voreingenommenheit zum Vertrauen in ihre Sinne gebracht werden‚ und dass wir ohne jegliches Denken‚ ja selbst fast vor dem Gebrauch der Vernunft‚ immer eine Außenwelt annehmen‚ die nicht von unserer Perzeption abhängt‚ sondern auch existieren würde‚ wenn wir und jedes vernünftige Geschöpf nicht vorhanden oder vernichtet worden wären.“11

      Aus all diesen guten Gründen hat Nicolai Hartmann seine Grundzüge der Metaphysik der Erkenntnis mit dem Satz begonnen: „Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus‚ dass Erkenntnis nicht ein Erschaffen‚ Erzeugen‚ oder Hervorbringen des Gegenstandes ist‚ wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will‚ sondern ein Erfassen von etwas‚ das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist.“12 In der Evolutionären Erkenntnistheorie findet diese Position des hypothetischen Realismus und eine darin eingebettete Erkenntnistheorie übrigens eine eindrucksvolle empirische Unterstützung (s. dazu das letzte Kapitel).

       3. Begriff der Wahrheit

      Ist auf diese Weise die Existenz einer realen‚ nichtchaotischen Welt vorausgesetzt‚ lässt sich eine nachvollziehbare Definition des Begriffs der Wahrheit vorschlagen: Ein Satz ist wahr‚ wenn er mit den Tatsachen oder mit der Wirklichkeit übereinstimmt‚ mit ihr „korrespondiert“: „Die Aussage ‚Schnee ist weiß‘ ist wahr genau dann‚ wenn Schnee weiß ist.“13 Diese Konzeption der Wahrheit wird von Alfred Tarski‚ ihrem modernen Begründer‚ „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ genannt (obwohl Tarski selber den Begriff nicht für sich reklamiert‚ s. Tarski‚ S. 143). Es ist ganz wichtig‚ genau zu verstehen‚ was es mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit auf sich hat; denn der Begriff wird oft überinterpretiert. Tarski selbst nennt das Hauptproblem seines Aufsatzes eine befriedigende Definition des Begriffs der Wahrheit: „Unsere Diskussion kreist um den Begriff der Wahrheit. Das Hauptproblem ist eine befriedigende Definition dieses Begriffs‚ … .“ (Tarski‚ S. 141) Es geht also um einen Vorschlag darüber‚ wie man den Begriff der Wahrheit verstehen sollte‚ nicht um die erkenntnistheoretisch letztlich entscheidende Frage‚ wie wir die Wahrheit über die Dinge herausfinden können‚ ob es also sichere Kriterien der Wahrheit gibt.

      Die Korrespondenztheorie der Wahrheit hat eine sehr alte Tradition; sie reicht mindestens bis auf Aristoteles zurück: Tarski (S. 142 f.) möchte‚ dass seine „Definition den Intuitionen der klassischen aristotelischen Konzeption der Wahrheit gerecht wird - die ihren Ausdruck in den wohlbekannten Worten der Metaphysik des Aristoteles finden: Von etwas‚ das ist‚ zu sagen‚ daß es nicht ist‚ oder von etwas‚ das nicht ist‚ daß es ist‚ ist falsch‚ während von etwas‚ das ist‚ zu sagen‚ daß es ist‚ oder von etwas‚ das nicht ist‚ daß es nicht ist‚ wahr ist.“ Auch Kant ist ein Vertreter dieser korrespondenztheoretischen Version der Wahrheit: „Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit‚ daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei‚ wird hier geschenkt‚ und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen‚ welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.“14 Auch Kant unterscheidet also ausdrücklich zwischen Namenerklärung‚ also Definition des Begriffs der Wahrheit‚ und Kriterium der Wahrheit‚ also dem‚ woran man das Vorliegen der Wahrheit erkennen kann.

      Die Implikationen des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs hat Bertrand Russell mit den folgenden drei Aspekten umrissen: „1) Unsere Theorie muß auch das Gegenteil der Wahrheit‚ die Falschheit‚ zulassen. … 2) … In der Tat sind Wahrheit und Falschheit Eigenschaften von Meinungen und Aussagen‚ deshalb könnte eine bloß materielle Welt - eben weil sie keine Meinungen oder Aussagen enthielte - auch keine Wahrheit oder Falschheit enthalten. 3) Des eben Gesagten ungeachtet müssen wir daran festhalten‚ daß die Wahrheit oder Falschheit einer Meinung immer von etwas abhängt‚ das außerhalb der Meinung selbst liegt.“15 „…[D]ie Idee der Wahrheit … kann als die Idee der zutreffenden Darstellung von Sachverhalten aufgefaßt werden‚ .…“16 Um zu guter Letzt zwei weitere Beispiele für diesen Gebrauch des Begriffs der Wahrheit zu bringen‚ hier zunächst die Version von Maimon‚ einem Zeitgenossen Kants: „Wahrheit ist das Verhältnis der Übereinstimmung zwischen dem Zeichen und bezeichneten Dinge‚ ….“17 Und Kant selber schreibt: „Wahrheit aber beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte‚ in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen.“18

      So klar verständlich und einleuchtend die korrespondenztheoretische Version des Wahrheitsbegriffs auch scheinen mag‚ so sehr ist sie doch in den Strudel großer Begriffsverwirrungen geraten. Das liegt daran‚ dass die Frage‚ was wir unter dem Begriff ‚wahr‘ verstehen sollten‚ mit dem Problem vermischt wurde‚ wie wir feststellen können‚ was wahr ist. Ein Ausgangspunkt der Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist‚ dass in ihm eine Beziehung zwischen einem Satz‚ also Sprache‚ und der Wirklichkeit hergestellt wird. Und der diesbezügliche Einwand lautet‚ dass auch die Wirklichkeit selber nicht anders als sprachlich dargestellt werden kann: Es gibt für die Wahrnehmung des Menschen keine „nackte“‚ an sich bestehende Wirklichkeit‚ an der dann die Wahrheit der Aussage überprüft werden könnte‚ sondern eine immer schon sprachlich formulierte Wirklichkeit. Habermas nennt die Wirklichkeit folgerichtig und griffig „sprachimprägniert“ und stellt diese anerkannte Tatsache kritisch der „Intuition [gegenüber]‚ von der das ontologische Paradigma gelebt hatte: daß die Wahrheit der Urteile durch eine in der Wirklichkeit selbst begründete Korrespondenz mit der Wirklichkeit verbürgt ist“19. „Weil wir unsere Sätze mit nichts konfrontieren können‚ was nicht selber schon sprachlich imprägniert ist‚ lassen sich keine Basisaussagen auszeichnen‚ die in der Weise privilegiert wären‚ dass sie sich von selbst legitimieren und als Grundlage einer linearen Begründungskette dienen könnten.“20 Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff wird also mit dem Argument kritisiert‚ dass er keinen gangbaren Weg zur Wahrheit eröffne. Dadurch wird die Diskussion über den Begriff der Wahrheit ohne Not mit der Diskussion über Wahrheitskriterien verbunden. Sinnfällig kommt diese Vermischung darin zum Ausdruck‚ dass Habermas in dem zitierten Kapitel Abschnitte über den semantischen‚ epistemischen und pragmatischen Wahrheitsbegriff bringt‚ sich darin aber vorrangig über die Erreichbarkeit der Wahrheit auslässt. Der Wahrheitsbegriff wird also bereits mit Problemen belastet‚ die er selber gar nicht aufwirft: Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff sagt nichts darüber aus - und will und soll es auch gar nicht -‚ ob und auf welche Weise „die Wahrheit der Urteile … verbürgt ist“. Beim Begriff der Wahrheit geraten Rechtfertigungsprobleme‚ das Hauptthema im zitierten Habermas-Aufsatz‚ also noch gar nicht ins Blickfeld. Dennoch führt bei Habermas und Apel die Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff geradenwegs zu ihrem Konzept