Tausend Monde. Sebastian Barry

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Название Tausend Monde
Автор произведения Sebastian Barry
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958298170



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sagte er.

      Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Jas Jonski ein glückliches Mädchen geheiratet. Obwohl Liges Farm, wie er selbst sagte, nach dem Krieg keine zwei Cent wert war, warf sie für unsere unmittelbaren Bedürfnisse doch genug ab. Und ich hatte eine gute Anstellung. Auch für John Cole und Thomas McNulty waren es glückliche Tage gewesen, denn es war die Zeit nach der großen Notlage, in die Thomas in Fort Leavenworth geraten war, bevor ihm sein alter Feldherr, Major Neale, zu Hilfe eilte und ihn vor dem Galgen rettete.

      Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als er nach seiner langen Zeit im Gefängnis nach Hause kam, und ich glaube, nie in der ganzen Weltgeschichte hat auf einem Hals ein glücklicheres Gesicht gesessen als Thomas McNultys Gesicht an jenem Tag. Die fünfhundert Meilen von Kansas war er ganz allein und zu Fuß hergekommen.

      John Cole und ich waren die halbe Strecke Richtung Stadt gegangen, weil wir wussten, dass Thomas McNulty sich rechts vom Wald halten, Paris meiden und am Saum der Bäume wieder auftauchen würde wie ein großer Hirschbock.

      Ich weiß nicht, ob Sie jemals gesehen haben, wie ein Mann einen anderen Mann in die Arme schließt, falls aber nicht, kann ich Ihnen versichern, es ist ein bewegender Anblick. Weil Männer immer glauben, kühl und tapfer sein zu müssen. Das mochte bei Jas Jonski der Fall sein, nicht aber bei meinen beiden Männern. Die umklammerten einander unter den zerzausten Bäumen, und mag sein, dass Thomas McNulty schlechter gekleidet war als jedes Unkraut des Waldes und John Cole in den Augen eines Fremden so verwildert wie ein Straßengraben, ich aber kannte ihre Geschichte, und so konnte ich die leidenschaftliche Kraft erahnen, die im Fieber dieser Umarmung brannte und sich von einer Brust zur anderen übertrug.

      Ich vermute, wenn ich einen Wunsch an Jas Jonski hatte, dann den, dass er mich auf dieselbe Art geliebt hätte.

      Danach schloss Rosalee mich in die Arme.

      Die Welt kann schon ziemlich traurig sein.

       Viertes Kapitel

      Wir hörten, dass Menschen anderswo hungerten. Im letzten Kriegsjahr war der gesamte Süden niedergebrannt worden, und mitunter hieß es, danach könne nur noch Unkraut gedeihen. Und dann ging die ganze weite Welt zum Teufel. Kein Geld auf den Banken. Wozu waren Banken denn sonst da, als Geld auf ihnen zu haben? Und der Paris Invigilator sprach von Countys, in denen ziellos große Mengen freigelassener Sklaven umherzogen. Fälle von Mord und Notzucht wurden aufgeführt, und niemand schien zu wissen, wann die Dinge eine Wendung zum Besseren nehmen würden. Wir hatten einen Präsidenten namens Andrew Johnson gehabt, der immer wieder behauptete, des armen toten Lincoln Abgesandter auf Erden zu sein, in Wahrheit aber die geschlagenen alten Rebellen liebte. Sagte Thomas. Und die geschlagenen Rebellen standen auf, standen überall wieder auf.

      Es war nicht das erste Mal, dass die Welt für mich aus nichts als Flut und Flammen bestand, auch nicht das erste Mal, dass ich schöne Tage genoss. Oder dass äußere Einflüsse sich gegen das Glück verschworen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, tat meine Mutter alles, um mich mit Glück zu überschütten. In meinem Volk war es ein Segen, ein Kind zu sein. Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften, und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein. Daran zumindest erinnere ich mich deutlich. Wir rannten zwischen den Tipis umher, und es gab nichts, was uns daran hindern konnte, ausgenommen vielleicht der Zorn eines übellaunigen Hundes. Während der heftigen Winterstürme mussten wir auf engstem Raum zusammenhocken, aber was machte das schon? Wir bekamen lange Streifen Trockenfleisch, und der Schnee wurde auf dem Feuer geschmolzen. Im tiefsten Winter muss unser Tipi wie eine im hohen Schnee verborgene Kuppe gewirkt haben, und nur die nach oben steigenden Rauchfahnen verrieten, wo wir kauerten. Meine Mutter hatte gute Geschichten im Kopf; die erzählte sie uns, während wir uns an ihre Beine schmiegten, um uns zu wärmen. Damals hatten wir unsere eigene Sprache, und selbst heute noch höre ich ihre murmelnde Stimme. Wenn ich zu ihr aufblickte, war ihr Atem wie ein leichter Windhauch auf meinem Gesicht. Ihre Arme ruhten auf unseren Rücken wie herabgefallene Äste, die man dort vergessen hatte. So erzählte sie ihre Geschichten. Von Wundern und seltsamen Zeiten. Indem sie jeden Moment unseres kindlichen Daseins zu einem guten Moment machte, vermittelte sie uns einen Eindruck vom weiten Land der Ewigkeit. Wie oft musste ich an ihren Knien weinen, weil ich so glücklich war!

      In unserem Stamm stand meine Mutter im Ruf großer Unerschrockenheit. Einmal, als sämtliche Männer fort waren, streifte ein Trupp Crow-Indianer, unsere Feinde, in der Nähe des Dorfes umher. Nur Frauen, Kinder und Alte waren zurückgeblieben. Diese Crow würden sich greifen, was sie nur konnten, und uns töten oder was immer sie mit uns vorhatten. Meine Mutter löste sich aus unserer kleinen Gruppe und ging bis zu der Stelle, wo sich die Crow versammelt hatten. Sie begrüßte sie freundlich und begann, mit ihnen zu sprechen, und bald unterhielten sie sich aufs Angenehmste, und so wurde die Katastrophe durch die Zauberkraft ihres Mutes abgewendet. Die Leute sprachen von diesem Moment als von einer heiligen Sache und begegneten ihr mit großer Ehrerbietung. Drei- oder viermal forderten die Männer sie auf, mit ihnen in den Krieg zu ziehen, weil sie glaubten, sie verfüge über besondere Kräfte. Sie legte Männerkleidung an und ritt davon. Sie wusste genau, wo im Gelände der Feind sich befand, selbst wenn er sich versteckt hielt. Kein Mann auf Erden hätte sich an sie heranschleichen können. Viele sagten mir, eine wie sie habe es noch nie gegeben. Auf diese Weise war auch sie eine Geschichte.

      Eine andere Geschichte, die sie erzählte, nannte sie »Der Fall«. Eine große Krankheit sei über uns gekommen, sagte sie, vor tausend Monden. Fast alle starben. Sie fielen um, und nur wenige Stunden später waren sie tot. Oh, wie wir uns vor dieser Geschichte fürchteten! »Vor tausend Monden« war ihr größtes Zeitmaß. Es war ein ähnliches Zeitmaß wie Thomas McNultys »hundert Jahre«. Einmal fragte ihn ein Wanderprediger: »Wann seid’s Ihr nach Amerika gekommen, Thomas?« »Vor hundert Jahren«, lautete seine Antwort. Für meine Mutter war die Zeit eine Art Reifen oder Kreis, keine lange Schnur. Wenn man weit genug laufe, sagte sie, könne man auf lebendige Menschen stoßen, die schon in tiefster Vergangenheit gelebt hätten. »Tausend Monde auf einmal«, nannte sie das. So weit könne man gar nicht laufen, sagte sie, aber das bedeute nicht, dass die Menschen nicht da seien. Alle möglichen Vorstellungen hatte sie, die uns Kindern sehr gut gefielen und uns zugleich Angst machten.

      Aber natürlich haben die Soldaten sie getötet, und sie haben meinen Vater und meine Onkel getötet. Sie haben meine Schwester und meine Tanten getötet, sie haben ungezählte Menschen getötet. Sie müssen’s getan haben, denn keiner von ihnen war mehr am Leben. Danach gab’s nur noch mich, so jedenfalls fühlte es sich an.

      Für sie waren wir ein Nichts. Ich muss daran denken, wie viel Wert wir darauf legten, was wir waren, und ich frage mich, was es bedeutet, wenn ein anderes Volk dich für so wertlos hält, dass du nur noch getötet werden kannst. Wie unser Stolz auf alles so zerschmettert wurde, dass er sich verflüchtigte, dass er nur noch ein kleines Stäubchen war, das der Wind verwehte. Wo war da der Mut meiner Mutter? War auch sie zu Staub geworden? Wir glaubten, der Name der Welt sei Schildkröteninsel, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Was hat das mit deinem Herzen gemacht, was mit meinem?

      Nichts, nichts, nichts, wir waren ein Nichts. Ich denke darüber nach und halte es für den Gipfel der Traurigkeit.

      Aber vielleicht war das ja der Grund, weshalb Thomas McNulty und John Cole mich liebten – weil ich ein Kind des Nichts war.

      Nur wenige von uns kleinen Kindern scheinen dem Massaker entkommen zu sein, um wie Stecklinge aus dem einen Leben herausgeschnitten und plötzlich in ein anderes verpflanzt zu werden. Wo mir Mrs Neale im Fort Englisch beibrachte und mich schließlich Thomas McNulty übergab, als der sie darum bat. Mrs Neale fragte mich, ob ich mitgehen wolle. Und obwohl ich ein kleines verlorenes Mädchen war und er nur ein grober Soldat, mochte ich ihn. Ich weiß noch, wie ich, ganz klein und adrett, vor Mrs Neale saß und meine Entscheidung traf. Ja. Er wollte mich nur als Bedienstete mitnehmen. Vielleicht hätte sie mich ihm in jedem Fall übergeben. Aber das weiß ich nicht, weil ich ja gesagt hatte. Mrs Neale hatte an Thomas Gefallen gefunden, und sie vertraute ihm. Inzwischen weiß ich, dass viele indianische Mädchen zu sündhaften Zwecken übergeben wurden. Dieser verrückte Starling Carlton, nun, es war weithin bekannt,