Tausend Monde. Sebastian Barry

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Название Tausend Monde
Автор произведения Sebastian Barry
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783958298170



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Tatsache ist.

      Ich denke, mir blieb gar keine Wahl. Wenn dir die Mutter genommen ist, kannst du sie nie mehr einholen. Du kannst nicht rufen: »Warte auf mich«, wie damals, wenn unter einem Wolfsmond die Winde kalt wurden und Mutter auf der Suche nach Holz weit vor dir durch die Gräser lief.

      Thomas McNulty hat mich gleich zweimal gerettet. Das zweite Mal, als er sich erneut aufs Schlachtfeld wagte, mit mir im Schlepptau, als Trommlerjunge verkleidet. Als Starling Carlton mich auf der Stelle umbringen wollte. Wir waren ihm im Kampfgetümmel begegnet. Er fuchtelte mit seinem Revolver und brüllte, alle Indianer müssten getötet werden, so laute der Befehl des Majors, und genau das werde er tun. Also musste Thomas McNulty stattdessen ihn töten. Darüber war Thomas sehr betrübt. Sie hatten lange Zeit zusammen in der Armee gedient.

      An all das kann ich mich recht deutlich erinnern.

      Als kleines Mädchen musste ich oft ohne jeden Grund weinen. Ich stahl mich davon und suchte mir einen abgeschiedenen Ort. Dort ließ ich die Tränen fließen, und hinter meinen Augen war es so finster, als sei ich erblindet. Dann hielt John Cole Ausschau nach mir. Und war klug genug, den Arm um mich zu legen und mich nicht zu bitten, etwas zu sagen, wofür ich keine Worte hatte, weder auf Englisch noch auf Lakota.

      John Cole. Viel von seiner Liebe zu mir drückte sich in praktischen Dingen aus. Wie gesagt, er besorgte mir Grammatikbücher und begann, mich zu unterrichten, obwohl er selbst auch nicht gerade über Bildung verfügte. Er brachte mir nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen bei.

      Als Lige Magan glaubte, ich sei so weit, erkundigte er sich bei seinem Freund, dem Anwalt Briscoe, nach einer Anstellung. Diese Arbeit verrichtete ich eine ganze Weile, schrieb Zahlen auf und rechnete sie zusammen. Darauf war ich sehr stolz.

      Der Anwalt Briscoe hatte ein schönes Haus und einen Garten mit Blumen, die gar nicht nach Tennessee gehörten, meist Rosen aus England. Über seine Rosen verfasste er ein Buch, das in Memphis gedruckt wurde. In seinem Büro hatte es einen Ehrenplatz.

      Wie gesagt, Ojinjintka bedeutet »Rose«. Ich weiß nicht, was für eine Rose. Vielleicht eine verlorene Prärierose.

      Keine echte Rose wie die vom Anwalt Briscoe. Eine Rose in den Augen meines Volkes.

      Der Anwalt Briscoe drängte mir Bücher auf, die er schätzte. Ich trug sie nach Hause und las sie im Wohnzimmer am Ofen. Von der Wiese ein Lufthauch, der immer wieder die Seiten streifte. Jene angenehmen Abende, an denen es nichts weiter zu tun gab, als Rosalees geliebtem Bruder Tennyson Bouguereau zuzuhören, wie er all die alten Lieder vortrug, die er kannte. Ich selbst in Gedanken versunken. In Gedanken, wie nur Bücher sie dir einflößen.

      Natürlich war das alles vor Jas Jonski. Einem Burschen, der, wenn ich es mir recht überlege, noch nie ein Buch gelesen hatte. Der kaum einen Brief schreiben konnte.

      Das alles muss in den 1870er Jahren gewesen sein, nach dem Krieg und nachdem Thomas aus dem Gefängnis nach Hause zurückgekehrt war. Es könnte sogar das Jahr gewesen sein, in dem General Custer getötet wurde. Oder kurz davor.

      Doch wie schnellfüßig vergingen all diese Jahre. Wie Ponys, die über die endlosen Prärien galoppieren.

       Zweites Kapitel

      Jas Jonski war Verkäufer in einem Geschäft für Trockenwaren. Er arbeitete für ein jämmerliches Gespenst von einem Mann namens Mr Hicks. Schon als ich den Laden das erste Mal betrat, wusste ich, dass Jonski mich mochte.

      »Du bist die Tochter von John Cole«, sagte er ohne jeden Anflug von Schüchternheit.

      »Woher willst du wissen, dass ich die Tochter von John Cole bin?«, fragte ich. Mich für mein Teil beunruhigte es, überhaupt erkannt zu werden.

      Er sagte, im vergangenen Herbst habe er mit dem Pferdewagen die schweren Sachen aus dem Laden angeliefert, und wunderte sich, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wo er mir doch Komplimente gemacht hatte.

      »Jetzt bist du sogar noch hübscher«, sagte er ziemlich keck.

      Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Auf seine Weise war dieser Satz wie ein plötzlicher Hinterhalt. Ich war bereit, mich zu verteidigen. Thomas McNulty hatte mir immer gesagt, dass ein Mädchen auf Nummer sicher gehen muss, dass sie wissen muss, wie sie ihr Messer, ihre kleine Pistole benutzt, all das. Für den Fall, dass meine Schusswaffe versagte, steckte im Saum meines Unterrocks ein schmales, kleines Messer aus Stahl. Aus englischem Stahl. Thomas McNulty zeigte mir, auf welche Körperstellen man am besten einsticht, wenn man sich jemanden vom Leib halten will.

      Doch jedes Mal, wenn ich in die Stadt fuhr, um Vorräte einzukaufen, war Jonski freundlich zu mir. Als gäbe es jetzt vielleicht doch jemanden in der Stadt, dem ich vertrauen konnte. Da war etwas zwischen uns, aber ich hatte keinen Namen dafür. Es schien eine gute Sache zu sein. Ich begann, mich auf ihn zu freuen, und um schneller bei ihm zu sein, trieb ich die Maultiere an, sehr zu ihrem Leidwesen.

      Ja, Jas Jonski war ganz vernarrt in mich, und nachdem er sechs Monate lang Rohrzucker und dergleichen für mich abgefüllt hatte, ging an meinem Pferdewagen ein Rad ab, und er fuhr mich hinaus zu Lige Magans Farm und unterhielt sich mit Thomas McNulty. Thomas McNulty würde selbst mit dem Teufel reden, so dass Jas Jonski keine Mühe mit ihm hatte. Und so machten Thomas McNulty und John Cole allmählich seine Bekanntschaft. Nie habe ich John Cole jemanden mit weniger Bewunderung anschauen sehen.

      Aber Jas Jonski war entweder blind oder verliebt; jedenfalls schien er nichts zu bemerken. Er kam jetzt regelmäßig raus zur Farm, und als er feststellte, dass Thomas McNulty gern diese teure Melasse aus New Orleans aß, brachte er zuweilen einen Topf davon mit. Dann saß er da, strahlte über das ganze Gesicht und redete, während Thomas mit einem Zweig die Melasse in sich hineinstopfte wie ein Bär. John Cole blickte finster drein und sagte nichts. Er machte sich nichts aus Melasse, es sei denn, es handelte sich um das billige Zeug, das nach der Ernte dem Tabak zugegeben wurde. Jas Jonski strahlte wie eine Sonne, die einfach nicht untergehen will, ganz gleich, wie dunkel der Abend ist.

      »Ich mag die Stadt«, sagte Jas Jonski zu John Cole, »aber hier auf dem Land gefällt’s mir auch.«

      John Cole sagte noch immer nichts.

      Jas Jonski durfte mich für zehn Minuten in den Wald führen, das war alles, was John Cole an Liebeswerben gestattete. Nicht einmal seine Hand halten durfte ich. Jas Jonski hatte den bescheidenen Ehrgeiz, einen eigenen Laden zu besitzen, und deutete an, nach Nashville ziehen zu wollen, wo seine Familie lebte. Nicht wenige Male blieb er stehen, ließ mich vor sich hintreten und hielt eine Ansprache. Zu sehen, wie sich sein Gesicht bei all den glühenden Beteuerungen rötete, war mir überaus angenehm. Denn er beteuerte seine Liebe, ganz wie in den Märchenbüchern.

      Dann dachte Jas Jonski, er würde gut daran tun, mich zu heiraten, und fragte mich nach meiner Meinung. Ich wusste nicht, wie alt ich war, aber ich schätze, ich war noch keine siebzehn. Ich war im Hirschmond geboren, das war das Einzige, was ich mit Gewissheit wusste. Er sagte, er sei neunzehn. Ein rothaariger Bursche mit einem Gesicht, das das ganze Jahr über verbrannt aussah, nicht nur im Hochsommer.

      Da bekam auch John Cole ein rotes Gesicht. Wurde wütend wie ein Wels.

      »Kommt nicht in Frage, Madam«, sagte er.

      Immerhin war ich für den Anwalt Briscoe tätig, eine ungewöhnliche Beschäftigung für ein Mädchen, ganz zu schweigen von einer Indianerin. Ich glaube, John Cole hatte mich zur ersten indianischen Präsidentin bestimmt.

      Nun, ich würde Jas Jonski sehr gern heiraten, glaubte ich. Es hörte sich gut an. Ich konnte es geradezu vor mir sehen. Hatte ein Bild davon im Kopf. Ich hatte ihn nicht einmal geküsst, sah aber schon, wie ich ihm das Gesicht zum Kuss entgegenstreckte. Wenn John Cole uns nicht mehr im Blickfeld hatte, hielten wir Händchen.

      Doch John Cole, ein weiser Mann, sah die Dinge anders. Er sah die Welt nicht in rosigen Farben. Er wusste, wie es um sie bestellt war, wusste, was die Welt sagen und was die Welt schließlich tun würde. Und behielt in fast allem recht.

      Aber ich war kaum siebzehn, vielleicht gerade