Herr Doktor, tut das weh?. U. S. Levin

Читать онлайн.
Название Herr Doktor, tut das weh?
Автор произведения U. S. Levin
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783963114854



Скачать книгу

mein schöner … neuer Wagen“, jammerte der frisch Operierte.

      „Nach Daniel fragst du wohl gar nicht!“

      „Was ist … ist mit ihm …?“

      „Nächste Woche wollen ihn die Ärzte aus dem Koma holen … Hans-Peter, Hans-Peter! Was ist … was ist mit dir? Ein Arzt! Schnell, ein Arzt!“

      Mit einem weinenden Auge verließ Gitte die Klinik. Mit einem lachenden eilte sie zur Lebensversicherung. Hans-Peter hinterließ ein hübsches Sümmchen.

      Als ich Gitte wenige Wochen nach der Beerdigung traf, konnte ich unmöglich ihre Einladung zu einer Tasse Kaffee abschlagen. Während ich meinen Espresso schlürfte, erzählte Gitte schweren Herzens von der Leere, die Hans-Peter hinterlassen hatte, und dass sie unbedingt wieder jemanden an ihrer großflächigen Seite haben möchte. Dabei presste sie meine zarten Beine zwischen ihre feisten Oberschenkel wie in einen Schraubstock.

       Guten Abend, Herr Müller, ich möchte Ihnen die Möglichkeit der Kondolenz zum Ableben meines Gatten einräumen.“

      Und dann fragte sie mich allen Ernstes, ob wir zwei süßen Turteltäubchen es nicht einmal versuchen könnten. Mit einem gewaltigen Ruck, die Angst verlieh mir plötzlich Bärenkräfte, befreite ich mich aus ihrem Klammergriff und stürzte aus dem Café. Wie ein von der Mafia Gejagter rannte ich mehrere Kilometer, ohne mich umzudrehen. In einem kleinen Park ließ ich mich erschöpft auf eine Parkbank fallen.

       Herr Doktor, tut das …?

      Gitte? – Niemals! Ich bin doch nicht lebensmüde. Und dann fiel mir plötzlich ein, und auch ein Stein vom Herzen: Gitte konnte mich gar nicht ehelichen. Ich bin nämlich schon verheiratet. „Puh!“, stöhnte ich erleichtert. Manchmal hat eine Ehe auch sein Gutes.

      Nicht verscherzen mit den Schmerzen!

      So sinnvoll Schmerzen auch sind, sie haben einen entscheidenden Nachteil: Sie tun weh! Ein weiteres Handicap: Schmerzen sind lästig und kommen unangemeldet wie die GEZ oder die Steuerfahndung.

      Als Hypochonder bin ich ein schwer zu therapierender Patient, fern aller schulmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Unentwegt geißeln mich die fürchterlichsten Beschwerden. Keiner weiß, woher sie kommen. Bereits bei dem Gedanken, mir könnte etwas wehtun, leide ich unter unerträglichen Qualen. Meine Hausärztin Frau Dr. Hupffeld erklärte mir: Das Schmerzempfinden der Menschen sei verschieden, außer bei Patienten, die bereits verschieden sind.

      Oft sitze ich, zu einem jämmerlichen Bündel gekrümmt, vor ihr. Ein wenig tut sie mir ja leid, denn sie findet zu meinen Symptomen keine passende Krankheit. Resigniert jammerte sie bei meiner letzten Sitzung: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen noch helfen könnte. Ich bin am Ende mit meinem Latein.“

      „Vielleicht mit einem passenden Schmerzmittel.“

      „Es gibt kein Mittel“, war sie den Tränen nahe, „was ich Ihnen nicht schon verschrieben hätte.“

      „Und wenn wir’s mal mit Morphium versuchen?“

      Entsetzt starrte sie mich an, als wäre sie beim ärztlichen Abrechnungsbetrug erwischt worden.

      „Sind Sie wahnsinnig geworden!?“, wurde sie laut, danach ganz still und in sich gekehrt. Um ihre Mundwinkel zuckte es plötzlich: „Genau, das ist es. Sie sind wahnsinnig, verrückt, durchgedreht. Ich überweise Sie zu einem Psychi­ater.“

      So landete ich bei Prof. Dr. Unglaube, einer weltweit anerkannten Kapazität auf dem Gebiet der Psychoanalyse.

      „Beginnen wir in der Kindheit“, begann der Nervenspezialist.

      „In Ihrer oder in meiner?“

      „Bleiben Sie bitte ernst!“

      Da ich nichts erwiderte, fuhr er fort: „Und nun schließen Sie bitte die Augen und entspannen sich!“

      Ich schloss die Augen und entspannte mich.

      „Atmen Sie ruhig und gleichmäßig!“

      Ich atmete ruhig und gleichmäßig.

      „Wurden Sie als Kind geschlagen?“

      „Ja, einmal.“

      „Wann?“

      „Montags einmal, dienstags einmal, mittwochs …“

      „Gut, gut – hören Sie auf! Sie wurden also misshandelt?“

      „Besser als gar nicht behandelt zu werden.“

      „Ich warne Sie zum letzten Mal!“

      Und dann bat er mich, vom Trauma meiner Kindheit zu erzählen, und mit tränenerstickter Stimme begann ich zu berichten: In unserem Haus mit acht Mietparteien gab es siebzehn Halbwüchsige. Ich war nicht nur der Kleinste, sondern auch der Schmächtigste. Ich war schlaksig und glänzte mit der körperlichen Haltung einer schief gewachsenen Krüppelkiefer. Bei den Jungen war ich sehr beliebt. Sie drückten mich furchtbar gern, allerdings nur in ihre feuchten Achselhöhlen. Wenn ich Rotz und Wasser heulend nach Hause kam, setzte es ein paar saftige Ohrfeigen, weil ich mich nicht tapfer wie ein Apachenkrieger gewehrt hatte. Vater war Winnetou-­Fan.

      „Ein deutscher Junge schlägt zurück!“, brüllte er und pfefferte mir noch eine.

      Ein anderer Vorfall ist mir ebenfalls noch in lebhafter Erinnerung. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Mitten in der Nacht erwachte ich durch tierische Bauchschmerzen. Ich habe das ganze Haus zusammen­gebrüllt. Mutter saß am Bettrand und versuchte, mich zu beruhigen.

      „Nun unternimm doch endlich etwas!“, fauchte sie Vater an.

      Das war zu einer Zeit, als die analoge Telefondichte einem Maisfeld in Simbabwe ähnelte. Wer damals den Notdienst brauchte, schrieb eine Postkarte oder wenigstens ein Telegramm. Natürlich konnte man auch zum nächsten Münzfernsprecher gehen. Doch entweder litten die Dinger unter Verstopfung, oder die Hörer waren abgeschnitten. Vater blieb also nichts anderes übrig, als mich mit dem Fahrrad ins nächste Krankenhaus zu bringen.

      Der diensthabende Arzt, ein glatzköpfiger Herr mit dünnem Haarkranz, streichelte neidisch über meinen dichten Bürstenschnitt und fragte: „Bauchschmerzen, was?“

      Eingeschüchtert nickte ich und musste mich danach auf eine Pritsche legen. Der Doktor horchte mich ab, wobei er mein zartes Handgelenk hielt und leise zählte. Zwischendurch lächelte er beruhigend, als wäre die Sache halb so schlimm. Dann tastete er behutsam mit Zeige- und Mittelfinger meinen Oberbauch ab.

      „Tut das weh?“, fragte er.

      „Hhhmmm“, wimmerte ich.

      Der Doktor drückte eine Handbreit unterm Nabel auf die Bauchdecke, als plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. Ein lang anhaltendes und flatterndes Geräusch hallte durch das Arztzimmer, als würde aus einem prall gefüllten Luftballon klamme Luft entweichen.

      „Oho“, rief der Arzt erleichtert, „der war ja nicht von schlechten Eltern.“

      Vater rümpfte die Nase und warf mir einen wütenden Blick zu. Der Arzt lachte aufmunternd und sagte: „Seien Sie froh, dass es nur heiße Luft war!“

      Auf dem Heimweg tobte Vater, dass Anwohner ihre Fenster schlossen. „Eine Blamage, was für eine Blamage“, wetterte er. „Da opfert man die halbe Nacht – für einen einzigen Furz.“

       Heute kommen nur Schmerzpatienten in die Aufnahme!“

      „Vati, bitte nicht böse sein!“, winselte ich. „Einen hätte ich noch.“