Herr Doktor, tut das weh?. U. S. Levin

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Название Herr Doktor, tut das weh?
Автор произведения U. S. Levin
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783963114854



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Tages war mein Diabetologe Herr Dr. Schönfelder mit meiner Einstellung alles andere als zufrieden. Meine Blutzuckerkurve schwankte wie ein Seemann, der nach Mitternacht aus der Hafenkneipe torkelt. Mein Arzt sah mir tief in die Augen und meinte: „Sie könnten sich Ihr Insulin auch pumpen.“

      „Wie pumpen!?“, rief ich erschrocken. „Will die Krankenkasse das Zeug später zurückhaben?“

      „Nein, nein“, lachte Herr Dr. Schönfelder, „ich rate Ihnen zu einer Insulinpumpe.“

      Ich dachte einen Augenblick nach. Fortschritt ist nicht dadurch aufzuhalten, dass man ihn ignoriert. Und vielleicht bringt das sogar etwas. Dem Pumpenhersteller auf jeden Fall.

      „Ich müsste Sie allerdings zu einer Reha schicken“, erklärte er, „dort wird man die Pumpeneinstellung vornehmen.“

      Da ich noch nie eine Reha-Klinik von innen gesehen hatte, ahnte ich natürlich nicht, was mir bevorstand. In den schlaflosen Nächten vor meiner Abreise träumte ich von geilen Zimmerfeten mit scharfen Patientinnen und von kuscheligen Tanzabenden. Vor meinem geistigen Auge rekelten sich verführerische und willenlose Therapeutinnen. Ich aalte mich mit gierigen Nymphomaninnen in entspannenden Moorlaugen. Mit anderen Worten: Eine Wonne in der Wanne!

      Keine Ahnung, wieso in meinem Gehirn derart schmutzige Fantasien herumgeisterten. Möglicherweise lagerten in den Abgründen meines Unterbewusstseins Bilder und Szenen eines Films, den ich vor über zwanzig Jahren völlig widerwillig und mit tiefstem Abscheu anschauen musste, da ich ihn aus der Videothek geholt hatte. Er trug den belanglosen Titel: „Scharfe Schwestern bei Dr. SEX“. Und er war ziemlich obszön – aber schön.

      Als ich in der Fachklinik für Innere Angelegenheiten wie Herz, Magen-Darm und Stoffwechselerkrankungen eintraf, glaubte ich zunächst, mich in der Adresse vertan zu haben. Auf den Parkbänken im Eingangsbereich dösten hochbetagte Patienten, deren Lebensjahre zusammengerechnet bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückreichten. Ich hatte das Gefühl, in einem Pflegeheim gestrandet zu sein.

      Zimmerfeten mit Alkoholexzessen Fehlanzeige! Im Gegenteil: Gemäß Hausordnung herrschte striktes Alkoholverbot. Dabei hatte ich im Kofferraum drei Kästen Bier und eine Stiege Jägermeister. Statt Pilsner, Rotwein oder Kräuterlikör quälte man die Rehabilitanden mit stillem Wasser, Früchtetee und Buttermilch – eine grenzwertige Form der oralen Folter.

      Der Klinikalltag verlief hektisch. Patienten hasteten im Eilschritt von einer Behandlung zur nächsten. Unweigerlich wurde ich an meinen Grundwehrdienst erinnert, der über Monate hinweg im Laufschritt erfolgte. Die Ähnlichkeiten zum Klinikleben waren verblüffend. Als Soldat wie auch als Patient war man einem auf Zucht und Ordnung getrimmten Regime ausgeliefert, das es genoss, den Willen seiner Untergebenen zu brechen. Zermürbt schlich ich wie der Schatten meiner selbst durch die endlosen Flure und unterwarf mich widerspruchslos dem medizinischen Wachpersonal.

      Abends wurde den von Sport- und Bewegungstherapien ausgelaugten Patienten ein kulturelles Programm aufgenötigt. Vor allem musikalisch gequälte Darbietungen produzierten neue Tinnitusopfer. Laiensänger mit Kinderchorerfahrung krächzten sich durch deutsches Liedgut. Besonders amüsant war der Gesang einer lispelnden Heulboje. Der Diavortrag eines ortsansässigen Ureinwohners war so eintönig, dass man ihn als autogene Schlaftherapie hätte anbieten können. Er zeigte Aufnahmen, die noch aus der Zeit vor dem Farbfilm stammen mussten. Jedes Motiv in dutzenden langweiligen Variationen. Und immer mit auf den Bildern seine Frau mit Strickmütze. Diese wiederum war eine Augenweide, also die Mütze.

      Der Zauberkünstler allerdings, ein Magier im magischen Alter von gefühlten neunzig Lebensjahren, war echt klasse. Er zeigte Tricks, die wir schon im Sandkasten ausprobiert hatten. Dabei bewegte er sich mit der rasanten Geschwindigkeit einer flüchtenden Weinbergschnecke. Mühelos konnte man sehen, wie er die geheimnisvolle Karte aus dem Ärmel zog oder im Zylinder unter den doppelten Boden griff.

      Am nächsten Tag nahm ich zwei meiner Bücher, zeigte sie dem Klinikchef und bot ihm eine humoristische Lesung an. Kurz angebunden lehnte er ab.

      „Ohne Honorar“, lockte ich.

      „Ich sagte NEEEIIIN!“

      „Aber sehen Sie, Lachen ist die beste Medizin.“

      „Eben deshalb bin ich nicht interessiert.“

      Den Klinikchef zu überzeugen war so aussichtsreich, wie einen FDP-Politiker für die bundesdeutsche Jamaika-Koalition zu begeistern.

      „Gehen Sie lieber zur morgigen Veranstaltung!“, riet er mir.

      „Die Modenschau?“

      „Harry’s Frivole Modenschau“, verbesserte er mich, „so was brauchen wir hier.“

      Der Vortragsraum war rappelvoll. Zwei Notärzte und ein paar Schwestern in Dienstkleidung saßen in der letzten Reihe. Pünktlich um sieben erklang Joe Cockers „You Can Leave Your Hat On“. Harry, der Moderator, sprang in den Vortragsraum und riss die Arme nach oben: „Und hier ist wieder Euer Harry mit der Frivolen Moden­schau!“, grölte er ins schläfrige Publikum. „Heute wird Ihnen ein wahrer Festschmaus geboten. Halten Sie den Atem an, denn so etwas bekommen Sie nicht jeden Tag geboten, jedenfalls nicht zu Hause bei Mutti“, er wandte sich an die Damen, „oder bei Vati. Und jetzt möchte Ihnen die reizenden Modelle des heutigen Abends vorstellen.“

      Zwei junge bildhübsche Mädels, ein etwas reiferes, aber dennoch attraktives Model sowie ein junger Bursche schwebten in den Saal. „Hier sehen Sie die reizende Anja, die verführerische Marie-Luise, die unwiderstehliche Linda und den feschen Kevin.“

      Vereinzelte Patienten spendeten müde Beifall.

      „Das habe ich doch schon mal lauter gehört!“, versuchte er den Patienten einzuheizen. Der Applaus verstärkte sich um ein, zwei Dezibel.

      „Oho, ein Lebenszeichen!“, lobte er und sagte weiter: „So, meine Lieben. Während sich die Modelle umziehen, sage ich etwas zur heutigen Veranstaltung. Die Mode in dieser Saison ist geprägt von einem ­gewagten Eskapismus, einer frischen Synthese aus Urbanität und Abenteuerlust. Deshalb geht es im ersten Teil um lockere Outdoor- und Trekkingmode. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit, Sie erinnern sich, da zeugten Fleece-Pullis, Allwetter-Jacken oder Ranger-­Hosen für einen schlechten Stil. Doch sehen Sie selbst, was mit Kreativität aus scheinbar belangloser Bekleidung für den Wanderer für tolle Mode entstehen kann.“

      Die Modelle traten einzeln in den Vortragsraum, schlenderten graziös durch die Reihen, blieben hin und wieder stehen, um sich leger um die eigene Achse zu drehen, die Jacke abzustreifen und mit einem lässigen Schwung über die Schulter zu werfen. Der Moderator erklärte die einzelnen Exponate, und während die Modelle zum Umkleiden den Saal verließen, kündigte er die nächste Kollektion an – eine erfrischende Sommermode.

      „Schals und Tücher prägen das diesjährige Sommer-­Outfit. Ansprechende Accessoires für die modebewusste Frau. Dabei sind die Schals üppig gemustert. Es überwiegen folkloristische Akzente mit orientalischen Mustern. Doch auch Paisley und Karo sind angesagt. Marie-Luise zeigt Ihnen ein leichtes Kleid, passend darauf abgestimmt ein Tuch, verziert mit kleinen Quasten.“

      Das Modell flanierte mit einem breiten Grinsen durch den Mittelgang. Unter dem leichten Stoff hoben sich wie ein kaukasischer Gebirgszug zwei wunderschön geformte Brüste ab. Während die weiblichen Zuschauer interessiert die Tücher musterten, saßen die bisher recht gelangweilten Herren schlagartig mit geraden Rücken, als hätten sie eine Dachlatte – im Kreuz.

       Ich darf mich nicht aufregen, wegen meinem Zucker!“ „Gib nicht so an, der zuckt doch schon lange nicht mehr!“

      Und dann kam der Teil, der wohl das Adjektiv frivol begründete: Die Präsentation von Strandmoden. Die weiblichen Modelle zeigten verschiedenfarbige Röcke, die so knapp geschnitten waren, dass sie wohl zu den Kurzwaren zählen mussten. Darüber trugen sie weiße oder helle ­T-Shirts locker über dem Bund. Der Moderator hob den bequemen Tragekomfort hervor