Herr Doktor, tut das weh?. U. S. Levin

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Название Herr Doktor, tut das weh?
Автор произведения U. S. Levin
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783963114854



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So viel nackte Haut bekommt man nicht einmal in einer dermatologischen Klinik zu sehen.

      Ein „Oh!“ und „Ah!“ raunte durch die Reihen, und erste Herzpatienten griffen, um Luft hechelnd, an die frisch eingeschraubten Herzklappen, andere an die erst vor wenigen Tagen eingefädelten Bypässe. Dann schlenderten die Mannequins graziös durch die Reihen und stellten offensichtlich bei ausgewählten Patienten eine Fußspitze auf die Sitzfläche. Ein älterer Herr aus der dritten Reihe stieß plötzlich einen erstickenden Seufzer aus und brach in sich zusammen wie ein gesprengter Industrieschornstein. Was genau passiert war, konnte ich nicht sehen, denn Anja, das blonde Traummodell, versperrte mir die Sicht. Einer der beiden Notärzte sowie zwei Schwestern brachten den abgeschmierten Herrn auf die Intensivstation.

      Inzwischen hatte sich Linda, das reifere Modell, eine Frau von Anfang vierzig, hinter meinem Rücken unbemerkt angeschlichen. Ich blickte plötzlich in ihre tiefblauen Augen, die mich verführerisch auffraßen. Mein Hals war trocken wie ein Saale-Unstrut-Riesling. Sie schnalzte mit der Zunge, dass ich alles um mich herum vergaß. Und dann passierte das Unfassbare. Ich bin mir sicher, dass Sie das nicht glauben werden. Aber es hat sich, darauf würde ich den hippokratischen Eid schwören, wirklich so zugetragen – oder ähnlich. Lasziv hob sie ihr rechtes Bein, stellte die Fußspitze auf mein rechtes Knie. Der ohnehin viel zu kurze Rocksaum rutschte in ihre Hüftbeuge und gab den Blick auf ihr magisches Bermudadreieck frei, wo ich ein fesches Höschen vermutet hätte. Aber Fehlanzeige! Sie hatte vermutlich im Stress der Aufführung vergessen, ihren Slip überzustreifen. Meine Blicke endeten in wahrhaft nackten Tatsachen. Nichts, aber auch gar nichts verbarg ihren vertikalen Faltenwurf. Sie war, wie ein Nachrichtensprecher der Tagesschau, total glattrasiert. Ich spürte plötzlich beidseitige Schluckbeschwerden und fühlte mich wie ein demenzkranker Höhlenforscher, der vorm Eingang steht und nicht mehr weiß, wie es weitergeht.

      In diesem Moment schoss mein Blutzucker durch die Decke wie einst das HB-Männchen. Bei koronaren Patienten flatterten die Herzklappen wie die Nationalfahnen vorm EU-Parlament. Den Magen-Darm­patienten drehte es die Eingeweide um und mehrere Diabetiker erlitten schwere Stoffwechselentgleisungen.

      Auch die Präsentation der Bade- und Dessous­moden hatte es in sich. Die Teile waren aus transparentem Stoff. Geeignet für die heutige Politikergeneration: Seht her, wir sind durchschaubar! Als Kevin eine Badehose in Form eines Elefantenkopfes auf seinem athletischen Körper zeigte, kreischten Patientinnen laut auf. Besonders der gut gefüllte Rüssel hatte es den Damen angetan.

      Die Notärzte wie auch die Schwestern waren jetzt im Dauereinsatz, kümmerten sich um ohnmächtige Patienten wie um Verwundete im Stellungskrieg. Etwas besser dran waren die Diabetiker, denen der Blutzuckeranstieg zunächst keine akuten Probleme bereitete. Aber es würde Tage dauern, bis sie sich von dieser Aufregung erholt hätten und ihre Zuckerkurven in medizinisch vertretbare Bereiche zurückgekehrt wären.

      Der Oberarzt war alles andere als zufrieden.

      „Herrje, herrje“, stöhnte er beim Anblick meiner Blutzuckerwerte. „Das gefällt mir ganz und gar nicht.“

      „Keine Sorge, Herr Doktor“, beruhigte ich den Arzt, „das lag nur an der Modenschau.“

      „Aber Herr Levin, wenn Sie derart sensibel auf ein paar weibliche Reize reagieren, dann kann ich Sie unmöglich nach Hause schicken. Wann haben Sie Diabetes bekommen?“

      „Mit Anfang vierzig, Herr Doktor.“

      „Nicht zu fassen, und dann eine solche Entgleisung. Aus Therapiegründen gehen Sie nächste Woche noch einmal zur Modenschau!“

      „Aber ich fahre nächste Woche nach Hause.“

      „Wir haben bereits eine Verlängerung veranlasst. So können wir Sie unter gar keinen Umständen entlassen. Und nun mal ehrlich: Ist Ihr Zuckerspiegel auch derart angestiegen, als Sie ihre Frau das letzte Mal nackt gesehen haben?“

      „Das weiß ich nicht, da war ich noch kein Diabetiker.“

      Ruhe sanft!

      Was haben Krankenhäuser und Friedhöfe gemeinsam? – Viel Kundschaft, aber wenig Personal. Es gibt allerdings noch eine zweite Übereinstimmung. Die Besuchszeiten sind freizügig geregelt und tagsüber fast uneingeschränkt möglich. Und noch eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Besuchsopfer können sich nicht wehren, egal, ob sie über oder unter der Erde liegen.

      In Kliniken gelten starre Besuchszeiten als Relikt der Vergangenheit. Leider, denn die Patienten konnten sich seelisch und moralisch auf die Verwandtenbesuche einstellen, die mit billigen Schnittblumen und seifig schmeckendem Konfekt vom Discounter vor ihren Krankenlagern aufkreuzten. Zähneknirschend duldeten alte Klinikärzte früher lediglich zwei Besuchsnachmittage, meist Mittwoch und Sonntag – allerhöchstens zwei Stunden. Ihrer Auffassung nach konnte die Aufregung eines Krankenbesuches binnen kürzester Zeit tagelange Heilungserfolge zunichte­machen.

      Die ärztliche Meinung über Krankenbesuche hat sich gewandelt, spätestens seit die Gesundheitspsychologie, ein noch junger Spross der klassischen Psychologie, auf den Plan getreten ist. Diese behauptet nämlich: Alles Unsinn! Besuche mit ihrer sozialen Bindung und der damit verbundene Kontakt zur Außenwelt hellen den tristen Klinikalltag auf und sind dem Heilungsprozess zuträglich. Zudem darf die Besuchszeit nicht vorgeschrieben werden. Der Kranke befinde sich schließlich nicht in einem Hochsicherheitstrakt und hat als freier Bürger das Recht, Besucher zu empfangen, so oft und so lange es seine Gäste nur wollen.

      Ich kann mich für diese Auffassung nicht erwärmen, plädiere vehement für die Ansicht der alten Ärztegeneration. Die postmoderne Meinung dieser neuromuskulären Sy­napsenfuzzis kostete nämlich meinem Kumpel Hans-Peter sein einziges Leben. Hätte er sich nach seiner Herzklappen-­OP nur eine einzige Woche in Ruhe von den ­Strapazen des chirurgischen Eingriffs erholen können, würde er noch unsere mit Feinstaub und Stickoxid angereicherte Luft atmen können.

      Stattdessen wurde, den Forschungsergebnissen dieser Hirnakrobaten geschuldet, Brigitte, oder wie wir sie nannten Gitte, zu ihrem Gatten vorgelassen. Gerade Gitte mit ihrer diplomatischen Grobmotorik. Als hochrangige Politikerin wäre sie imstande, ganze Weltkriege vom Zaun zu brechen. Sie ist wie der sprichwörtliche Elefant im Porzel­lanladen, vor allem körperlich. Wo sie hintritt, wächst kein Gras mehr, in das ihre Opfer beißen könnten.

      Als Hans-Peter, ausgemergelt wie ein Triathlet am Morgen nach dem Ironman, im Türrahmen die unverkennbare Silhouette seiner Witwe in spe erblickte, begann sein rechter Herzmuskel zu zucken, wie ein an Land gespülter Fisch nach Luft schnappt. Letztendlich hatte er sein koronares Leiden auch der barbarischen Brutalität seiner sadistisch veranlagten Frau zu verdanken. Seine Ehe ähnelte der Menschheitsgeschichte eines prähistorischen Frühstadiums – ­körperliche Gewaltexzesse, sexuelle Übergriffe, die immer von Gitte ausgingen, und psychische Unterdrückung gehörten zu ihrem Ehealltag.

      Die Herzklappen kamen gerade recht, um nicht abzuklappen und Abstand in sein standesamtlich regle­mentiertes Martyrium zu bringen. Seine flüchtigen Gedanken kreisten nur um eines, der Flucht vor dieser gewaltigen, vor allem aber gewaltbereiten Matrone, die nicht nur mehr als das Doppelte von ihm wog, sondern nach dem Betreten des Patientenzimmers mit dem verschmitzten Lächeln einer überlegenen Mörderin an sein Bett trat – mit dem rechten Fuß.

      „He“, rief Gitte höhnisch, „aufwachen, Schlafmütze!“

      Hans-Peter kostete es unglaublich viel Kraft, seine Augen zu öffnen, und noch mehr Mühe, sie offen zu halten. Er hauchte ein energieloses: „Haaallooo!“

      „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, begann Gitte, ohne Rücksicht auf seinen instabilen Zustand. „Die alte, morsche Mauer brauchst du nicht mehr einzureißen.“

      In dieser Sekunde brachen wohl tausend Gedanken über Hans-­Peter herein: „Was … was ist … ist dann … dann die schlechte?“

      „Das war die schlechte.“ Und mit mütterlichem Stolz fügte Gitte hinzu: „Und die gute: Daniel kann schon Auto fahren.“

      „Aber er ist … ist erst zwölf!“

      „Nun