Название | Lichter als der Tag |
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Автор произведения | Mirko Bonné |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783731761198 |
Dann war es auf einmal so weit. Innerhalb eines einzigen Augenblicks endeten die ganzen Jahre. Am Rand des Wäldchens standen Einfamilienhäuser im Schatten großer, schwer belaubter Kastanien, dort lenkte Merz den Phoebus um eine Kurve, musste kurz stoppen, fuhr weiter und stellte fest, dass Pippa verschwunden war.
Es gab nur vier Häuser, die infrage kamen, und alle sahen sie fast identisch aus. Doch er brauchte gar nicht lange zu suchen. In der Garagenauffahrt des zweiten stand das weiß getüpfelte Fahrrad, und auch wenn von dem Mädchen selbst nichts mehr zu sehen war, konnte er sich sicher sein, Pippas Zuhause gefunden zu haben. Fünf gusseiserne Buchstaben prangten an einem um das Haus laufenden weißen Mäuerchen: Rauch.
Er wendete am Ende der Sackgasse, beobachtet von einem Jungen, der dort auf dem Bürgersteig stand und ihm vorkam wie ein Abbild von Moritz im Jahr 1973. Während der Phoebus lautlos an dem glotzenden Knirps vorüberglitt, blickte ihm Merz in sein Mondgesicht: Das Kind verzog keine Miene. Es war ein dicklicher kleiner Kerl, sommersprossig, stupsnasig, bebrillt und mit einer Zahnspange ausgerüstet, über die ab und zu seine Zungenspitze leckte. Wie oft hatte der Junge sie gesehen? Für ihn war Inger einfach die Nachbarin, Frau Rauch, und ihr Mann Moritz vielleicht ein Freund seines Vaters, jedenfalls kein Fremder, und Pippa passte womöglich auf ihn auf, wenn seine Eltern abends essen gingen, ab und zu bestimmt zusammen mit den Rauchs. Mit dieser Vorstellung fuhr Merz langsam, ohne dem Haus und seinem Mäuerchen weiter Beachtung zu schenken, zurück in die Siedlung, und als würde es aus ihrer Mitte aufragen in den Himmel, stand ihm noch lange das Kastanienwäldchen vor Augen.
Bis er zu Hause in Sülldorf sein musste, weil sich Floriane sonst Sorgen machte oder ihr etwas spanisch vorkam, blieb noch Zeit. Beim Tag begann Bruno jeden Abend gegen halb sechs, den täglichen Kaffeebecher- und Pappschachtelmüll vom Schreibtisch zu räumen. Donnerstag. Linda ging seit Kurzem donnerstagabends zu einem Therapeuten, der, wie sie sagte, mit ihr über das redete, was in ihrem Leben nicht ihr gehörte. Prissy machte sich währenddessen um halb sechs auf den Weg zum ihr verhassten Hockeytraining. Ebenfalls donnerstagabends erledigte Floriane in der Ferdinandstraße die Praxiskorrespondenz, für die unter der Woche keine Zeit war, weil ihr die Leute mit Parodontitis und lockerem Zahnhalteapparat die Bude einrannten. An einem gewöhnlichen frühen Donnerstagabend lief Raimund Merz über die Fleetufer vom Büro zum Hauptbahnhof, stellte sich für eine Viertelstunde auf einen stilleren Fernzugbahnsteig und überließ sich für eine Viertelstunde seinen Gedanken. Hierin lag sein Glück. In diesen Minuten hatte er kein Alter, keine Pflichten, keine Fehler, keine Pläne, keinen Kummer. Von April bis Oktober konnte man sich fast sicher sein, dass ein leicht rosiges Licht die Bahnsteighalle erfüllte, und im Winter, wenn es meist zu trüb dafür war, reichten ihm die Erinnerungen an die Feldmark und die Vorfreude auf das kommende Frühjahr.
Dieser Donnerstag aber war kein gewöhnlicher. War es überhaupt ein Tag? Er kam ihm wie aus der Zeit gefallen vor, und deshalb verdiente er auch eine andere Bezeichnung als ein x-beliebiger Tag, der nach dem Donnergott hieß. Es war ein Phoebustag. An diesem Abend nämlich war er weit entfernt von Hauptbahnhof und Tag-Redaktion unterwegs mit dem Phoebus. Je später er auf den Ring fuhr, umso weniger dicht wäre dort der Verkehr.
Er musste was essen, ein Unterzuckerungsgefühl stieg in ihm auf, er wurde ungehalten, schön, endlich! War das nicht in Wirklichkeit ein Hochgefühl? In eine Birne, einen Apfel hätte er auf der Stelle die Zähne geschlagen und alles hinuntergeschlungen, Stiel und Kerne, Vorsicht, ein Obstvernichter am Steuer! Und zu einem, der darüber den Kopf geschüttelt hätte in einem popeligen Lexus oder Prius Plus an der Ampel neben seinem Sonnenwagen, hätte er rübergerufen: »Na, Grubengaul, wieder krummgeschleppt heute?«
Das glotzäugige dicke Kind in Ingers Straße hätte er nicht einfach so davonkommen lassen sollen.
»He, willst du Raumschiffkapitän werden?«
Der Junge hätte vielleicht genickt, bestimmt aber gestaunt, von einem Dahergelaufenen durchschaut zu werden.
»Daraus wird nichts! Du wirst Bankangestellter, leider kann ich hellsehen«, hätte Merz gesagt oder sagen sollen.
Erfüllt von Heißhunger auf etwas Süßes, trieb es ihn durch den ehemaligen Dorfkern, der nun »Einkaufsdorf« hieß und das Zentrum des Stadtviertels an der noch immer grünen Peripherie bildete. Dort stand eine Backsteinkirche, an deren rotem Türmchen ein schlaffes Refugees welcome-Banner hing. Es gab eine Sparkasse, in der der dicke Junge seine Ausbildung würde machen können, eine Post, einen Italiener, eine Bäckerei mit Namen »Bäckerei«, ein paar Läden und ein Eiscafé, vor dem wie vom Himmel gestürzt lauter Kinderfahrräder und Roller auf dem Bürgersteig lagen.
Es gab kein Entrinnen. Zorn und Aufgewühltheit machten höchstens die Schranken deutlicher, gegen die einer wie er mit dem Kopf voran anrannte. Existierte denn eine Mauer, die sein Leben umgab, sein Haus, die Stadt, das Land? Nein. Oder ein freies, offenes Feld, auf das man jubelnd hätte hinausgelangen können? Nein. Wo war alles besser, lichter, freier und anders? Nirgends? Ja. Und das hieß?
»Druckertankstelle«, sagte Merz laut. Das stand über einem der Geschäfte.
Druckertankstelle. Im Grunde war alles zum Weinen.
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Linda die Sachen ihrer Mitschüler vielleicht deshalb an sich nahm, weil sie die Dinge in ihrer Unglückseligkeit durchschaute und verschwinden lassen wollte. War das möglich?
Hab keine Angst, sagte er sich, als er parkte, und seltsam, dieser Gedanke erleichterte ihn.
In der »Bäckerei« waren die beiden Bäckereifachverkäuferinnen, eine junge und eine ältere, am Zusammenräumen und Ausfegen. Nur noch wenige Brote lagen in den Regalen, darunter die Schüttfächer für Schrippen und andere Brötchen waren schon leer.
Durch die Tresenscheiben betrachtete er das restliche Gebäck, übrig gebliebene Florentiner, Nussecken, Plundertaschen, Makronen und Amerikaner, schillernd in gelbgoldenem Licht. Fast alles sah klebrig aus und unappetitlich, und die paar Kuchen- und Tortenstücke, die noch auslagen, wirkten wie in der Hitze immer wieder zerflossen und von den beiden wortlos vor sich hinarbeitenden Verkäuferinnen mühsam ein ums andere Mal zusammengeschoben.
»Was darf es sein?«
Dutzende Wespen krabbelten über die glasierten Kekse, Striezel und Schnecken. Man sah die Schleifspuren ihrer Hinterleiber im Zuckerguss, die Abdrücke ihrer Hakenbeine und die Löcher und Lücken, die ihre Zangen in den Mürbeteig rissen.
»Sie wünschen bitte?«
Es waren große, kleinere, ältere und junge Tiere. Auf Anhieb erkannte Merz mindestens drei verschiedene Arten.
Er blickte der Verkäuferin ins Gesicht, konnte darin aber keinerlei Regung erkennen. Ausdruckslos sah ihn die junge Frau an, und Merz fragte sich, ob er auf sie wohl den gleichen Eindruck machte. Er stellte sich vor, wie diese Auszubildende mit langem Hals und dürren Armen Stammkunden bediente, etwa Inger, die ein Graubrot verlangte. Oder wie am Sonntagvormittag Herr Rauch mit den letzten zehn quer über den Schädel gekämmten Haaren die wie üblich am Vortag bestellten Frühstücksschrippen abholen kam, mit dem Trekking-Rad, in Begleitung Pippas. Sie nannte ihn Moritz. Und er das Kind seinen Spatz. »Mauerritze« hatte Pippas Mutter früher zu ihm gesagt, sobald der gemeine Moritz aus dem allseits beliebten Moritz hervorkroch.
»Moritz … Maurids … Mauerritze!«, hatte sie gesungen.
Die meisten waren Deutsche Wespen. Aber auch einige Sächsische und ein paar Feldwespen