Lichter als der Tag. Mirko Bonné

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Название Lichter als der Tag
Автор произведения Mirko Bonné
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783731761198



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sogar Lübeck tanken, sein Auto waschen und einen Billiggebrauchtwagen kaufen konnte, Gier, Mauscheleien, Schlampigkeit und Arroganz Einzug hielten. Gebrauchtwagenverkäufer bedienten sich freizügig an den Zapfsäulen, Tankstellenangestellte erhielten großzügig Rabatte beim Autokauf. Für die Kunden wurde alles teurer und immer teurer, zugleich aber Waren und Service schlechter und schlechter. Irgendwann waren die Gebrauchtwagentankstellen der Gegend dermaßen berüchtigt, dass jeder, sogar einer wie Raimund Merz mit seinem Mofa, einen Bogen um alles machte, auf dem in geschwungener Schrift Rauch & Kossleck stand.

      Der Tanke-Rauch verscherbelte kopflos eine Tankstelle nach der anderen und musste sich am Ende doch von seinem Partner, mit dem er seit Jahren kein Wort redete, ausbezahlen lassen, woraufhin der Auto-Kossleck binnen drei Wochen alle in der Insolvenzmasse verbliebenen Rauch-Tanken abreißen ließ, um auf den Grundstücken supermoderne Waschanlagenstraßen zu errichten, die vorgeschriebene Bodensanierung aber vernachlässigte und an den Geldstrafen dafür dann gleichfalls so holterdiepolter bankrott ging, dass er sich nicht mal mehr nach Gomera aus dem Staub machen konnte.

      Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten, als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind. Mit dem alten Jaguar, einem dunkelgrünen XJ Baujahr ’75, den Hajo Kossleck den Rauchs zum fünfjährigen Firmenjubiläum geschenkt hatte und den Moritz gern die Blechflunder nannte, chauffierte der Sohn seine vom Übel der Welt gebeutelten Eltern noch einige Sommer lang nach Sylt. Als dort der Bungalow flöten ging, wichen sie notgedrungen aus nach Binz zu ihrer Ferienwohnung und, als auch die unter den Hammer kam, schließlich nach Damp in eine Pension, die Nora Rauchs früher mal beste Internatsfreundin betrieb. Und immer hatte Moritz vollstes Verständnis für die Selbstgerechtigkeit seines alten Herrn, sogar wenn der mittlerweile silberhaarige Tanke-Rauch ihn beim irrtümlichen Bleifrei-Tanken erst als allerletzte Träne im Ozean verunglimpfte und dann einmal mehr schulterklopfend und mit dumpfem Bass vor falschen Freunden warnte.

      War Merz das denn gewesen, ein falscher Freund? Ja, bestimmt zu der Zeit, als ihnen beiden Inger immer wichtiger wurde. Aber am Anfang, und auch grundsätzlich, nein. Sicher hatten sie beide, Moritz und er, viel zu hohe und von Beginn an uneinlösbare Ansprüche an ihre Freundschaft. Doch man veränderte sich, wurde älter, brauchte mehr und mehr Raum für seine Eigenheiten. Wo einmal kein Blatt Papier zwischen sie beide gepasst hatte, dort klaffte irgendwann ein Riss, ein Spalt, ein Graben und Abgrund, den keiner mehr schloss. Sie hätten Brücken bauen müssen, aber das war irgendwie nicht ihr Metier.

      Fest stand für Merz, dass er Moritz’ Vater Arno eigentlich gar nicht gekannt hatte. Als er noch der Tanke-Rauch gewesen war, hatte er mit ihm nie ein Wort geredet. Alles an seiner Dicke-Wampe-, Dicke-Knete-, Dicke-Karre- und Dicke-Hütte-Attitüde schien darauf abzuzielen, einen gesichtslosen Spund auf Distanz zu halten und ihm damit das Gefühl aufzuhalsen, mit dem sich der Pommernjunge Arno Rauchkowski nach oben schuften zu müssen geglaubt hatte.

      Einer wie Merz wusste, dass keiner sich irgendwohin schuftete, es sei denn unter die Erde. Man konnte nicht aufhören, alt zu werden, das war das Dilemma so vieler, die sich aus Angst vor der Stille, in der einen plötzlich die Dinge ansahen, flüchteten in ewiges Schaffen, Schaffen, Schaffen.

      Merz wusste, dass er mittlerweile älter war als damals zu dessen krassesten Zeiten der krasse Tanke-Rauch. Von Moritz wusste er, dass dessen Vater ab und zu durchaus eine gewisse Milde an den Tag gelegt hatte, gerade später, als er nur noch der alte Rauch war. Doch die Dünkel des Verbitterten gegenüber einem, den er zwanzig Jahre lang vergeblich einzuschüchtern versucht und milde bestenfalls geduldet hatte, blieben dieselben. Die Dünkel waren das Erbe der Rauchs und eine so giftige Schlacke wie das verseuchte Erdreich unter ihren verschwundenen Tankstellen.

      Wie sollte Moritz daran keinen Schaden genommen haben? Inger hatte sich das oft gefragt, und immer öfter hatte sie die Frage auch Raimund Merz gestellt. In ihrem Gesicht sah er die Liebe zu seinem Freund, und je dunkler es wurde in dem Zimmer, in dem sie saßen, oder unter den Bäumen im wilden Garten, umso dichter schob er den Kopf an sie heran. Sehr genau und doch heimlich betrachtete er aus der Nähe ihre Nase, ihr Kinn, die leicht auseinanderstehenden Schneidezähne, ihre Wimpern und den Bogen der Stirn und das Ohr, das durch ihre Haare sah, denn viel Gelegenheit, Inger Rasmussen so nah zu sein, hatte er nicht.

      Ihre Schönheit war selbst in fast vollständiger Dunkelheit deutlich zu sehen.

      Noch nie hatte er für entscheidende Probleme eine Lösung gehabt, schon gar nicht, wenn er sich selber als den Leidtragenden einer Entscheidung sah, und erst recht nicht gegenüber Inger, die, wie er annehmen musste, nicht ihn liebte, sondern Moritz, seinen Freund.

      Manchmal trug sie das verwaschene schwarze T-Shirt von Moritz, auf dem in blassroten Lettern Nebraska stand, wie auf dem Cover von Bruce Springsteens Album.

      »Wenn ich das anhabe, glaube ich immer, ich kann ihm von meiner Kraft was abgeben«, sagte sie. »Das ist dann so wie eine Energieverbindung, weißt du?«

      Er stellte sich vor, das T-Shirt auf der Haut zu spüren, nachdem Inger es den ganzen Tag angehabt hatte.

      »Wie durch eine Wunschkappe, ja«, hatte Merz zu ihr gesagt, und lange hatte sie ihn dann nur angesehen.

      Ja, so war es; abgesehen von Moritz’ Freundin und späterer Frau gab es niemanden, der ihnen Bescheid gegeben hätte. Zumindest theoretisch wäre nur Inger auf den Gedanken gekommen, Flori und Raimund zu informieren, wenn es um Moritz’ Gesundheit ernstlich schlechtstand, zumal es einfach war, mit ihnen in Verbindung zu treten, ob über den Tag, der im ganzen Land gelesen wurde, oder Florianes Gemeinschaftspraxis mit ihrer Schwester Jette.

      Allerdings war das wirklich nur theoretisch so. Denn für Flori war ihre ehemalige Freundin Inger mindestens so gestorben, wie deren Mann womöglich nicht mehr lebte.

      Im Licht der ostwärtsströmenden Wolken verschränkte Merz die Hände unterm Kissen und fand das Ganze auf einmal furchtbar lächerlich.

      Kopfschüttelnd, mit tränenden Augen, lag er im Dunkeln. Inger hatte sich nicht bei ihnen gemeldet, weil sie gut wusste, wie rachdurstig Flori war. Ob sie und Moritz gemeinsam am Ohlsdorfer Friedhof wohnten, ob sie getrennt oder sogar geschieden waren oder ob Moritz gar nicht mehr lebte, reine Spekulation, dachte er beiläufig, aber sofort durchfuhr es ihn so heiß, dass er sich im Bett aufsetzte.

      »Ohlsdorf«, sagte er, und dann noch einmal, so laut, dass er dabei selbst erschrak: »Ohlsdorf!«

      Man musste in einem solchen Fall auf sein Gefühl vertrauen. Hatte Inger nicht einsam gewirkt, ja verlassen? Wie er sie vor ein paar Tagen im Hauptbahnhof und nun in ihrer Friedhofssiedlung erlebt hatte, war sie schwer enttäuscht. Wovon?

      Auch Pippa war ihm sogar im Kreis ihrer Freundinnen nicht glücklich vorgekommen. Bald würden die anderen sie links liegenlassen und auslachen wegen ihres Fahrrads voller Wolken. Es war bloß eine Frage der Zeit … Weshalb waren ihm beide so abwesend erschienen?

      Sollte es möglich sein, dass Moritz tot war?

      Mit einem Mal kam Merz das Leben sehr abenteuerlich vor. Alles erschien wieder möglich, alles denkbar.

      Nebraska, dachte er, wieder und wieder nur diesen Namen.

      Wie herausfinden, ob einer noch lebte, wenn man niemanden ohne Umschweife fragen konnte: »Gestorben? Sie meinen tot?«

      Vielleicht lag es an den Regengeräuschen, vielleicht an dem so würzigen Geruch nach Erde, der durch das Fenster hereindrang und ihm in die Nase stieg, dass sich Merz so deutlich wie seit zig Jahren nicht mehr auf einmal an den wilden Garten erinnerte und die aufflackernden Gedankenbilder anders als sonst nicht beiseitewischte.

      Nicht mal Moritz Rauch wünschte er den Tod. Würde er so einen also retten, wenn er könnte, einen falschen Freund, einen, dem es immer bloß um sich selbst und die eigenen Interessen ging? Selbstverständlich, und ohne zu zögern.

      Wo Hamburgs östliche Vororte an Stormarn und das Herzogtum Lauenburg grenzten, begann die nur von Ackerknicks und letzten Sachsenwaldüberresten durchbrochene Feldmark. Dort waren sie mit den Rädern unterwegs gewesen, und dort hatte er mit Moritz und Flori und manchmal auch anderen Jungs und Mädchen aus den umliegenden Dörfern in den wärmeren