Название | Solo für Schneidermann |
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Автор произведения | Joshua Cohen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783731761006 |
um zu tratschen, wie konnte man also erwarten zu leben? wenn man überhaupt wollte? wenn man hier nicht dranblieb, eisern durchhielt – schwitze zu viel, sprühe Sie voll, ’tschuldigung,
wenn man bloß auf dieser Straße bleibt, weil sich keine malerische Abzweigung ergeben hat,
Kein einladender Umweg?
wie die Straße – wenn man das Straße nennen konnte, eher ein langgezogener Matsch –, auf der ich mit meinem Vater aus der Bukowina kam, aus Czernowitz nach Ungarn und in dessen Hauptstadt Budapest, als Tramper, Wanderer und Matscher zur Musikakademie und zu meiner ersten Stunde bei Schneidermann,
mit der ersten gespielten Note pflanzte ich die Saat für diesen Wind einer Komposition, säte ich in die Luft diesen Schnee eines Konzerts,
vielleicht,
nein, in Wahrheit stapfte und matschte ich zu meiner ersten Stunde, ja, aber zu meiner ersten Stunde bei einem damals berühmten und heute unbekannten Geiger (so war das vor der Möglichkeit des Aufnehmens, vor dem Gedächtnis der Technik),
ein Virtuose, der sich um Schneidermann kaum geschert hätte, wäre da nicht das – überinflationäre – Geld gewesen, das Schneidermann in einem hermetischen, vertrackten Whistspiel, das sie sich ausgedacht hatten, an ihn verlor,
dort untergebracht mit des Virtuosen Neffen (der selbst nie ein Virtuose wurde),
und dann mit meinem entfernten, dunklen Cousin Ziggi (der nie auch nur ein Geiger wurde),
lernte Budapest kennen, meine erste echte Großstadt, und seine Frauen, lernte Pornografie kennen und dann Frauen, die nicht reden, um Nein zu sagen, sondern zuhören,
lieben,
und war nachmittags nur einen Monat lang Schüler des damals berüchtigten und heute absolut vergessenen Geigers, der der einzige, also unwürdige nennenswerte Grund für meinen – falschen – Vater war, uns von der Bukowina nach Budapest und an die Musikakademie zu matschen, in dessen Studio wie Indien, wie ich mir Indien vorstellte, wie Indien dann gar nicht war, als ich da in den Siebzigern wegen eines Benefizkonzerts der UN oder der UNESCO endlich hinkam, wie es aber hätte sein sollen, wenigstens einen Monat lang, für nur dreißig oder einunddreißig Tage, bevor ich die Studios wechselte, was man eigentlich nie macht, aber mit all der Chuzpe der Jugend und ihrem Ehrgeiz wechselte ich zu Schneidermann, dreißig oder einunddreißig Tage, bevor ich mich als Menschen mit meiner Begabung und also meinem Schicksal – zum Missfallen des Direktors, aber mit seiner Einwilligung, weil ich Talent hatte, vielleicht aber auch nur Hartnäckigkeit? oder Sturheit? – ich wechselte also vom Virtuosen zum Musiker, vom Stümper zum Künstler, vom Kind zum Mann, schwor der Musik die Treue vor dem Dreck, hieß die Kunst statt der Scheiße gut, zog Gott der Scheiße vor, am Ende, das noch nicht begonnen hat, entschied ich mich schon in jenem unreifen und haarlosen Alter für erlösenden Scheiß und gegen erlösungslosen Scheiß, am endlosen Ende votierte ich für transzendenten Scheiß und gegen profanen Scheiß, für Sinn und gegen wohlfeile Gesten, für den Scheiß des Sinns und gegen den Scheiß der Gesten, worauf sich damals mein ganzer Wille richtete, eine Geste an die Adresse einer Welt, von der ich bloß träumte und hoffte, sie würde mehr Sinn zu bieten haben, denn dort in dem spartanischen und schonungslosen Studio fand sich unter uns beiden, fand sich unter Schneidermann und mir nur einer, der kein Affe war und mit der eigenen Scheiße um sich warf,
der kein geistig behindertes Kleinkind war, das die eigene Scheiße fraß,
im Kindesalter starb, weil es die eigene Scheiße gefressen hatte und dann als Affe wiedergeboren worden war, als Klammeraffe, der mit der eigenen Scheiße um sich schmiss,
ein scheißegefüllter Lemming, der sich über die Klippe Mittelmaß stürzte – haben Sie das je mitbekommen? – als Strafe für Sünden, zu zahlreich und zu schwerwiegend, um hier dafür um Verzeihung zu bitten (Hybris),
um sie zu büßen (Hochmut),
um sie zu bereuen, nur um neue und immer wieder neue zu begehen, danach sah es damals jedenfalls aus.
Wir spielten eine frühere Version dieses Konzerts, und ich improvisierte eine Kadenz,
in dem raumlosen Raum improvisierte Schneidermann das Klavierkonzert, für dessen Komposition sein Leben nicht kurz genug war,
in dem raumlosen Raum spielten wir seine unvollendeten Sonaten, und ich improvisierte ihre Vollendung,
wir studierten und wir spielten,
wir analysierten und wir spielten,
wir konzertierten und wir spielten,
wir tourten und wir spielten, durch die Zeit, durch die Luft, durch den Rauch:
laut Schneidermann, laut Zwei-bis-drei-Päckchen-am-Tag-Schneidermann, laut Fünf-bis-sechs-Päckchen-am-Tag-Schneidermann, wenn Sie sich für seine Klaviertechnik interessieren, dann kann ich es Ihnen genau so erklären, wie Schneidermann es mir erklärt hat, und das läuft darauf hinaus, dass der wahre Test der Klavierkunst, des Könnens oder was immer Sie haben, darin besteht, gleichzeitig spielen und rauchen zu können, simultan, und mit Spielen meine ich,
mit Spielen meinte Schneidermann, er meinte das Spielen mit beiden Händen (oder mit x-beliebig vielen Händen, über die man gerade verfügt, die einem der Krieg halt gelassen hat), so dass man keine Hand mehr übrig hat, die die Zigarette aus dem Mund nehmen, wieder hineinstecken, abaschen oder ausdrücken könnte, und deshalb muss man weiterspielen, und smoke gets in your eyes, wie der alte Song weiß, und Mr. Fein,
Mr. Feinberg, Mr. Feingold, Ihr Name ist schon wieder perdu, hätten Sie vielleicht noch mal ein Streichholz?
Nein?
Nein.
Fein, ganz wie Sie wollen, Mr. Brandschutzbeauftragter – und die Asche füllt das Studio, verfärbt die überstrapazierten Wände, Asche rieselt auf die Tasten, Asche gerät zwischen die Tasten, verholzt alles, schwärzt das weißeste Hemd à la mode des letzten Wunderkindes, setzt sich in den Rüschen fest, bildet Streifen auf der himmelblauen Samtkrawatte, die Augen tränen, die Tränenkanäle öffnen und schließen sich unwillkürlich, und dein Spiel kennt keine Pause, keine akustischen
(oder, wie Schneidermann oft insistierte, während er es an der Klaviatur meines Flügels demonstrierte oder nicht demonstrierte und dadurch demonstrierte, körperlichen) Folgen für das eigene Spiel, die in der Konzertpraxis Ausdruck fänden, ein Tastaturstil, der zweifellos den Höhepunkt des Klavierjahrhunderts des letzten Jahrhunderts darstellt:
dunkel, fast ominös, aber stoischer als die meisten – das war Schneidermann, so war er bei jedem Konzert, klar, aber auch bei jeder Probe, nein, grundsätzlich immer, wenn er sich ans Klavier setzte, vor das Klavier, immer, ein Kraftakt, der genauso staunenswert war wie seine Umsetzung staunenswert schwieriger Kompositionen, die noch staunenswerter zu seinen eigenen Kompositionen wurden als ich,
der die Funktion hatte, das Ehrenamt ausübte – als wären wir nicht so sehr ernstzunehmende zeitgenössische Musiker als vielmehr eine endlose Weimarer Kabarettnummer aus Anzünden und Ausdrücken –, ihm neue, frische Zigaretten zwischen die stets rissigen und sich schälenden Lippen zu stecken:
vier Päckchen, also achtzig Stück, um Skrjabins letzte Sonate zu spielen, ohne eine Pause zwischen zwei Zigaretten, die nicht durch die Partitur vorgegeben war, oder um mich zu begleiten – aber wer begleitete da wen? –, wenn wir Schostakowitschs Violinsonaten spielten, keine Träne, nichts wurde vergossen,
weder für die Musik noch für den Rauch, und vier Päckchen am Tag, davon können Sie ausgehen, das wird teuer in diesem Amerika, wo Worte nur Schall und Rauch sind, wo Rauch aber sofort besteuert wird, fast prohibitiv kostspielig wird das, und deswegen rauchte Schneidermann in späteren Jahren fast nur noch rumänische, oder waren das bulgarische? mazedonische? albanische? oder allgemeinbalkanische? postkommunistische Zigaretten, die sich Schneidermann von dort, wo immer das nun war, schicken ließ, sich von Kollegen und Exkollegen und Söhnen von Kollegen und Enkelsöhnen von Exkollegen herschicken ließ, und alle bewahrten sie das Andenken des