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bleiben, nach und nach würde es zu kühl, wie schön auch die Nacht sei. Sie fragte, ob Fräulein Alice sich schon zurückziehen oder noch einmal in den Saal eintreten wolle.

      »Nein, nein!« rief diese abwehrend aus. »Ich hatte keine Ruhe mehr drinnen unter den vielredenden Menschen; aber auf mein einsames Zimmer zu gehen, erschreckt mich auch, die Nacht ist so lang!«

      »Wollen Sie mit mir in meine Stube hinaufkommen?« fragte Hedwig; »da sind Sie nicht allein und auch nicht unter vielredenden Menschen.«

      Alice willigte sogleich ein. Sie stiegen zusammen nach der Eckstube hinauf, wo in das eine Fenster die Kirche herüberschaute und vor dem anderen die dunkeln Walnußbäume leise rauschten und ihre Schatten auf den mondbeglänzten Wiesengrund warfen. An diesem Fenster setzte sich Alice nieder.

      »Kommen Sie hierher zu mir und machen Sie kein Licht«, sagte sie, »Mond und Sterne machen hell genug, und man sieht die Landschaft besser so.«

      Hedwig setzte sich neben Alice hin. Diese fing bald von der Mutter des lahmen Kindes zu sprechen an; sie war sichtlich noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den die Worte der Frau auf sie gemacht hatten.

      »Wer doch der armen Frau helfen könnte!« wiederholte sie nochmals in bewegtem Tone. »So viel Not und Kummer und dazu noch einen Vorwurf im Gewissen! Wer doch einen Trost für sie hätte!«

      »Fräulein Alice«, sagte Hedwig, »so, wie Sie von dem Jammer dieser Frau erfüllt sind, und noch viel mehr und viel tiefer, bin ich von Ihrem eigenen Kummer erfüllt, den ich nicht kenne, aber wohl jedem Ihrer Worte abfühle. Immerfort und schmerzlich verlangend heißt es für Sie in meinem Herzen: ,Ach wer ihr doch helfen könnte! Wer doch einen Trost für sie hätte!'«

      Alice ergriff Hedwigs Hand und hielt sie zwischen den ihrigen fest. »Ich verdiene nicht, daß jemand so warmen Anteil an mir nimmt; aber es tut so wohl! Ich stehe so ganz allein hier – nicht nur hier«; – sie hielt wieder inne und blieb stumm.

      Hedwig fragte sie, ob sie zu den Naturen gehöre, die besser tun sich verschlossen zu halten, weil sie sich über ein Aufschließen ihres Wesens nachher mehr grämen, als über ihr Alleinstehen; oder ob sie beide sich noch zu wenig kennten, um gegenseitig ein volles Vertrauen zueinander gefaßt zu haben.

      »Nein, nein, das ist's nicht«, sagte Alice lebhaft; »ich hatte bald Vertrauen zu Ihnen, ich fühlte auch Ihre Teilnahme für mich und hätte gerne schon zu Ihnen geredet, um einmal jemand zu zeigen, wer ich bin, und es auszusprechen, wie schlecht ich bin. Ich meine, schon das hatte mich erleichtern müssen. Aber – es ist bitter, zu denken, eine warme Teilnahme könnte sich in Abneigung, in Verachtung verwandeln.«

      »Könnten Sie das glauben?« fragte Hedwig, indem sie Alice tief in die Augen schaute. »Sie so von einer schweren inneren Last niedergedrückt zu sehen, hat mein Verlangen erweckt, Ihr Vertrauen zu gewinnen, und ich glaube, wir müßten uns wohl verstehen können. Was meinen Sie, wird der Gerettete am Lande mit Verachtung auf den hinschauen, der draußen noch mit den bitteren Wogen kämpft, denen er selbst gnädig entrissen worden ist?«

      Alice legte ihren Arm um Hedwig: »Ich möchte wohl mein Herz Ihnen ausschütten – wenn ich's kann«, setzte sie leise hinzu. Die entgegenkommende Liebe löste ihr die Worte von den Lippen.

      Hier im Sternenschein, auf den stillen Wiesengrund blickend, saßen die beiden lange Stunden. Alice hatte ihr Herz aufgeschlossen und ohne Rückhalt legte sie, was ihr auf der Seele lag und was sie noch nie hatte aussprechen können, vor die Freundin und ließ diese einen Blick in ihren ganzen Lebensgang tun. Alicens Vater war ein Schotte. Seine Güter lagen an den Ufern des dunkelgrünen Tay. Von dem alten grauen Hause aus, hoch oben unter den Eichen, hörte man das Rauschen seiner Wellen, Nur wie an einen Traum erinnerte sich Alice der Zeit, die sie da verlebt hatte. Ihre Mutter war eine Norddeutsche gewesen; Alice hatte sie nie anders als leidend gekannt. Sie litt an einer Halskrankheit und die Ärzte fanden den Zustand bald so gefährlich, daß sie dem Vater rieten, ein milderes Klima aufzusuchen. Er verließ seine Güter und zog nach Südfrankreich, wo er in der Nähe eines besuchten Kurortes in abgeschlossener Lage eine Villa nach seinem Sinne fand, die er ankaufte, um sich da mit seiner Familie niederzulassen. Erst hier begannen Alicens klare Erinnerungen. Die Familie lebte sehr abgeschieden; die Mutter war krank, der Vater, durch diesen Zustand noch ungeselliger geworden, als er schon von Natur war, hatte hier in der Fremde gar keine Beziehungen angeknüpft. Alice wurde mit einer jüngeren Schwester von einer deutschen Erzieherin erzogen. Diese war jahrelang ihr einziger Umgang, so daß Alice nur deutsch sprach und ausschließlich von deutschem Wesen beeinflußt wurde. Kaum zwölf Jahre alt – die jüngere Schwester zählte noch nicht neun –, verlor sie ihre Mutter.

      Ihr Vater mußte den neuen Wohnort lieb gewonnen haben, es war nie von einer Rückkehr in die Heimat die Rede. Die Mädchen lebten mit ihm und der Erzieherin fort in einer Abgeschlossenheit, in der, wie Alice sich ausdrückte, »eine Menschenseele ermatten, oder zu krankhafter innerer Erregung gesteigert werden mußte.«

      »Ich kam zu dem letzteren, nachdem das erstere mir gedroht hatte. Ich war an die Bibliothek meines Vaters geraten und war da mit Geistern in Berührung gekommen, die das gebannte Leben plötzlich in mir lösten. Ich las alles, was ich vorfand, und ich fand vieles, denn mein Vater brachte seine ganze Zeit mit Lesen zu, und was er schätzte, kam in seine Bibliothek. Da sah ich, was ein Menschendasein ist draußen in der Welt, wo das Leben pulsiert, wo die Geister Leben erweckend sich berühren. Es kam wie ein Fieber in mich, das regungslose Dasein konnte ich nicht mehr ertragen, ich mußte hinaus, ich mußte, und es war ja leicht, dies auszuführen. In einer Stadt des Nordens, wo die Wellen des geistigen Lebens hochgehen, wohnen die nahen Verwandten meiner seligen Mutter, die mich oft schon zu sich gebeten hatten. Ich dachte nun Tag und Nacht darauf, wie ich meinen Plan ausführen und meinen Vater für die Sache gewinnen könnte. Um diese Zeit kam ein Prediger der schottischen Kirche in dem nahen Kurort an, der hier das Amt des Geistlichen für längere Zeit angenommen hatte. Er brachte Empfehlungen an meinen Vater mit und besuchte uns nun oft. Schon daß dadurch die Einförmigkeit unserer Tage unterbrochen wurde, machte uns seine Besuche lieb, viel mehr aber die Bemerkung, daß mein Vater dabei zu einer geistigen Lebendigkeit erwachte, wie wir sie an ihm nie gekannt hatten. Der Prediger ist ein feingebildeter Mann, der lange auch auf deutschen Universitäten studiert hat und auf allen geistigen Gebieten wohlbewandert ist. Wo immer mein Vater Auskunft zu haben wünschte, er hatte sich nur an den Prediger zu wenden, und er war sicher, ins klare zu kommen. Mein Vater pflegte von ihm zu sagen, von diesem Manne gelte nicht nur das Wort, er habe auf jedem Felde gepflügt, besser könne man von ihm sagen, er habe darauf gearbeitet vom Samenstreuen bis zum Fruchtschneiden. Bald konnte auch mein Vater diesen Umgang gar nicht mehr entbehren. Wir hatten unsere besondere Freude an dem Verhältnis, meine Schwester und ich trugen auch unseren Gewinn davon. Die feine Art in Wort und Wesen des Predigers gefiel uns wohl, und seine Unterhaltung war so lehrreich und anregend, daß uns jeder seiner Besuche zu neuen Studien leitete und neue Blicke auftat. Pastor A. war sehr ernst; aber es lag etwas Poetisches in seinem Wesen, in seinen Worten, in seiner ganzen Erscheinung. Er las uns die Werke der deutschen Dichter vor und machte uns auf ihre Besonderheiten aufmerksam. Wir lernten so viel Schönes durch ihn kennen, und alles, was er erst selbst aufgenommen hatte und uns dann wiedergab, gewann einen neuen, lebendigen Sinn und eine tiefe Bedeutung.

      Mir ging durch ihn jeden Tag ein neues Verständnis auf; es steigerte sich mein Verlangen, dahin zu kommen, wo solch geistiges Regen und Bewegen nicht nur die spärliche Gabe des einzelnen blieb, sondern von allen Seiten aus voll sprudelnden Quellen fließen würde. Mit einem Male empfand ich – glaubte ich zu bemerken, daß Pastor A. nicht mehr ganz derselbe war, wie ich ihn von Anfang an gekannt hatte; es war in seinem ganzen Benehmen etwas anders geworden, und ich fühlte bald, daß er nur gegen mich verändert war; mit Lucy und dem Vater hatte er das gewohnte, trauliche Wesen beibehalten. Es kam ein ängstlicher Gedanke über mich. Dann sagte ich mir wieder, es sei alles nur Einbildung von mir, und so ging es eine Zeit lang weiter. Pastor A. war nun unser täglicher Gast geworden, mein Vater konnte ihn nicht mehr entbehren, ein Abend ohne ihn war für uns alle wie verloren. Pastor A. las uns damals Schleiermachers Briefe vor. Eines Abends, wie er eben eine Bemerkung über das gewinnbringende Zusammenstießen so vieler geistiger Elemente in jenen Kreisen Berlins gelesen hatte, ruft Lucy plötzlich aus: