Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Название Gesammelte Werke von Johanna Spyri
Автор произведения Johanna Spyri
Жанр Книги для детей: прочее
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Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788027209026



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Dann, wie elektrisiert, fuhr es plötzlich auf: »Aber an einem so langen Tage kann auch viel begegnen; da könnte es wohl einmal kommen, glauben Sie nicht auch?« Das Kind schaute Hedwig mit seinen forschenden Augen erwartungsvoll an. Hedwig hatte nicht den Mut, dem Kinde Hoffnung auf eine Freude zu machen, an die sie selbst nicht glaubte; ihm aber diese einzige beglückende Aussicht zu rauben, das vermochte sie auch nicht. »Einmal, Juliette, gewiß einmal kommt auch für dich der Tag der Freude«, sagte sie. –

      Hedwig war zurückgekehrt; sie stand stille am Gartenpförtchen und schaute um sich; so hatte sie Himmel und Erde noch nicht gesehen, seit sie dieses Tal des zauberhaften Farbenglanzes betreten hatte.

      Vom Hause her kam der Baron ihr entgegengelaufen.

      »Und wie geht es Ihnen in diesem Jammertal?« fragte er, einen tragikomischen Blick auf die leuchtenden Berge hin werfend, in deren Anblick Hedwig versunken war.

      »Für Sie und mich ist freilich der Jammer nicht groß, solange wir in solchem Sonnenschein auf der schönen Erde herumgehen«, erwiderte Hedwig; »aber deswegen ist der Erdenjammer doch nicht ausgetilgt. Wollen Sie das bestreiten, wenn ich Ihnen ein junges Leben zeige, das in Entbehrung und Leiden dahinwelkt, ehe es nur aufgeblüht hat?«

      »Wirklich, hier in diesem Wundertale? Ist's möglich? Wo denn? Wer denn?« fragte der Baron mitleidig.

      Hedwig war noch ganz erfüllt von dem Eindrucke, den ihr die verlassene Kleine heute besonders gemacht hatte; sie erzählte mit warmem Herzen von dem lahmen Kinde und seinem freudlosen Dasein.

      Der Baron wurde ganz erregt. »Das arme Wesen! Das arme kleine Ding!« rief er einmal ums andere. »Hat es denn gar keine Lebensfreude?«

      Nun sprach Hedwig von der sonderbaren Erwartung des Kindes, die wirklich eine Art von Lebensfreude bei ihm war, da sie für dasselbe jeden Tag mit einem Hoffnungsschimmer anhauchte. »Aber es wird ja der vergeblichen Hoffnung bald müde werden und auch diese Art von Freude verlieren«, setzte sie hinzu. »Das arme Kind, was sollte auch Wunderbares in dieses elende Leben hineinfallen!«

      »Woher das Kind nur die Idee hat, immer 'was Besonderes zu erwarten; das gefällt mir!« sagte der Baron mit lebhafter Teilnahme.

       Hedwig teilte ihm mit, wie es von einer Geschichte herkomme, die man ihm erzählt hatte, und schloß: »Das Kind muß starke Eindrücke haben und lange daran arbeiten im stillen. Wie wenig Wechsel ist auch in diesem Leben ohne alle Bewegung! So anders, als alles Kinderleben ist und sein sollte.«

      Der Baron und Hedwig waren in der Veranda angekommen und gingen darin auf und nieder. Hedwig fragte, ob denn keine Partie vorliege für den heutigen Tag.

      »O! mehr als eine«, rief der Baron aus, »drei, eigentlich sechs.« Vor lauter Auswahl sei man noch zu keinem Entschluß gekommen, sie müßten aber alle fertig gebracht werden. Mit Hedwig war er nicht zufrieden, denn noch hatte sie an keiner der Partieen teilgenommen, und mit der Römerin sei gar nichts anzufangen, die lehne erst recht alles ab. Er hatte einen der Amerikaner dahin gebracht, sich ihr zu nähern, selbst hätte er den Mut dazu nicht gehabt; aber der Mensch sei mit all seinen Anträgen schmählich abgeblitzt, wie der Baron diese Erfahrung bezeichnete. Er fand es aber zu schade, daß ihr nicht beizukommen sei, und meinte, Hedwig sollte einen Ausweg ausfindig machen; sie würde ja gewiß zuerst dafür belohnt werden, dessen wäre er sicher.

       Während des Gesprächs war Frau v. L. über die Veranda gegangen; sie hatte ernst und schweigend gegrüßt; jetzt kehrte sie wieder zurück, nochmals einen langen, strengen Blick auf die Sprechenden werfend.

      »Diese Erscheinung nenne ich die Schleier-Eule«, bemerkte der Baron, als sie in den Saal getreten war. »Mir wird etwas bange in ihrer Nähe, so als könnte sie einem auf einmal in die Haare fahren und großen Schaden darin anrichten.«

      »Das ist Ihr böses Gewissen, das Ihnen solche Bilder vor Augen führt«, entgegnete Hedwig; »diese Frau tut niemand 'was zuleide, sie wünscht jedem das Beste und würde es ihm gern beibringen, nur auf ihre Weise.«

      »Und ihre Weise ist schauerlich«, sagte der Baron, sich schüttelnd.

      Eben war die Post angelangt. Der Baron lief dem Briefboten entgegen und wurde belohnt. Für sich zog er einen dicken Brief heraus, auch für Hedwig brachte er einen. »Hieroglyphenzeichen«, bemerkte er, indem er den Brief übergab. Dies war richtig; es war die kribblige, aber für Hedwig so liebe Handschrift der nahen Freundin, die eben in Südfrankreich angekommen war, um ihrer zarten Gesundheit wegen dort den Winter wieder zuzubringen. Sie erzählte von ihrer Freude am Wiederfinden aller bekannten Wege und der unvergleichlichen Schönheit der Natur, die sie rings umgab. Am Schlusse des Briefes nannte sie Hedwig einen Namen, den diese durchaus nicht entziffern konnte. Sie studierte lange daran: den Namen hatte sie nie gehört. Vielleicht konnte ihr der Baron Aufschluß geben. Er stand an einen Pfosten der Veranda gelehnt und las kichernd seinen Brief. Jetzt war er zu Ende. Eine Weile lachte er noch in sich hinein. Hedwig ging zu ihm hin. »Sie müssen recht erheiternde Nachrichten erhalten haben, der Wirkung nach zu schließen, Herr Baron.«

      Nun lachte er heraus: »Nein, meine Mutter ist zu köstlich! wirklich zu köstlich! Schon in zwei Briefen schrieb sie mir weitläufig über die Heimkehr unserer jungen Nachbarin, die drei Jahre lang irgendwo in einer Anstalt war, um etwas gezähmt zu werden. Nun soll sie mit ganz goldenen Haaren und einem bewunderungswürdigen Charakter heimgekehrt sein und die Zierde des Landes ausmachen. Da ich auf die beiden Briefe mit demselben Inhalt wenig zu sagen wußte, bekomme ich heute eine ganz enorme Epistel von der besorgten Mutter; da steht dann viel geschrieben von Töchtern des Landes und von Gefahren der Fremde, und dann kommen noch einmal die goldenen Haare und die Charaktervorzüge der Nachbarin Lili. Ich habe dieses Extrawesen zuletzt gesehen vor ungefähr fünf Jahren, da war es ein zwölfjähriges, grauenhaftes kleines Wild, das mir durch den Garten nachlief, mich einzufangen, und wie es mich an meinem Rockschoß erwischt hatte, riß es so verzweifelt daran, daß er ihm in den Händen blieb und ich mich dergestalt überschoß in einen Rosenbusch hinein, daß ich völlig verwüstet wieder daraus hervorging, und nun schreibt mir die Mutter beruhigend, so 'was würde Lili heute nicht mehr ausführen. Das muß ich für ihren guten Vater hoffen; den risse sie völlig auseinander mit solcher Gewalttat. Daß aber die Mutter meint, ich sollte mich während der Zeit meiner Erholung hier ausschließlich mit dem Haarwuchs unserer kleinen Nachbarin beschäftigen, das finde ich einzig; es fehlt nur noch, daß ich ein Muster bekommen hätte von der Farbe und Länge des goldenen Vließes.«

      »Nur nicht so spöttisch, Herr Baron«, sagte Hedwig; »man kann nie wissen, womit man sich noch beschäftigen wird. Kommen Sie, helfen Sie mir einen Namen entziffern; wer kann hier so heißen?«

      Der Baron folgte Hedwigs Finger auf dem Papier.

       »Das ist der Name der Römerin, wie er im Fremdenbuch steht«, fuhr er auf; »wer weiß etwas von ihr?«

      Hedwig sah ihn überrascht an. »Sie ist's? dann hoffe ich bald von ihr zu wissen.«

      Sie teilte dem Baron mit, daß ihre Freundin ihr geschrieben, es müsse in derselben Pension mit ihr eine junge Dame sich befinden, deren Bekanntschaft sie im vorigen Winter in Südfrankreich gemacht hatte und die Hedwig durchaus kennen lernen müsse; sie sollte sich sofort mit einem Gruß der Freundin bei der Betreffenden einführen.

      »Herrlich! köstlich! Was man nur wünschen kann!« rief der Baron hoch erfreut. »Heute noch wird ein Angriff gemacht und morgen die ganze Festung eingenommen!«

      »So militärisch werde ich kaum verfahren«, meinte Hedwig, indem sie die Veranda eilig verließ, da sie bemerkte, wie das Mädchen sich eben anschickte, die gellende Tischglocke in Bewegung zu setzen.

      Der spätere Abend dieses Tages war mild und sternenhell, so daß die meisten der Gäste länger als gewöhnlich im Garten hin und her gingen. Hedwig stand am Eingang der Veranda und schaute die Vorüberwandernden an: sie hoffte, die Römerin darunter zu erblicken. Seit sie ihren Brief erhalten hatte, wartete sie immer auf eine passende Gelegenheit, sich der jungen Dame zu nähern. Es wurde spät, die Gäste verloren sich nach und nach, Hedwig trat in den Saal ein. Es war fast niemand da und alles still. In einer Ecke saß Frau v. L., in einer anderen die Römerin, ganz