Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Название Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert)
Автор произведения Walter Benjamin
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788075834935



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und die der Herr um und umdrehte.

      Zwei andere Herren waren mit dem ersten herausgekommen. Der eine war ein untersetzter Mann von mittleren Jahren, in dürftiger Kleidung und von unzufriedener Miene; er hatte beständig die Hände in den Taschen seiner pfeffer-und salzfarbigen knappen Hose, die infolge dieser Gewohnheit sehr weit abstanden, und war nicht besonders reinlich gewaschen und gebürstet. Der andere Herr trug einen blauen Frack mit blanken Knöpfen und eine weiße Halsbinde. Er hatte ein sehr rotes Gesicht, als wenn zuviel Blut aus seinem Körper sich nach dem Kopfe drängte, und dies war vielleicht auch der Grund, weshalb er recht kaltherzig zu sein schien.

      Derjenige, der Tobys Mittagsmahl an der Gabel umdrehte, rief den ersteren unter dem Namen Filer heran, und sie steckten nun beide die Köpfe zusammen. Da Mr. Filer außerordentlich kurzsichtig war, mußte er sich die Überreste von Tobys Mahlzeit so dicht vor die Augen halten, um zu erkennen, was es war, daß Toby das Herz fast stehenblieb. Mr. Filer aß aber nicht.

      »Dies ist eine Art animalischen Stoffes, Ratsherr«, sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »den die Arbeiterklasse dieses Landes Kaldaunen nennt.«

      Der Ratsherr lachte und zwinkerte mit dem Auge, denn er war ein gar vergnügter Herr, der Ratsherr Cute. Und ein Schlaukopf außerdem, der alles wußte, alles durchgemacht hatte und nicht getäuscht werden konnte. Er hatte die Herzen des Volkes ergründet! Wenn jemand es kannte, so war es Cute.

      »Wer aber ißt Kaldaunen?« fuhr Mr. Filer fort und sah sich rings um. »Kaldaunen sind ausnahmslos der am wenigsten ökonomische, der verschwenderischste Konsumtionsartikel, den die Märkte dieses Landes irgendwie produzieren können! Es hat sich durch genaue Untersuchungen ergeben, daß ein Pfund Kaldaunen, wenn sie gekocht werden, sieben Achtel verlieren, ein Fünftel mehr als irgendeine andere animalische Substanz. Kaldaunen sind kostspieliger im eigentlichen Sinne des Wortes als Treibhausananas. Wenn man die Anzahl der Rinder berechnet, welche jährlich nur innerhalb des Stadtweichbildes geschlachtet werden, und wenn man die Quantität der Kaldaunen, welche die Leiber dieser Rinder liefern, wenn man sie zur rechten Zeit schlachtet, noch so niedrig anschlägt, so resultiert daraus, daß von dem Verluste der Kaldaunen, wenn sie gekocht werden, eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate, jeder Monat von einunddreißig Tagen, und einen Februar lang leben könnte. O über die Verschwendung, die Verschwendung!«

      Trotty stand da mit offenem Munde, und die Beine zitterten unter ihm. Er sah aus, als wenn er eine Garnison von fünfhundert Mann auf eigene Faust ausgehungert hätte.

      »Wer ißt Kaldaunen?« fragte Mr. Filer mit Wärme. »Wer ißt Kaldaunen?«

      Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

      »Ihr, Ihr?« fragte Mr. Filer. »Dann will ich Euch etwas sagen, mein Freund, Ihr nehmt Eure Kaldaunen Witwen und Waisen vom Munde weg.«

      »Das will ich nicht hoffen«, sagte Trotty mit kläglicher Stimme. »Lieber wollte ich Hungers sterben!«

      »Dividiert die vorher erwähnte Quantität von Kaldaunen«, fuhr Mr. Filer fort, »mit der ungefähren Zahl der Witwen und Waisen, und es kommt auf jede einzelne ein Quäntchen Kaldaunen. Für Euch bleibt kein Lot übrig. Folglich seid Ihr ein Räuber.«

      Trotty war so erschüttert, daß er nicht einmal bekehrte, als der Ratsherr das Stückchen Kaldaune selber verzehrte. Im Gegenteil schien es ihm eine Gemütserleichterung, daß er es nun los war.

      »Und was sagen Sie?« fragte der Ratsherr scherzend den Mann mit dem roten Gesicht und dem blauen Frack. »Sie haben Freund Filer gehört. Was sagen Sie?«

      »Was kann man sagen?« entgegnete der Angeredete. »Was soll man sagen? Wer kann an einem solchen Menschen« – er meinte Trotty – »in solch entarteten Zeiten Interesse finden? Sehen Sie ihn an! Was für ein Geschöpf! O, die gute alte Zeit, die schöne alte Zeit, die große alte Zeit! Das war die Zeit zur Bildung eines kräftigen Bauernstandes und dergleichen. Das war die Zeit, mit der man alles, ja alles unternehmen konnte. Heutzutage ist nichts mehr los. Ach!« seufzte der Herr mit dem roten Gesichte, »die gute alte Zeit, die gute alte Zeit!«

      Der Herr erklärte nicht, was für Zeiten er gerade meinte, auch sagte er nicht, ob er der Gegenwart Vorwürfe machte in dem unselbstsüchtigen Bewußtsein, daß sie nichts sehr Merkwürdiges getan hatte, außer daß sie ihn hervorgebracht hatte.

      »Die gute alte Zeit, die gute alte Zeit!« wiederholte er. »Was war das für eine Zeit! Das war eine einzige Zeit! Es ist nicht der Mühe wert, von irgendeiner andern Zeit zu sprechen oder darüber zu streiten, was für Menschen in unserer Zeit leben. Sie nennen dies doch keine Zeit, frage ich? Ich tu’s nicht. Sehen Sie in Strutts Costumes nach und Sie werden sehen, was ein Packträger unter irgendeiner der guten alten englischen Regierungen war.«

      »Er hatte unter den besten Verhältnissen kein Hemd auf dem Leibe und keinen Strumpf an den Füßen, und kaum ein Gewächs in ganz England wuchs für seinen Schnabel«, warf Mr. Filer ein. »Ich kann es durch Tabellen beweisen.«

      Aber immer noch pries der Herr mit dem roten Gesicht die gute alte Zeit, die große alte, die herrliche alte Zeit. Mochte ein anderer sagen, was er wollte, er drehte sich mit einer eingelernten Redensart über sie im Kreise umher, wie sich ein Eichhörnchen in seinem Drehbauer herumdreht, von dessen Mechanismus und dessen Kniff es einen ebenso klaren Begriff hat, als der Herr mit dem roten Gesicht von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich.

      Es ist möglich, daß der Glaube Trottys an diese sehr unklare alte Zeit nicht ganz zerstört war, denn er fühlte sich in dem Augenblicke unklar genug. Eins aber war ihm klar mitten in seinem Unglück, nämlich: obwohl diese Herren im einzelnen verschiedener Meinung waren, seine Ahnungen von heute morgen und von vielen anderen Morgen waren nur zu wohl begründet. »Nein, nein. Wir können nicht den rechten Weg gehen oder das Rechte tun«, dachte Toby voll Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir sind von Natur böse!«

      Trotty aber hatte ein väterliches Herz in der Brust, das trotz dieser Vorherbestimmung auf irgendeine Weise sich dorthin verirrt haben mußte; er konnte es nicht ertragen, daß Meg in der Blütezeit ihrer kurzen Wonne von diesen weisen Herren ihr Schicksal vorausgesagt erhalten sollte. »Gott sei ihr gnädig«, dachte der arme Trotty, »sie wird es zeitig genug erfahren.«

      Er winkte daher dem jungen Schmied eiligst, daß er sie fortführen möchte; doch dieser war so vertieft in ein Gespräch mit Meg, daß er, da er in einiger Entfernung stand, diesen Wink erst verstand, als der Ratsherr Cute diesen auch bemerkt hatte. Nun hatte der Ratsherr seine Weisheit noch nicht an den Mann bringen können, denn er war ein Philosoph, und zwar ein praktischer, o, nein, ein sehr praktischer Philosoph; und da er keinen seiner Zuhörer zu verlieren Lust hatte, rief er: »Halt!«

      »Sie wissen«, sagte der Ratsherr zu seinen beiden Freunden mit selbstgefälligem Lächeln über dem ganzen Gesicht, das er immer zur Schau trug, »ich bin ein schlichter Mann und ein Praktiker, und ich gehe auf einfachem; praktischem Wege zu Werke. So mache ich’s. Es ist gar kein Geheimnis oder eine Schwierigkeit, mit dieser Art von Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht und in ihrer eigenen Weise mit ihnen sprechen kann. Heda, Ihr, Mann! sagt Ihr mir doch nicht, oder irgend jemand, der mein Freund sein will, daß Ihr nicht immer genug zu essen habt, und sogar vom Besten, weil ich das besser weiß. Ich habe Eure Kaldaunen gekostet, und Ihr könnt mich nicht uzen. Ihr wißt, was leimen heißt, he? Nicht wahr, das ist das rechte Wort? Ha, ha, ha! ‘s ist das Leichteste auf der Welt«, sagte der Ratsherr, indem er sich wieder an seine Freunde wandte, »mit dieser Art Leuten zu verkehren, wenn man sie nur zu behandeln versteht.«

      Ein prachtvoller Mann für das niedere Volk, der Ratsherr Cute! Immer bei guter Laune! Ein leutseliger, gesprächiger, spaßhafter Herr, der die armen Leute kannte!

      »Seht, Freund«, fuhr der Ratsherr fort, »es wird viel Unsinn geschwatzt über Mangel und ›böse Zeit‹; nicht wahr, so heißt die Redensart? Ha, ha, ha! Ich werde sie ausrotten. Ferner hört man überall die alberne Klage über Hungerleiden des Volkes – ich werde sie ebenfalls ausrotten. So soll es sein, sehen Sie«, sagte er wieder zu seinen Freunden gewendet, »man kann unter dieser Art Leuten alles ausrotten, wenn man nur weiß, wie man es anfassen muß!«

      Trotty