Название | Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788075834935 |
Ich würde euch keinen Gefallen erweisen, wenn ich mit derber Hand die Freude dieser lange getrennten und jetzt wieder vereinten Familie analysieren wollte. Darum wollen wir den Doktor nicht in der Erinnerung an seinen Schmerz begleiten, den er nach der Flucht Marions empfunden hatte. Wir wollen auch nicht berichten, wie ernst er die Welt gefühlt hatte, zu der eine tief eingewurzelte Neigung das Erbgut aller Menschen ist; auch nicht, wie ihn eine solche Kleinigkeit, wie der Fehler bei einer einzigen kleinen Ziffer in der großen Narrenrechnung, zu Boden gedrückt hatte. Auch nicht, wie ihm seine Schwester schon lange aus Mitgefühl die Wahrheit allgemach enthüllt, ihm das Herz der freiwillig verbannten Tochter entdeckt und ihn zu ihrem Herzen geleitet hatte.
Wir erzählen auch nicht, wie Alfred Heathfield in dem eben verflossenen Jahre die Wahrheit erfahren; und wie Marion ihn wiedergesehen und ihm als ihrem Bruder gelobt hatte, an dem Abend ihres Geburtstages Grace mit eigenem Mund alles zu offenbaren.
»Ich bitte um Verzeihung, Doktor«, sagte Mr. Snitchey, in den Garten lugend, »darf man stören?«
Ohne eine Antwort zu erwarten, ging er geradeswegs auf Marion zu und küßte ihr in großer Freude die Hand.
»Wenn Mr. Craggs noch am Leben wäre, mein teures Fräulein Marion«, sagte Mr. Snitchey, »so würde er mit großer Teilnahme dem heutigen Tag folgen. Er würde vielleicht auf den Gedanken kommen, Mr. Alfred, daß das Leben uns nicht allzuleicht gemacht wird; daß es aber jede kleine Erleichterung, die wir ihm zu verleihen vermögend wären, wohl vertragen könnte; indessen Mr. Craggs war ein Mann, der auch vernünftig mit sich reden ließ. Wenn er jetzt der Überzeugung fähig wäre – doch das ist Schwäche. Liebe Frau«, auf diesen Ruf trat die gemeinte Dame in die Tür, »du bist bei alten Bekannten.«
Nachdem Mrs. Snitchey ihren Glückwunsch ausgesprochen, nahm sie ihren Gatten zur Seite.
»Nur eine Sekunde, Mr. Snitchey«, sagte die Lady. »Es ist nicht meine Art, Toten Böses nachzusagen.«
»Nein, liebe Frau«, erwiderte ihr Mann.
»Mr. Craggs ist –«
»Ja, meine Liebe, er ist gestorben«, warf Mr. Snitchey ein.
»Aber ich bitte dich, jenes Ballabends zu gedenken«, fuhr seine Frau fort. »Nur darum ersuche ich dich. Wenn du mir folgst und wenn dich dein Gedächtnis nicht ganz im Stich läßt, und wenn du nicht ganz geistesschwach geworden bist, so fordere ich dich auf, den heutigen Abend mit jenem zu verknüpfen und dich daran zu erinnern, wie ich dich auf meinen Knien anflehte und bat –«
»Auf den Knien?« fragte Mr. Snitchey.
»Ja«, entgegnete Mrs. Snitchey ganz sicher, »und du weißt es – dich vor diesem Mann in acht zu nehmen – seinen Blick zu beobachten – und jetzt sage mir, ob ich damals nicht recht hatte, und ob er an jenem Tage nicht im Besitz von Geheimnissen war, die er nicht für gut hielt, zu enthüllen?«
»Liebe Frau«, flüsterte ihr der Anwalt ins Ohr, »bemerktest du vielleicht auch etwas in meinen Augen?«
»Nein«, antwortete Mrs. Snitchey spitz. »Bilde dir nur das nicht ein.«
»Weil wir zufällig an jenem Abend«, sprach er weiter und hielt sie am Ärmel fest, »beide Geheimnisse zu wahren hatten und weil wir beide eins und dasselbe wußten. Darum, Frau, je weniger du über diese Angelegenheit redest, desto besser; und nimm dir dies zur Lehre, damit du künftig die Dinge mit barmherzigeren und klügeren Augen ansiehst. – Miß Marion, ich habe eine alte Bekanntschaft mitgebracht.«
Die arme Clemency kam, die Schürze vor dem Gesicht, langsam am Arm ihres Gatten herein; dieser selbst mit einer ahnungsvollen Miene, daß es mit dem Muskatsieb zu Ende sei, wenn sie den Mut verlor.
»Nun, liebe Frau«, sagte der Anwalt und hielt Marion zurück, die der alten Dienerin entgegeneilen wollte, »was fehlt Ihnen denn im Grunde?«
»Was mir fehlt?« rief Clemency.
Aber als sie jetzt verwundert und empört über die Frage und erschrocken über ein lautes Gejuchze Mr. Britains aufschaute und das wohlbekannte liebe Gesicht so dicht vor sich gewahrte, da machte sie große Augen, schluchzte, lachte, weinte, machte allerlei Ausrufe, umarmte Marion, hielt sie fest, ließ sie wieder los, fiel Mr. Snitchey um den Hals (worüber Mrs. Snitchey sehr indigniert war), dann dem Doktor, dann Mr. Britain und umarmte zuletzt sich selbst, warf die Schürze über den Kopf und lachte und weinte auf einmal.
Gleich hinter Mr. Snitchey war ein Fremder in den Garten eingetreten und hatte an der Tür haltgemacht, ohne von den andern beachtet zu werden; denn sie hatten nur wenig Aufmerksamkeit übrig, und diese wurde durch Clemencys Freudenrausch ganz und gar aufgezehrt. Er schien nicht den Wunsch zu haben, daß er beachtet würde, sondern er stand beiseite mit niedergeschlagenen Augen; und sein Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck (obwohl er sonst ein stattlicher Mensch war), der in der allgemeinen Fröhlichkeit nur noch mehr abstach.
Nur Tante Martha hatte ihn bemerkt. Sie ging gleich auf ihn zu und redete mit ihm. Gleich darauf trat sie wieder zu Marion, die mit Grace und ihrer kleinen Namensschwester eine holde Gruppe bildete, und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wovon diese überrascht zu sein schien. Aber bald faßte sie sich wieder, ging mit der Tante zu dem Fremden und begann ein Gespräch mit ihm.
»Mr. Britain«, sagte der Anwalt und zog ein aktenmäßig aussehendes Papier aus der Tasche, »ich wünsche Ihnen Glück. Sie sind jetzt der einzige und alleinige Eigentümer des freien Besitzes, den Sie bis jetzt als ein konzessioniertes Gasthaus in Pacht hatten und das unter dem Namen ›Muskatsieb‹ bekannt ist. Ihre Frau verlor ein Heim durch meinen Klienten Mr. Michael Warden und erhält jetzt ein neues durch ihn. Ich werde das Vergnügen haben, demnächst mich um Ihre Stimme bei der Wahl zu bewerben.«
»Würde es einen Unterschied in der Stimme machen, wenn das Schild eine Änderung in seiner Bezeichnung erführe?« fragte Britain.
»Ganz und gar nicht«, versetzte der Anwalt.
»Dann«, sagte Mr. Britain und reichte ihm die Schenkungsurkunde zurück, »fügen Sie noch die Worte hinein: ›und Fingerhut‹, und ich will diese beiden Symbole im Wohnzimmer aufhängen lassen, anstatt des Bildes meiner Hausfrau.«
»Mir aber«, ließ sich eine Stimme hinter ihm vernehmen – es war der Fremde, Michael Warden – »laßt den Inhalt dieser Symbole zugute kommen. Mr. Heathfield und Doktor Jeddler, ich hätte Ihnen beiden großes Herzeleid antun können. Daß es nicht so kam, geschah nicht durch mein Verdienst. Ich will nicht sagen, daß ich um sechs Jahre klüger oder besser geworden bin. Aber auf alle Fälle habe ich so lange bereut. Ich verdiene keine schonende Behandlung von Ihrer Seite. Ich mißbrauchte die Gastfreundschaft Ihres Hauses und lernte meine Schwächen kennen – mit einer Beschämung, die ich nie vergessen habe, aber ich hoffe, auch nicht ohne Nutzen – von einer«, er sah auf Marion, »die ich demütig um Verzeihung bat, als ich ihren Wert und meinen Unwert erkannte. In kurzem werde ich diesen Ort für immer verlassen. Ich bitte Sie alle um Vergebung. Wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so tut ihnen auch! Vergeßt und verzeiht!«
* * *
Die Zeit – die mir den letzten Teil dieser Geschichte mitteilte, und die ich zu meiner Freude seit etwa fünfunddreißig Jahren persönlich kenne – benachrichtigte mich, gelassen auf ihre Sense gestützt, daß Michael Warden England nie verließ und sein Haus nicht verkaufte, sondern daß er es wieder mit großzügiger Gastlichkeit eröffnete und eine Gattin hatte, der Stolz und die Ehre der ganzen Umwelt, namens Marion. Aber da ich erfahren habe, daß die Zeit zuweilen Tatsachen durcheinander bringt, so weiß ich wahrhaftig nicht, wieviel Wert ich auf ihre Mitteilung legen soll.
Ende.
Die Silvester-Glocken
(Charles Dickens)