Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Am Eingang des zerschossenen Dorfes lag oder liegt vielleicht noch heute auf kleiner Erhöhung ein Schlösschen mit dem seltsam berührenden Namen: Le Repentiere. Dort hatten die Preußen in der Eile ein Feldlazarett eingerichtet – eine gar passende Lage, denn es war von da nur wenige Schritte zu dem hart über der Waldschlucht liegenden kleinen Friedhof. Unsere Hoffnung, in dem Schlösschen aufgenommen zu werden, erwies sich als trüglich, es war überfüllt von Verwundeten, und immerzu wurden neue hergeführt, die noch auf den Verbandplätzen zurückgeblieben waren. Auch über den zwei nahe gelegenen Pachthöfen La Poste und Gloriette wehte die Flagge mit dem Genfer Kreuz. In einem sollte ich, im andern der Kollege nach Unterkunft trachten. Da trat mir unter der Tür des Lazaretts ein Engel im Schwesternkleid entgegen. Sie trug eine Schüssel mit Blut, um es eilig auszugießen in den Boden, der dessen schon mehr als zu viel getrunken hatte. Nur auf den Bruchteil einer Sekunde sah sie mich an, dann war sie schon ins Haus zurückverschwunden. Aber der Blick hatte mich bis auf den Grund der Seele getroffen, wie ein Wiedererkennen aus fernen Geburten her.
Ich stand noch wie angewachsen und sah ihr nach, als mir eine Hand auf die Schulter schlug und ich in dem vor mir stehenden Unterarzt – Lazarettgehilfen hießen sie dazumal – Heinrich Sommer erkannte. Ich wusste ja, dass er sich auf diesem Abschnitt des Kriegsschauplatzes befand; aber auch er wunderte sich gar nicht, mich zu sehen; das Kriegsleben hatte ihn schon an die merkwürdigsten Begegnungen gewöhnt.
Schön, dass du da bist, sagte er, als hätten wir uns zufällig bei Molfetta getroffen, es fehlt an Händen für die viele Arbeit. Ich weiß, dass du zu brauchen bist. Komm gleich mit und verdiene dir die Nachtherberge.
Nur zu willig ließ ich mich in den weißen Kittel stecken, und ehe ich mich’s versah, fand ich mich mit Waschbecken und Verbandzeug im Operationssaal. Gab es noch einen grässlicheren Anblick als das Schlachtfeld, so war es dieser! Nur die rasche, umsichtige, anhaltende Tätigkeit konnte dem Ungeschulten das ertragen helfen. Aber an meiner Seite schaltete der Schwesterengel, der mir beim Eintritt erschienen war, sicher und erfahren, und die schweigenden, geschwinden Handreichungen, die zwischen uns hin und her gingen, waren mir wie stumme Geschwistergrüße der Seele. Schwester Angela nannten sie passend die Anwesenden.
Auf dem Operationstisch lag ein Mann des Jammers mit furchtbar zerschmettertem Oberschenkel, der ihm unterhalb der Hüfte abgenommen werden musste, natürlich ohne Narkose. Er litt grässlich und bäumte sich gegen den Schmerz, dass ihn drei Männer nicht zu halten vermochten. Da warf plötzlich Schwester Angela die Arme um ihn und legte ihre flaumige Wange an die verwilderte, bärtige des fremden Soldaten.
Ertrag’ die Schmerzen, Bruder, lieber Bruder, flehte sie, um deiner Mutter willen, damit du leben kannst, oder für deine Braut, wenn du eine hast.
Sie umschlang ihn fest mit den Engelsarmen, und er hielt auf einmal still, ergriffen und dankbar, um sie nicht durch Jammerlaute zu betrüben. Und als er verbunden auf dem Strohsack lag, kam ein zweiter Schmerzensmann an die Reihe, dann ein dritter, und jeden nannte sie ihren Bruder und schlang die schwesterlichen Arme um seinen Leib, wie um durch geheimnisvolle Ausströmung heiliger jungfräulicher Naturkräfte die körperlichen Schmerzen zu lindern, und da war auch keiner, der nicht für die wohltätige Berührung empfänglich und dankbar gewesen wäre. Der ganze Raum schien von einem Leuchten himmlischer Liebe erfüllt, dass ich alles vergaß, den schrecklichen Anblick abgesägter Gliedmaßen, das Aufräumungsfeld vom Vortag und – die Bedeutung des Rings an meinem Finger, denn ein neuer, schönerer hatte sich unsichtbar daneben geschoben als jählings erkanntes Glied einer Kette, die sich rückwärts und vorwärts in die Ewigkeit verlor.
Das geht nun so Tag um Tag, Stunde um Stunde, sagte Heinrich Sommer, als wir vorübergehend von dem blutigen Geschäft rasteten, wir wüssten nicht, wie auskommen ohne sie. Und sie ist ein Grafenkind, aus verarmter Familie freilich, und Krankenschwester von Beruf. Man versteht nur nicht, wie derselbe Gott, der eine Schwester Angela erschaffen konnte, solche Greuel zulassen soll.
Mittlerweile gewann mir mein Kollege, ein fischblütiger Engländer, den die Not ringsum nichts anging und der nur seine eigene Aufgabe im Auge hielt, einen erheblichen pressedienstlichen Vorsprung ab. Er begab sich nach dem Pachthof St. Hubert. Um den Wackeren nicht in ein falsches Licht zu rücken, füge ich gleich hinzu, dass er in dem kameradschaftlichen Sinn, der immer zwischen uns gewaltet hat, die Ausbeute des traurigen Tages mit mir teilte.
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Jetzt erzähle ich die Begebenheiten nicht in der Reihenfolge, wie ich sie selbst erlebte, sondern nach Berichten der Augenzeugen so, wie sie sich allem Anschein nach abgespielt haben müssen.
Die Ferme St. Hubert lag auf halber Höhe eines jener langen lothringischen Hügelrücken hart an der nach Metz fahrenden Heerstraße, dem von unseren Truppen besetzten Gravelotte östlich gegenüber. Sie war die westlichste vorgeschobenste Stellung der Franzosen vor Metz und von ihnen zur kleinen Festung ausgebaut, deren Batterien das ganze Gelände beherrschten. In einem nordseits anstoßenden Wäldchen staken obendrein starke Chassepotabteilungen, weitere Batterien waren nach Süden zu in Steinbrüchen versteckt, um die Feuerwirkung von St. Hubert zu verstärken. Diese Stellung zu nehmen war für die Deutschen eine unbedingte Notwendigkeit, und das 67. Regiment Magdeburg erhielt den tödlichen Auftrag. Den ganzen Nachmittag des 18. wurde darum gerungen, aber der letzte Akt des blutigen Dramas erfolgte nicht auf Befehl, sondern durch plötzlichen unwiderstehlichen Sturmtrieb der Soldaten.
Man muss wissen, dass östlich von Gravelotte sich die Straße als tief eingeschnittener Hohlweg einen jähen dichtbewaldeten Abhang hinuntersenkt in die Schlucht, die der Mancebach durchfließt. Dann überquert sie die Talsohle auf einem hohen und engen Steindamm und steigt am andern Ufer ebenso steil wieder empor, um an den Steinbrüchen hin den Hügelkamm zu erreichen. Sobald die Truppen auf dem Dammweg sichtbar wurden, empfing sie wütendes Feuer aus den Waldungen zur Rechten und Linken, die vom Feinde besetzt waren; zugleich begannen die Batterien von St. Hubert und aus den Steinbrüchen zu spielen. Die Preußen erstiegen den Hang unter schwersten Verlusten, kämpften um den Besitz der Steinbrüche und um jede kleinste Bodenfalte, die eine vorübergehende Deckung bot. Aber die Aufgabe schien menschliche Kräfte zu übersteigen, denn auf engem Raum zusammengepresst, konnten sie sich nicht entfalten und boten dem ringsum in der Höhe aufgestellten Feind ein allzu bequemes