Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Der Gestellungsbefehl? fragte ich.
Sie nickte. Er weiß es nicht, sagte sie leise.
Selma, Selma, was haben Sie getan!
Wir wissen nichts von der Welt hier oben, wir haben seit einem Monat keine Zeitung gesehen. Der Knecht sagt, es gebe Krieg. Aber es ist nicht wahr, es darf nicht wahr sein! Sagen Sie, Harry, dass es nicht wahr ist!
Aber sie ließ mir gar keine Zeit zu antworten und von der Weltlage zu reden, sondern unterbrach mich gleich mit Leidenschaft:
Gustav darf nichts erfahren! Er darf nicht gestört werden! Er ist in allen Himmeln, ihn jetzt aus der Arbeit reißen, wäre ein Verbrechen an ihm, an seinem Genius, an der ganzen deutschen Dichtkunst.
Da rief es vom Hause herüber: Selma!
Gleich, gleich, Liebster! rief sie zurück und fasste mich dabei flehend an beiden Armen, mir jede Bewegung hindernd.
Mit wem sprichst du, Selma?
Sie wollte mir die Hand auf den Mund legen. Ich machte mich sanft von ihr los und rief zurück:
Ich bin’s: Ewers, der Mohikaner!
Ein Freudenruf, dann klirrte das Fenster, er kam herabgeeilt.
Ich stürze mich von diesem Felsen herab, wenn Sie reden. Sie wissen, ich halte Wort! raunte mir Selma zu. Er darf es nicht wissen, er muss sein Werk vollenden!
Selma, sagte ich, Sie wissen nicht, was Sie tun, das ist eine Verantwortung, die wir beide nicht tragen können.
Ich werde sie tragen – ich ganz allein, flüsterte sie leidenschaftlich.
Da stand er schon vor uns, im leichten Hausrock, mit bloßem Kopf, an Haar und Bart ein wenig verwildert, aber mit einem Ausdruck überirdischen Glücks.
Mein schöner Gustav ist ein Bärenhäuter geworden, scherzte Selma erzwungen mit angstverzerrtem Gesicht, das er nicht bemerkte.
Die Hand nicht wäscht er,
Das Haar nicht kämmt er,
Bis zum Holzstoß er brachte
Balders Mörder,
rezitierte er nach seiner Gewohnheit.
Das war wieder der ganze Gustav Borck. Er wunderte sich nicht, woher ich kam, da er mich doch in Amerika vermuten musste, er fragte nicht, was mich in diese Einöde führte. Der äußere Zusammenhang war wieder einmal nicht für ihn vorhanden. Ich war zur Stelle, ich musste zur Stelle sein, weil meine Anwesenheit gerade jetzt ihm erwünscht war, weil der Augenblick gekommen war, wo seine übervolle Seele einer Aussprache bedurfte. Die schöpferische Raserei besaß ihn ganz.
Wir hatten uns im Haus auf einer Holzveranda mit Glasfenstern niedergelassen, gegenüber einer Gruppe hoher Bäume. Mir war entsetzlich zumute, lieber wäre ich wieder auf hoher See gewesen, von den Ozeanwellen im Ungewissen herumgeworfen, als hier auf der friedlichen sonnigen Alm, dem Freunde gegenüber, dem ich sein Schicksal zu verkünden hatte. Er schwamm auf der höchsten Woge seines Glücks. Die Stille in der Natur und Selmas völlige Selbstverleugnung hatten ihm den Genius zurückgeführt, seinen Herrn und Despoten.
Jetzt erst verstehe ich, wie elend ich gewesen bin, wie ich mich quälen musste ohne Ihn. Aber wir wissen nicht, wie gut wir geführt werden. Es war mein Glück, dass ich damals durch Jurisprudenz und Heirat unterbrochen wurde, mein guter Geist legte mir die Hand auf den Mund, weil ich noch nicht reif war. Jetzt ist Er erst ganz dabei, und jetzt geht es wie im Traum.
Mein beklommenes Schweigen sagte ihm nichts, er redete immer weiter:
Das Werk ist weit über seine erste Anlage hinausgewachsen. Du wirst über den zweiten Teil staunen, wie anders das alles geworden ist, wie stark, wie reif. Aber der dritte Teil, der dritte Teil wird die Krone von allem. Noch ein paar Wochen Stille und Bergluft und solches Wetter wie heute, so haben wir wieder eine deutsche Tragödie.
Man konnte, wenn man sein begeistertes Auge sah, für Stunden vergessen, dass drüben überm See der Boden vom Tritt ausrückender Truppen bebte, und sich in unsern stillen Anrichtwinkel bei Molfetta zurückversetzt glauben, wo es keine Ereignisse gab als die der Kunst. Noch ein paar Wochen für sein Werk. Ich hätte mein Blut gegeben, sie ihm zu schaffen. Aber was war zu tun? Jede Stunde, die verrann, stempelte ihn mehr zum Fahnenflüchtigen. Volle zehn Tage war der Gestellungsbefehl auf dem Postamt liegengeblieben. Durch Zufall glaubte ich zuerst, allein Selma hatte diesem Zufall nachgeholfen. Das war nicht schwer gewesen, sie brauchte bloß nicht mehr zur Post hinunterzuschicken, seitdem sie das erste Gerücht vom Krieg vernommen hatte, das sie ihm verschwieg. Damit hatte sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst in künstlicher Unwissenheit erhalten bis zum gestrigen Abend, wo Gustav einen Brief aufgeben ließ und der Knecht einen ganzen Stoß liegengebliebener Postsendungen heraufbrachte, darunter auch das verhängnisvolle Blatt; die hatte sie gleich alle miteinander unterschlagen. Dem Knecht war strengstens eingeschärft, dem Herrn kein Wort zu sagen von dem, was in diesem Augenblick die halbe Erde erschütterte. Auch das konnte sie durchsetzen, denn die beiden sprachen kaum je miteinander; alle Befehle Gustavs gingen durch sie. So bildete die Ärmste sich wirklich ein, ihm auf die Länge die Weltereignisse verheimlichen zu können. Und in diesem Augenblick musste das Schicksal mich daher führen! Sie mochte wohl zuerst gehofft haben, an mir, ihrem alten Tröster und Berater, auch jetzt einen Beistand in ihrem Sinne zu finden, aber seit wir die ersten Worte gewechselt hatten, betrachtete sie mich als ihren schlimmsten Feind und Widersacher. Ich machte nicht minder schreckliche Augenblicke durch als sie, da ich mich vor die Notwendigkeit gestellt sah, sein wiedergefundenes Schöpferglück zu zerreißen und sie in Verzweiflung zu stürzen.
Sie stand hinter seinem Stuhl, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, und ihre Augen drohten mir – ich wusste aus Erfahrung, dass sie auch imstande war, ihre Drohung wahr zu machen, so schwieg ich noch verworren. Gustav hatte sie schon wiederholt gebeten, eine Flasche Wein und ein paar Gläser zu bringen, aber Selma sagte nur: »Gleich, gleich!« und blieb wie angekettet stehen, mich mit ihren Blicken im Banne haltend. Wir redeten kein Wort miteinander, nur unsere Augen führten einen heimlichen Krieg.
Mir ist alles gleich, ich frage nur nach Gustav, sagten die ihrigen.– Ich auch, Selma, gerade deshalb! antworteten die meinigen. Während dieser stumme Zweikampf noch dauerte, sprang Gustav in die Höhe und sagte wohlgelaunt:
Wenn du dich gar nicht von seinem Anblick losreißen kannst, so werde ich selber nach einer Erfrischung gehen.
Kaum hatte er sich entfernt, so