ich aber aus den Annalen von Florenz den wütenden Hass zwischen »Popolanen« und »Granden«, den aufstrebenden Zünften und dem kriegerischen Feudaladel, kannte, verstand ich erst den historischen Hintergrund der Sage und dass der salomonische Spruch des Rates, wodurch ein »Großer« seiner Gattin verlustig ging und der bürgerliche Bewerber sie als Verstorbene davontrug, nichts war als ein freilich groteskes Beispiel der vielen parteilichen Entscheidungen, wodurch damals die stolze städtische Ritterschaft rechtlos und wehrlos gemacht wurde. Die wiederholten, blutig niedergeworfenen Aufstände des Adels gaben Gelegenheit, die Geschicke der Liebenden mit den tragischen Geschicken anderer historischer Häuser zu verflechten, wodurch sich ein reiches Zeitbild gestalten ließ. In den damals noch stehenden Resten der Altstadt, dem kaum betretbaren, weil zum Diebsviertel herabgesunkenen Zentro, war auch der Schauplatz der Vorgänge noch erhalten: der alte trutzige Palast der Amieri, um den der Kampf sich verdichtete, das Kirchlein des heiligen Andreas, von mir zum Treffpunkt der Liebenden gemacht, die Loggia degli Agolanti, wo die zwei alten Ritter die unglückliche Verlobung ihrer Kinder anzetteln. Das enge Gäßlein, durch das die erwachte Scheintote den Heimweg gesucht haben soll, heißt noch immer die Via della Morte. Eine weitere Anregung gab die aus dem Dekamerone bekannte Pestzeit, in der die Erzählung spielt, für mich durch die jüngst empfangenen eigenen Eindrücke von einer Seuchenpanik noch mehr verlebendigt, aber auch schon vor Jahren beim ersten Besuch der Uffizien den schaudernden Sinnen eingeprägt durch ein Gemengsel wächserner Leiber, das als eine Art trionfo della morte unter Glas gezeigt wurde. So entstand die »Vermählung der Toten« als erstes Stück der »Florentiner Novellen«. Ich sandte sie an »Kröners« Gartenlaube, wo sie auch bald danach gedruckt erschien. Die Arbeit hatte eingehende Studien über die Pestzeit nötig gemacht, und diese zogen dann eine zweite Novelle über das gleiche Thema »Anno Pestis« nach sich; nur dass diesmal statt des späten Mittelalters die niedergehende Renaissance zum zeitlichen Rahmen gewählt war. Eine geschichtliche Überlieferung lag in diesem Falle nicht vor, außer dem neuen Ausbruch der Seuche. Die Fabel von der betrogenen Frau, die an dem Zerstörer ihres Lebens Rache nimmt, indem sie ihm durch eine Liebesnacht die Pest, von der sie schon ergriffen ist, überträgt, war eigene Erfindung; sie war zum Schlussstein des Ganzen bestimmt und sollte als Gegensatz gegen die noch patriarchalisch gebundenen Zustände in der ersten Erzählung die orgastische Stimmung der Lebensgenießer angesichts des Todes und die wilde Auflösung der sittlichen Begriffe, die auf den sacco di Roma gefolgt war, zum Ausdruck bringen. Zwei Novellen aus den Blütetagen der florentinischen Renaissance hatten zwischen dem Anfangsstück und dem Schlussstück, Aufgang und Niedergang, die Brücke zu spannen. »Anno Pestis« fand keinen so bereiten Willkomm wie die »Vermählung«; man war damals noch äußerst ängstlich auf erotischem Gebiet, es gelang mir aber doch, die kleine Novelle in »Nord und Süd«, der fortschrittlichsten unter den damaligen Zeitschriften großen Stils, unterzubringen. Heyse tadelte die Furchtbarkeit des Stoffes; das konnte aber nur für den Gegenstand, nicht für die Behandlung gelten. Auch vergaß er, dass die zeitgenössischen Novellen des Bandello die Zeit mit ebensolchen Weltuntergangsfarben malen. – Freund Fasola machte später eine vorzügliche Übersetzung von »Anno Pestis«, streng im Stil der Zeit und in dem des Originals, die einzige wahrhaft gelungene Übersetzung aus einem meiner Werke.
Danach ging ich an die »Humanisten«, einen Gegenstand, den ich längst schon liebend und weiterforschend mit mir herumtrug, seitdem ich durch Burckhardt jene von Rom und Hellas trunkenen Apostel des Geistes und der Schönheit kennengelernt hatte, die wie weiland die Kreuzritter zur Eroberung des Heiligen Grabes in die östlichen Lande zogen, um unter tausend Gefahren – friedliche, weichgewohnte Gelehrte die sie waren – die Herrlichkeiten des griechischen Genius für die Menschheit zu retten. Ich ersann mir ein sehr verwickeltes Gespinst um ein verlorenes, nur im Namen erhaltenes Werk des Cicero, sein heiteres liber jocularis, nach dem ich die florentinischen Gelehrten unter teils tragischen teils komischen Umständen mit glühendem Verlangen fahnden ließ, und brachte dieses Fahnden in Beziehung zu dem im Jahre 1482 stattgehabten Besuch des Grafen Eberhard von Württemberg und seines Gefolges am Hofe des Lorenzo Magnifico, weshalb ich die Erzählung ursprünglich »Die Schwaben in Florenz« betiteln wollte. Mit dem angeblichen Fund und der nachfolgenden gänzlichen Vernichtung des berühmten ciceronianischen Kodex führte ich auch den gelehrten Freund Wilhelm Hertz irre, der sich bei mir erkundigte, was es denn mit jener Entdeckung für eine Bewandtnis habe.
Diese Geschichte schrieb ich jedoch nicht in der Arnostadt, im eigenen Villino, das mir längst keine Sicherheit gegen häusliche Störungen mehr bot, sondern in Stuttgart, wo ich mich vorübergehend in einem stillen luftigen Zimmer an der Hölderlinstraße eigens zu diesem Zweck niedergelassen hatte. Es waren köstliche Frühlingstage; der lange nicht gesehene deutsche Lenz mit dem kindlich zarten Grün der Laubbäume und den jungen Fransen der Nadelhölzer setzte mich in einen Rausch der Heimatliebe, und diese Heimat im Geist mit meiner zweiten, der toskanischen, zu verbinden, war mir eine tiefe innere Befriedigung. Das Schwabenland feierte gerade ein dynastisches Fest; zu diesem Anlass dachte ich mit den »Schwaben in Florenz«, unter denen der gepriesenste Vorfahr des Herrschers obenan stand, dem Lande ein Gastgeschenk von besonderer Art zu bringen, und bot die Erzählung einer großen, in Stuttgart erscheinenden illustrierten Zeitschrift an. Aber die Wege der Schriftleitungen sind unergründlich; ich erhielt das Manuskript, das gerade das zeitgemäßeste war, was sich denken ließ, mit der trockenen Bemerkung zurück, dass der Gegenstand »zu weit abliege, um Interesse zu erwecken«. Nach diesem glanzvollen Fehlschlag versuchte ich es kein zweitesmal, die »Humanisten«, die jetzt ihren richtigen Titel bekamen, in einer Zeitschrift unterzubringen, sondern nahm sie mit mir nach Florenz, wo ich mich nunmehr unabgeschreckt an die letzte der vorgesetzten Aufgaben, den »Heiligen Sebastian«, wagte.
Nach dem Erscheinen der »Florentiner Novellen« wies mein Landsmann Ludwig Laistner in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« mit viel Gelehrsamkeit und Scharfsinn die Herkunft des Motivs dieser Novelle (Liebe zu einem Bild) aus dem Pantschatantra – den ich nicht kannte – nach und verfolgte seine Wanderungen durch die Jahrtausende bis zu seiner Wiedergeburt in meinem »Heiligen Sebastian«. So gelehrt war es in der Wirklichkeit nicht zugegangen; der Stoff war aus dem Leben, und auf dem kürzesten Weg, aus meinem eigenen,