Das Heim und die Welt. Rabindranath Tagore

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Название Das Heim und die Welt
Автор произведения Rabindranath Tagore
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066112608



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Solange die Flamme brennt, laß uns sieden und überkochen!«

      Tschandranath Babu lächelte. »Kocht, soviel ihr wollt,« sagte er, »aber haltet dies nur nicht für Arbeit oder Heldentum! Die Völker, die in der Welt etwas erreicht haben, haben es durch Handeln, nicht durch Überkochen erreicht. Aber die, welche die Arbeit immer gescheut haben, wollen, wenn sie einmal plötzlich zum Bewußtsein ihrer elenden Lage kommen, die Befreiung auf rechtlosem und gewaltsamem Wege erlangen.«

      Ich gürtete gerade meine Lenden, um einen zermalmenden Ausfall gegen ihn zu machen, als Nikhil zurückkam. Tschandranath Babu erhob sich und sagte, zu Bima gewandt: »Jetzt muß ich gehen, Mütterchen, ich habe zu arbeiten.«

      Als er fort war, zeigte ich Nikhil das Buch, das ich in der Hand hatte. »Ich erzählte gerade unsrer Bienenkönigin von diesem Buch«, sagte ich.

      Neunundneunzig Prozent aller Menschen wollen durch Lügen getäuscht werden, aber dieser ewige Schulmeisterzögling läßt sich leichter mit der Wahrheit selbst täuschen. Ihm gegenüber ist Offenheit der beste Betrug. Daher war es beim Spiel mit ihm das Einfachste für mich, meine Karten offen auf den Tisch zu legen.

      Nikhil las den Titel auf dem Einband, aber er sagte nichts. »Diese Schriftsteller«, fuhr ich fort, »fegen mit ihrem Besen den ganzen Staub von Redensarten weg, mit dem die Menschen unsre Welt zugedeckt haben. Daher sagte ich eben gerade, ich möchte, du läsest es einmal.«

      »Ich habe es gelesen«, sagte Nikhil.

      »Nun, und was sagst du?«

      »Es ist ganz gut für die, die sich Mühe geben, wirklich nachzudenken, aber für die andern ist es Gift.«

      »Was meinst du damit?«

      »Wer predigt, daß alle gleichen Anspruch auf Eigentum haben, darf nicht selbst ein Dieb sein. Denn wenn er das ist, predigt er Lügen. Und wer eine Leidenschaft in sich nährt, der wird dies Buch nicht richtig verstehen.«

      »Die Leidenschaft«, rief ich aus, »ist gerade unser bester Führer. Wenn wir ihm mißtrauen, so können wir ebensogut unsre Augen ausreißen, um besser zu sehen.«

      Nikhil wurde sichtlich erregt. »Die Leidenschaft«, sagte er, »hat nur ihr Recht, solange wir sie zügeln. Wenn wir das, was wir richtig sehen wollen, auf unsre Augen drücken, so verletzen wir sie nur, aber wir sehen nichts. Und ebenso blendet uns auch die Heftigkeit der Leidenschaft, die keinen Raum lassen will zwischen sich und dem Gegenstande.«

      »Es ist eure geistige Ziererei,« erwiderte ich, »die euch veranlaßt, in sittlichem Zartgefühl zu schwelgen und die rauhe Seite der Wahrheit nicht sehen zu wollen. Dadurch hüllt ihr nur die Dinge in einen verklärenden Nimbus, statt mit voller Kraft an die Arbeit zu gehen.«

      »Aufwand von Kraft, wo Kraft nicht am Platze ist, fördert die Arbeit nicht«, sagte Nikhil ungeduldig. »Aber warum streiten wir über diese Dinge? Müßiges Streiten mit Worten nimmt nur den frischen Blütenstaub von der Wahrheit.«

      Ich wollte gern, daß Bima sich an der Diskussion beteiligte, aber bis jetzt hatte sie noch kein Wort gesagt. Hatte ich ihr vielleicht einen zu rauhen Stoß versetzt, so daß sie jetzt, von Zweifeln bestürmt, den Wunsch hatte, wieder bei dem Schulmeister in die Lehre zu gehen? Und doch brauchte sie diesen Stoß. Man muß vor allem erst einmal einsehen, daß die Dinge nicht so fest stehen, wie man geglaubt hat.

      »Ich bin ganz froh, daß ich dies Gespräch mit dir hatte,« sagte ich zu Nikhil, »denn ich wollte gerade unsrer Bienenkönigin dies Buch zu lesen geben.«

      »Warum nicht?« sagte Nikhil. »Wenn ich es lesen konnte, warum sollte Bimala es nicht auch lesen? Was ich besonders betonen möchte, ist dies, daß die Leute in Europa alles vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ansehen. Aber der Mensch ist mehr als bloße Physiologie oder Biologie oder Psychologie oder Soziologie. Vergiß das um Gottes willen nicht! Er ist unendlich viel mehr, als was die Naturwissenschaft von ihm lehrt. Du lachst über mich und nennst mich einen Schulmeisterzögling, aber das bist du, nicht ich. Denn du suchst die Wahrheit über den Menschen bei deinen naturwissenschaftlichen Lehrern und nicht in deinem eignen Innern.«

      »Aber wozu all diese Aufregung?« spottete ich.

      »Weil ich sehe, daß du darauf ausgehst, den Menschen zu schmähen und herabzusetzen.«

      »Aber woraus in aller Welt schließt du das?«

      »Aus allem, was du sagst und tust und womit du mein Gefühl verletzest. Du richtest beständig deine Angriffe gegen alles Große und Selbstlose und Schöne im Menschen.«

      »Wie kommst du auf diese verrückte Idee?«

      Nikhil erhob sich plötzlich. »Ich sage es dir gerade heraus, Sandip,« sagte er, »du kannst den Menschen in mir tödlich verwunden, aber du kannst ihn nicht töten. Darum bin ich bereit, alles zu erdulden, ganz bewußt, mit offenen Augen.«

      Mit diesen Worten verließ er eilig das Zimmer.

      Ich stand noch ganz verblüfft da und sah ihm nach, als ich plötzlich ein Buch fallen hörte, und als ich mich umwandte, sah ich Bima, die ihm schnell und sichtlich betreten folgte, wobei sie vermied, mir nahe zu kommen.

      Ein merkwürdiges Geschöpf ist doch dieser Nikhil! Er fühlt die Gefahr, die sein Heim bedroht, warum weist er mir nicht die Tür? Ich weiß, er wartet, daß Bima ihm das Stichwort gibt. Sagt sie ihm, daß ihre Ehe ein Irrtum gewesen ist, so beugt er sein Haupt und gibt zu, daß er einen großen Fehler gemacht hat. Er hat nicht die Geistesstärke, sich klar zu machen, daß es der größte aller Fehler ist, einen Fehler einzugestehen. Er ist ein typisches Beispiel dafür, wie Idealismus zu Schwäche führt. Ich kenne nicht seinesgleichen; er ist ein zu sonderbarer Kauz! Er eignet sich kaum als Figur für einen Roman oder ein Drama, viel weniger noch für das wirkliche Leben.

      Und Bima? Ich fürchte, mit ihrem Traumleben ist es jetzt zu Ende. Sie hat endlich verstanden, wohin die Straße führt, auf die sie sich mitreißen ließ. Jetzt muß sie entweder ganz bewußt weiter oder umkehren. Wahrscheinlich aber wird sie bald einen Schritt vorwärtsgehen, und dann wieder einen Schritt zurückweichen. Aber das beunruhigt mich nicht. Wenn man Feuer gefangen hat, so brennen die Flammen nur um so wilder, je mehr man hin und her rennt. Der Schreck, den sie bekommen hat, wird ihre Leidenschaft nur noch mehr anfachen.

      Vielleicht ist es besser, wenn ich gar nicht viel zu ihr sage, sondern ihr nur ein paar moderne Bücher zu lesen gebe. Auf diese Weise kann sie allmählich zu der Überzeugung kommen, daß ein Mensch mit modernen Ansichten die Leidenschaft als die höchste Wahrheit anerkennt und ehrt, statt sich ihrer zu schämen und Entsagung zu predigen. Wenn sie sich an irgend so ein Wort wie »modern« halten kann, so wird sie schon Kraft haben, weiterzugehen.

      Sei dem, wie ihm wolle, ich muß das Spiel verfolgen bis zum Ende des fünften Aktes. Ich kann mich leider nicht rühmen, nur als Zuschauer dabei zu sein, der vorn in der königlichen Loge sitzt und ab und zu Beifall klatscht. Ich fühle, wie es an meinem Herzen reißt und in allen meinen Nerven zuckt. Wenn ich abends das Licht gelöscht habe und im Bett liege, so fühle ich mich von kleinen Berührungen, kleinen Blicken und kleinen Worten umschwirrt, die die Dunkelheit anfüllen. Wenn ich des Morgens aufstehe, so zittre ich vor lebhafter Erwartung, es ist, als ob mein Blut nach dem Takt einer Musik durch meine Adern läuft...

      Auf dem Tisch stand ein Doppelrahmen mit Bimas und Nikhils Photographien. Ich hatte Bima herausgenommen und zeigte ihr gestern die leere Seite, indem ich sagte: »Der Geiz macht den Diebstahl zu einer Notwendigkeit, daher haben beide an der Sünde teil, der Geizige wie der Dieb. Meinen Sie nicht auch?«

      Bima lächelte ein wenig und sagte nur: »Es war kein gutes Bild.«

      »Was soll man machen?« sagte ich. »Ein Bild bleibt immer nur ein Bild. Ich muß mich schon damit zufrieden geben, so wie es ist.«

      Bima nahm ein Buch auf und begann darin zu blättern. »Wenn Sie unzufrieden sind,« sagte ich, »so muß ich mich wohl bemühen, den leeren Platz auszufüllen.«

      Heute habe ich ihn ausgefüllt. Diese Photographie von