Das Heim und die Welt. Rabindranath Tagore

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Название Das Heim und die Welt
Автор произведения Rabindranath Tagore
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066112608



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Inhaltsverzeichnis

      VI

      Wo war nur mein Schamgefühl geblieben? Ich hatte keine Zeit, über mich nachzudenken. Meine Tage und Nächte gingen in einem Wirbel dahin, in einem Strudel, dessen Mittelpunkt ich war. Überlegung und Zartgefühl konnten gar nicht an mich heran.

      Eines Tages machte meine Schwägerin meinem Gatten gegenüber die Bemerkung: »Bis jetzt waren es immer die Frauen dieses Hauses, die weinen mußten. Jetzt kommen die Männer an die Reihe.«

      Sie musterte mich mit scharfem Blick von oben bis unten. Nichts von dem Farbenglanz, den meine Kleidung, mein Schmuck, meine Rede, mein ganzes Wesen ausstrahlten, entging ihr. Heute schäme ich mich, davon zu sprechen, aber damals fühlte ich keine Scham. Es war etwas in mir am Werk, dessen ich mir selbst nicht bewußt war. Ich pflegte mich übermäßig zu putzen, aber fast mechanisch, ohne besondere Absicht. Wohl wußte ich, wie ich Sandip Babu am besten gefallen würde, aber dazu bedurfte ich keiner besonderen Eingebung, denn er sprach ganz offen vor allen darüber.

      Eines Tages sagte er zu meinem Gatten: »Weißt du noch, Nikhil, als ich unsre Bienenkönigin zuerst sah, da saß sie so ehrbar da in ihrem goldgesäumten Sari. Ihre Augen sahen fragend ins Leere, wie verirrte Sterne, als ob sie jahrtausendelang am Rande der Finsternis gestanden und nach etwas Unbekanntem ausgeschaut hätte. Aber als ich sie sah, fühlte ich, wie ein Schauer mich durchlief. Es war mir, als ob der goldene Saum ihres Sari ihr eigenes inneres Feuer war, das aus ihr hervorbrach und sie umzüngelte. Das ist die Flamme, die wir brauchen, das sichtbare Feuer! Hören Sie einmal, Bienenkönigin, Sie müßten uns wirklich die Gunst erweisen, sich noch einmal als lebendige Flamme zu kleiden.«

      Bis dahin war ich wie ein kleines Bächlein am Rande eines Dorfes gewesen. Ton und Rhythmus waren anders als jetzt. Aber da kam die Flut vom Meere herauf; meine Brust wogte, meine Ufer wichen, und die lauten Trommelschläge der Meereswogen peitschten meinen Lauf zu tollem Rasen. Ich wußte nicht, was die Stimme in meinem Blut sagen wollte. Wo war mein früheres Selbst geblieben? Von woher strömte all dieser Glanz auf mich? Sandips hungrige Augen brannten wie geweihte Lampen vor meinem Schrein. Jeder seiner Blicke verkündete, daß ich ein Wunder war an Schönheit und Macht; und der laute Schall seines Lobes, ob er es nun aussprach oder nicht, übertönte alle andern Stimmen in meiner Welt. Hatte der Schöpfer mich von neuem geschaffen? so fragte ich mich staunend. Wollte er mich dafür entschädigen, daß er mich so lange vernachlässigt hatte? Ich, die ich vorher ganz unscheinbar und unbedeutend gewesen war, war plötzlich schön geworden und fühlte mich als Krone Bengalens.

      Denn Sandip Babu war nicht irgendeiner. In ihm flossen Millionen Geister des Landes zusammen. Wenn er mich die Königin des Bienenstocks nannte, so jubelte der ganze Chor von begeisterten Patrioten mir zu. So kam es, daß der laute Spott meiner Schwägerin mich gar nicht mehr berühren konnte. Meine Beziehungen zu der ganzen Welt waren verwandelt. Sandip Babu machte es mir klar, wie das ganze Land meiner bedurfte. Mir wurde es damals nicht schwer, das zu glauben, denn ich fühlte in mir die Kraft, alles zu tun. Ich war von göttlicher Kraft erfüllt. Es war etwas, was ich nie vorher gefühlt hatte, was höher war, als ich selbst. Ich hatte keine Zeit zu forschen, welcher Art es war. Es schien zu mir zu gehören und doch über mich hinauszugehen. Es umfaßte ganz Bengalen.

      Sandip Babu pflegte mich in allen wichtigen und unwichtigen Dingen, die die nationale Sache angingen, um Rat zu fragen. Zuerst war ich sehr verlegen und zögerte mit der Antwort, aber das verlor sich bald. Was ich auch vorschlug, immer schien mein Rat ihn in Erstaunen zu setzen. Dann geriet er in Begeisterung und sagte: Wir Männer können nur denken. Ihr Frauen habt eine Art, ohne Denken zu verstehen. Die Frau ist Gottes Phantasie entsprungen; den Mann hat er aus dem Stoff herausgehämmert.

      Sandip Babu erhielt aus allen Teilen des Landes Briefe, die er mir zeigte, um meine Meinung zu hören. Gelegentlich war er anderer Ansicht als ich. Aber ich versuchte nicht, ihn zu überzeugen. Dann ließ er mich wohl nach ein paar Tagen rufen — als ob ihm plötzlich eine neue Erkenntnis aufgegangen wäre — und sagte: »Ich habe mich doch geirrt; Sie hatten ganz recht mit Ihrer Ansicht.« Er gestand mir oft, daß er immer, wo er meinem Rat entgegengehandelt, die Sache verkehrt gemacht hätte. So kam ich allmählich zu der Überzeugung, daß hinter allem, was geschah, Sandip Babu stände und daß Sandip Babu selbst von dem einfachen Verstand einer Frau geleitet würde. Der Stolz auf eine große Verantwortlichkeit erfüllte mein ganzes Wesen.

      Mein Gatte hatte keinen Platz in unserm Rat. Sandip Babu behandelte ihn wie einen jüngeren Bruder, den man persönlich wohl sehr gern hat, dessen Rat in Geschäften man aber nicht brauchen kann. Er pflegte mit nachsichtigem Lächeln von meines Gatten kindlicher Naivität zu sprechen, indem er sagte, daß seine merkwürdigen Theorien und verkehrten Ideen einen Anstrich von Humor hätten, der sie um so liebenswürdiger machte. Es war anscheinend gerade diese Liebe zu Nikhil, die Sandip Babu bewog, ihn nicht mit den Sorgen um das Vaterland zu belasten.

      Die Natur hat in ihrer Apotheke viele Betäubungsmittel, die sie heimlich anwendet, wenn sie Lebensbeziehungen verräterisch abschneiden will, so daß niemand die Operation bemerkt, bis man endlich erwacht und sieht, was für ein großer Schnitt gemacht ist. Als das Messer geschäftig war, die innersten Bande meines Lebens abzuschneiden, war mein Geist so umwölkt von den betäubenden Gasdünsten, daß ich nicht im geringsten merkte, welche Grausamkeit da an mir begangen wurde. So ist wohl die Natur der Frau. Wenn ihre Leidenschaft geweckt wird, so verliert sie das Empfinden für alles andere. Wir Frauen gleichen dem Fluß: solange wir innerhalb unsrer Ufer bleiben, spenden wir Fruchtbarkeit mit allem, was wir haben; sobald wir sie überfluten, bringen wir Zerstörung mit allem, was wir sind.

       Fußnoten:

       Inhaltsverzeichnis

      II

      Irgend etwas muß nicht in Ordnung sein. Ich merkte neulich etwas.

      Seit meiner Ankunft war Nikhils Zimmer eine Art Zwischending geworden, halb Frauengemach, halb Herrenzimmer: Bimala hatte Zutritt von den Frauengemächern aus und ich von der andern Seite. Wenn wir nur langsamer zu Werke gegangen wären und unsern Vorteil mit etwas mehr Vorsicht wahrgenommen hätten, so hätten wir wohl kaum Anstoß bei andern erregt. Aber wir ließen uns so von unserer Leidenschaft treiben, daß wir gar nicht an die Folgen dachten.

      Sobald Bima in Nikhils Zimmer kommt, merke ich es irgendwie in meinem. Ich höre das Klingeln von Fußspangen oder andere kleine Geräusche; die Tür wird vielleicht ein klein wenig energischer geschlossen als nötig ist; der Bücherschrank ist etwas gequollen und knarrt, wenn man ihn heftig öffnet. Wenn ich hineinkomme, finde ich Bima, die den Rücken zur Tür gewandt hat und ganz darin vertieft ist, eins von den Büchern auf den Borten auszusuchen. Und wie ich ihr meine Hilfe bei dieser schwierigen Aufgabe anbiete, schrickt sie zusammen und lehnt ab; und dann kommen wir ganz von selbst auf andere Sachen zu sprechen.

      Neulich, an einem unheilvollen[16] Donnerstagnachmittag, kam ich auf den Wink dieser Geräusche hastig aus meinem Zimmer. Auf dem Korridor stand ein Mann Wache. Ich ging weiter, ohne ihn auch nur anzusehen; aber als ich mich der Tür näherte, vertrat er mir den Weg und sagte: »Nicht da hinein, Herr!«

      »Nicht da hinein! Warum?«

      »Die Herrin